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Der Beginn der „Endlösung“ in Belgien

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Am 11. Juni 1942 fand in der Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts in der Berliner Kurfürstenstraße jene zentrale Sitzung statt, auf der Eichmann mit den Judenreferenten aus dem besetzten Westeuropa vereinbarte, im Laufe des Sommers 1942 insgesamt 100 000 Juden aus Frankreich, 15 000 Juden aus den Niederlanden und 10 000 Juden aus Belgien nach Auschwitz zu deportieren95. Wer die Höhe des ersten Kontingents aus Belgien festlegte, ist nicht dokumentiert. Dagegen ging die im Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 aufgelistete Gesamtzahl der Juden in Belgien (43 000) offensichtlich auf die von der Militärverwaltung eingeführten Judenregister zurück, die annähernd 43 000 Personen über 15 Jahre verzeichneten96. Während die im RSHA vereinbarten Transporte aus den Niederlanden und aus Frankreich ab Mitte Juli fuhren, begann die Deportation der Juden aus Belgien nach Auschwitz erst am 4. August. Steinberg führt diese Verzögerung darauf zurück, dass Reeder Anfang Juli – infolge des Protests der belgischen Generalsekretäre gegen die Zwangsarbeit belgischer Juden in Nordfrankreich – zunächst die politischen Folgekosten kalkuliert habe, bevor er seine Zustimmung erteilte97. Doch der Kalender zum Start der „Endlösung“ in Westeuropa wurde bereits im Juni festgelegt. Unmittelbar nach seiner Rückkehr von der Berliner Tagung notierte der Pariser Judenreferent Dannecker, dass die Züge aus Belgien, deren Anforderung er mit übernommen hatte, ab August abfahren sollten98.

Infolge der eigentümlichen Besatzungsstrukturen in Belgien kam den Vertretern des OKH eine nicht zu unterschätzende Entscheidungskompetenz zu: Das Reichssicherheitshauptamt benötigte für die Deportation der Juden das Einverständnis Reeders, dem der Beauftragte der Sipo-SD unterstand. Dieses Faktum ist übrigens ein wichtiger Beleg dafür, dass die sachliche Unterstellung des BdS unter den Militärverwaltungschef keinesfalls nur formal war.

Folgt man einer Nachkriegsaussage von Wilhelm von Hahn, ab Frühjahr 1942 in der Gruppe Politik tätig, die „federführend für die Behandlung der Judenfrage“ war99, so teilte der BdS – in Gestalt von Alfred Thomas – Reeder Ende Juni 1942 den Befehl des RSHA mit, Juden aus Belgien zum „Arbeitseinsatz“ nach Schlesien zu deportieren. Von Hahn erinnerte präzise, dass es sich um Juden im Alter zwischen 16 und 40 handeln sollte, während er die Zahl der Opfer, die sich offenbar nicht in sein Gedächtnis eingeprägt hatte, auf „1000 oder 10 000“ (sic) bezifferte100. Angeblich verlangte Reeder die Vorlage eines schriftlichen Befehls, der von Eichmann übermittelt worden sei und den von Hahn selbst gesehen haben will.

Auf Veranlassung oder jedenfalls mit Zustimmung des Militärbefehlshabers vereinbarte Reeder daraufhin mit Himmler, den er in anderer Sache am 8. Juli in Berlin aufsuchte101, dass die wenigen tausend Juden belgischer Staatsangehörigkeit von dem Deportationsprogramm ausgenommen wurden102. Es spricht für die enge Zusammenarbeit des Militärverwaltungschefs mit dem BdS Ehlers, dass dieser, offenbar um Reeder mit Argumenten zu versorgen, am Vortag im Judenreferat in Paris anfragte, ob aus Frankreich auch französische Juden deportiert würden, was von dort allerdings erst am 9. Juli verneint wurde103. Die Stellungnahme des Brüsseler Vertreters des Auswärtigen Amts Werner von Bargen, Ende Juni aus Berlin angefordert, datiert ebenfalls vom 9. Juli und damit nach der Unterredung zwischen Reeder und Himmler. Sie bietet den einzigen zeitgenössischen Beleg für das Vorgehen der Militärverwaltung und ist um so aufschlussreicher, als von Bargen, der sich wie der BdS mit Reeder abstimmte, dessen politische Einschätzung weitergab104. Sein Telegramm lässt keinen Zweifel an der Einwilligung der Militärs in die Deportation:

„Militärverwaltung beabsichtigt, gewünschten Abtransport von 10 000 Juden durchzuführen. Militärverwaltungschef gegenwärtig im Hauptquartier, um Angelegenheit mit Reichsführer-SS zu erörtern. Bedenken gegen Maßnahme könnten sich einmal daraus ergeben, dass Verständnis für Judenfrage hier noch nicht sehr verbreitet und Juden belgischer Staatsangehörigkeit in Bevölkerung als Belgier angesehen werden. Maßnahme könnte daher als Beginn allgemeiner Zwangsverschickungen ausgelegt werden. […] Militärverwaltung glaubt jedoch, Bedenken zurückstellen zu können, wenn Verschickung belgischer Juden vermieden wird. Es werden daher zunächst polnische, tschechische, russische und sonstige Juden ausgewählt werden, womit das Soll theoretisch erreicht werden könnte.“105

