Читать книгу Die Shoah in Belgien - Insa Meinen - Страница 23

Die belgischen Juden werden deportiert

Оглавление

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 1943 unter dem Decknamen „Aktion Iltis“ in Brüssel und Antwerpen eingeleitet, ist die Massenverhaftung der belgischen Juden ein weiteres Beispiel dafür, dass die Besatzungsbehörden zur Durchführung von Razzien keineswegs auf die Mithilfe der belgischen Polizei angewiesen waren. Der damalige BdS-Judenreferent Erdmann, der die Operation vorbereitete, verzeichnete in seinem Einsatzplan für die belgische Hauptstadt lediglich 14 Angehörige der Gestapo – davon sieben aus dem Judenreferat – und das Devisenschutzkommando, das in der Tat etwa 30 Kräfte stellen sollte161. (Auf die Tätigkeit der deutschen Devisenpolizei wird in Kapitel III näher einzugehen sein). Als Hilfspersonal für die Festnahmetrupps der Gestapo sah Erdmann ferner 28 flämische SS-Männer der BdS-Wachkompanie vor. Dass diese tatsächlich zu der Verhaftungsaktion kommandiert wurden, ist wahrscheinlich, lässt sich jedoch mangels Quellen nicht belegen. Möglicherweise beteiligten sich – ebenso wie bei der Großverhaftung im Jahr zuvor – auch Feldgendarmen oder andere Wehrmachtangehörige an der Razzia162.

Männer, Frauen und Kinder wurden anhand von vorbereiteten Listen aus ihren Wohnungen geholt. Insgesamt sollen die Deutschen in dieser Nacht 750 Juden in Brüssel und 225 Juden in Antwerpen festgenommen haben163. Am 20. September 1943 stellte die Lagerverwaltung in Malines den Transport Nr. XXII B zusammen, der 794 belgische Staatsangehörige nach Auschwitz brachte.

Die Antwerpener Außenstelle war von Erdmann ersucht worden, Feldgendarmerie bzw. Geheime Feldpolizei anzufordern. Sie mobilisierte – den Angaben eines flämischen Kollaborateurs zufolge – die gesamte Dienststelle und Angehörige der Feldgendarmerie164. Doch mehr als die Hälfte der Opfer brachte Erich Holm mit einem für seine Methoden typischen Manöver in seine Hand. Ende Juni hatte die Sipo-SD infolge einer Intervention von Königin Elisabeth rund 300 belgische Staatsangehörige aus Malines freigeben müssen, die bei ihrer Rückkehr nach Antwerpen großenteils mittellos waren und deren Wohnungseinrichtungen das Ostministerium geraubt hatte. Holm lud sie und die Vertreter der AJB für den 3. September in sein Büro ein und versprach, dass nun die Rückgabe des Mobiliars durch eigens anreisende Verantwortliche des Ostministeriums endlich geklärt werden würde. Am Abend wurden alle Anwesenden, einschließlich des AJB-Personals, verhaftet. Bei der Überführung aus Antwerpen nach Malines sind neun Juden in einem überfüllten Möbelwagen erstickt.

Die Ereignisse lösten schwerwiegende politische Reaktionen aus und bewogen die Generalsekretäre dazu, ihre Demission anzudrohen. Reeder und sein für die Beziehungen zu den Generalsekretären zuständiger politischer Referent wussten die Wogen indes zu glätten, indem sie jegliche Verantwortung von sich wiesen165. Sie zogen sich auf eine Schutzbehauptung zurück, die die Vertreter der Militärverwaltung für gewöhnlich ins Feld führten und die ihnen möglicherweise auch selbst das Gewissen erleichterte: Der Befehl zur Deportation der Juden sei aus Berlin gekommen, die Militärverwaltung habe auf diesem Gebiet keinerlei Entscheidungskompetenz inne, ihr Einfluss auf die Gestapo beschränke sich darauf, auf eine möglichst milde Umsetzung der Berliner Anweisungen hinzuwirken, dies habe sie stets getan und werde sie auch in Zukunft tun166.

Zutreffend ist, dass Reeder sich 1942 bei seiner Einwilligung in das erste Deportationsprogramm aus politischen Erwägungen dafür eingesetzt hatte, die ausländischen Juden als Opfer auszuwählen. Auch ließen er und von Falkenhausen in Übereinstimmung mit Ehlers dem auf eine Einbeziehung der belgischen Staatsangehörigen drängenden Staatssekretär Luther aus dem Berliner Außenministerium noch im Januar 1943 mitteilen, dass sie zunächst alle ausländischen Staatsangehörigen deportieren wollten. Es war Himmler, der im Juni 1943 die Deportation der Belgier befahl. Doch selbstverständlich war das Plazet der deutschen Machthaber in Belgien erforderlich. Von Falkenhausen stimmte der Deportation der belgischen Juden am 20. Juli 1943 zu, nachdem Reeder – folgt man dessen Nachkriegsangaben – vergeblich das OKH und das OKW um Intervention ersucht hatte167. Um den Handlungsspielraum der beiden führenden Männer des deutschen Besatzungsapparats in Belgien zu ermessen, empfiehlt sich ein Blick nach Frankreich, wo der Befehlshaber der Sipo-SD die Deportation der – weitaus zahlreicheren – französischen Juden Anfang 1943 abgelehnt hatte168. Die Entscheidung Falkenhausens und Reeders dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Zwangsverschickung nicht-jüdischer Arbeitskräfte nach Deutschland inzwischen längst begonnen hatte und somit der Grund, die Deportation der belgischen Juden vorerst zurückzustellen, entfallen war169.

Um die politischen Folgewirkungen aufzufangen, ließ Reeder den Tod von neun Antwerpener Juden durch ein SS- und Polizeigericht untersuchen und zugleich mindestens 88 der verhafteten Belgier aus dem Lager Malines entlassen, um diese in Zwangsunterkünfte zu überführen. Schließlich sagte der Militärverwaltungschef zu, dass vorerst keine weiteren belgischen Staatsangehörigen deportiert werden würden170. Es hat den Anschein, als wenn in der Folgezeit tatsächlich nur wenige Belgier verhaftet worden wären; zumindest leitete die „Aktion Iltis“ keine Verhaftungswelle ein.

Während die Razzia in Antwerpen jeglicher legalen Existenz von Juden ein Ende gesetzt hatte, suchten Reeder und seine Berater in Brüssel ein rudimentäres legales Leben von Juden aufrechtzuerhalten. Nach dem 3. September 1943 wurden mehr Personen als je zuvor in Kinder- und Altersheimen der jüdischen Zwangsvereinigung untergebracht. Auf diese Weise sicherte die Besatzungsmacht sich einen minimalen Verhandlungsspielraum für belgische offizielle Stellen: Ausnahmen von der Deportation konnten nach wie vor bewilligt werden. Sie sollten zumindest einen Teil der Juden vom Gang in den Untergrund abhalten. Dieses Kalkül hatte die Politik der Militärverwaltung gegenüber der AJB seit 1942 geprägt.

Die Shoah in Belgien

Подняться наверх