Das Dokument wirft ein Licht auf die Machtverhältnisse in Belgien und die Verantwortung der Militärs für die „Endlösung“. Die Beschränkung auf ausländische und staatenlose Juden, deren Anteil bei über 90 Prozent lag, konnte das im Reichssicherheitshauptamt vereinbarte Deportationsprogramm in keiner Weise behindern, sondern sollte den Interventionen offizieller Vertreter des besetzten Landes vorbeugen und die Zusammenarbeit mit ihnen nicht aufs Spiel setzen. Es war die Erinnerung an die Deportation belgischer Arbeitskräfte im Ersten Weltkrieg, die die Militärverwaltung bereits bei der Rekrutierung jüdischer Zwangsarbeiter für die Organisation Todt als wichtige politische Größe berücksichtigt hatte, die nun zu dem Kalkül führte, die belgischen Staatsangehörigen auszunehmen. Die Statthalter des OKH suchten solange wie möglich den Anschein von Arbeiterdeportationen zu vermeiden, da diese nach Reeders Auffassung „das Ende jeder nennenswerten wirtschaftlichen Leistung“ zur Folge haben konnten106.

Ein energischer Protest gegen die beginnende Deportation von Seiten der belgischen Autoritäten blieb im Sommer 1942 tatsächlich aus – wenn man davon absieht, dass Königin Elisabeth in Unkenntnis von Reeders Strategie davon ausging, durch ein Gesuch bei Hitler die Freistellung der belgischen Staatsangehörigen erreicht zu haben107. Indem die Militärverwaltung die in das Land immigrierten und geflohenen Juden zu den Opfern bestimmte, verwirklichte sie ihre Absicht, Rückwirkungen auf die Besatzungspolitik zu vermeiden und die Ausbeutung Belgiens für die deutsche Kriegswirtschaft zu gewährleisten. Damit folgte die Ausklammerung der Juden belgischer Staatsangehörigkeit aus dem Deportationsprogramm des Sommers 1942 in Belgien einer ganz anderen Zielsetzung als in Frankreich, wo die Deutschen die Deportation französischer Juden vorerst ausschlossen, um die Vichy-Polizei zur Mitwirkung bei der Massenverhaftung der Juden heranziehen zu können.

Was die Vorbereitung der Transporte nach Auschwitz betrifft, so war der Militärbefehlshaber auch in die Errichtung des Durchgangslagers Malines (Mechelen) involviert. Am 15. Juli 1942 ermächtigte Reeders Stellvertreter Harry von Craushaar den Kommandanten des Konzentrationslagers Breendonk, SS-Sturmbannführer Philip Schmitt, offiziell dazu, „die Einrichtung des Sammellagers in Mechelen für den Arbeitseinsatz der Juden in die Wege zu leiten“108. Der Kommandostab stellte hierfür die Dossin-Kaserne zur Verfügung109. Dem BdS unterstellt, wurde das Lager von Mitarbeitern des Judenreferats geführt, denen einige flämische SS-Leute zur Hand gingen. Die Wehrmacht übernahm in der Anfangszeit die Außenbewachung, bevor dafür Angehörige der Wachkompanie des BdS kommandiert wurden. Die Wachkompanie des BdS umfasste rund 150 Mann, davon etwa 20 deutsche SS-Leute, die die Befehlsstellen inne hatten, während die Mannschaften vorwiegend aus flämischen, vermutlich auch wallonischen, ungarischen und rumänischen SS-Angehörigen bestanden110. Sie stellte Wachen für die BdS-Büros, Folterkeller und Zellen sowie die Lager Breendonk und Malines. Auf ihre Mitwirkung bei der Verhaftung von Juden wird noch einzugehen sein. Eine im Lager Malines unter Leitung des Diplom-Kaufmanns und Buchprüfers Erich Crull installierte Außenstelle der von der Militärverwaltung gegründeten und faktisch der Wirtschaftsabteilung unterstellten „Brüsseler Treuhandgesellschaft“, die das den Juden abgenommene Vermögen verwaltete, beraubte die Ankömmlinge ihrer letzten Habe sowie ggf. ihrer Wohnungsschlüssel, um die Durchführung der sogenannten „Möbelaktion“ zu erleichtern111. Schließlich wurden zumindest bei einigen Transporten Landesschützen eingesetzt, um die in Malines internierten Juden in die Deportationszüge zu bringen112, die größtenteils von einem direkt neben dem Lager befindlichen Gleisanschluss abfuhren113.

Im RSHA war festgelegt worden, dass Juden beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 40 Jahren deportiert werden sollten, und dass die Transporte 10 Prozent nicht-arbeitsfähige Juden einschließen konnten. Zusätzlich wurden in der Planung diejenigen Juden ausgenommen, die von dem Kennzeichnungszwang befreit worden waren oder in sogenannter Mischehe lebten. Wer die Initiative dazu ergriff, die Altersgrenzen sehr rasch auszuweiten, ist nicht dokumentiert. Doch schon im ersten Transport stellten Kinder unter 16 Jahren und Erwachsene, die 41 oder mehr Jahre zählten, 28% der Opfer114.

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