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Die Großrazzien des Sommers 1942

Antwerpen: Drei Razzien im August 1942

Am 15. August 1942, als die Besatzungsmacht den dritten Transport aus Belgien nach Auschwitz schickte, führte sie die erste Großrazzia gegen die ausländischen Juden in Antwerpen durch. Die überlieferten Quellen geben keinen Aufschluss darüber, wer den Befehl hierzu erteilte. Zwar erhielt der Antwerpener Polizeichef eine entsprechende Order von der Sicherheitspolizei, doch muss zumindest zwischen den deutschen Stellen am Ort eine Abstimmung erfolgt sein, da SS und Feldgendarmerie bei der Razzia zusammenwirkten. Dass die Deutschen die flämische Metropole auswählten, in der sie die Judenverfolgung seit 1940 besonders scharf vorantrieben, dürfte vorrangig darauf zurückzuführen sein, dass sie hier – im Gegensatz zu Brüssel – auf die Unterstützung einheimischer Polizeibeamter rechnen konnten.

Auf deutschen Befehl stellte der Antwerpener Polizeichef Jozef De Potter der Sipo-SD für den Abend des 15. August 50 Polizisten und drei stellvertretende Kommissare zur Verfügung124. Von einem Teil dieser Beamten (7. Kommissariat) verlangte die Sipo die Verhaftung von 77 Juden anhand einer vom Judenreferat vorbereiteten Namensliste. 20 Juden wurden verhaftet. Andere Beamte (6. Kommissariat) erhielten Arbeitseinsatzbefehle mit der Weisung, die betreffenden Juden in ihr Kommissariat zu bringen. Kaum hatten sie damit begonnen, erging der neue Befehl, eine Razzia durchzuführen, wobei die belgische Polizei lediglich Hilfsaufgaben übernahm. Zusammen mit der Feldgendarmerie sperrte sie diejenigen Straßen ab, in denen besonders viele Juden lebten. Die Verhaftung der Bewohner erfolgte durch SS und Feldgendarmerie. Es dürften rund 40 SS-Leute und 45 Feldgendarmen beteiligt gewesen sein, wenngleich genaue Angaben fehlen125.

Das Grauen der folgenden Stunden und die Erbarmungslosigkeit, mit der die Deutschen sich der jüdischen Kinder, Frauen und Männer bemächtigten, ist von Zeugen beschrieben worden und geht auch aus den Berichten der belgischen Polizei hervor. 845 Juden, die am 18. August mit dem vierten Transport, bzw. am 25. August mit dem fünften Transport nach Auschwitz fahren sollten, wurden in dieser Nacht in Antwerpen verhaftet126.

Der belgische Historiker Lieven Saerens hebt hervor, dass selbst im Nachhinein und ungeachtet der Tatsache, dass die Verhaftung der Juden gegen die belgische Verfassung verstieß, keiner der Vorgesetzten der Antwerpener Polizei gegen die Mitwirkung bei der Razzia protestiert hat. Das Schweigen von Bürgermeister Delwaide und dem zuständigen Oberstaatsanwalt Baers sollte den Deutschen ermöglichen, die Antwerpener Polizei erneut zu Großverhaftungen für die „Endlösung“ heranzuziehen. Innerhalb des Polizeikorps setzte jedoch offenkundig ein Umdenken ein. Vermutlich trug hierzu der Umstand bei, dass die kommunistische Widerstandsbewegung nach der Razzia in Antwerpen öffentlich zum Widerstand gegen die Deportation der Juden aufrief, wie der BdS Ende August nach Berlin meldete:

„In Antwerpen wurde von der illegalen kommunistischen Partei ein Flugblatt unter der Überschrift ‚Die Nazibestien am Werk‘ in zahlreichen Briefkästen abgeworfen. In der Hetzschrift wird behauptet, dass die Deportation der Juden nach dem Osten nur der Anfang sei und die übrige Bevölkerung demnächst folgen werde. Nur Streiks und Sympathiekundgebungen für die Juden könnten die Deutschen an der Ausführung ihrer weiteren Pläne hindern und ihre Niederlage beschleunigen. Das Flugblatt ist in anderen Städten des Landes bisher nicht erfasst worden. Doch hat es den Anschein, als ob die darin gemachten Angaben sich auch über die Grenzen Antwerpens hinaus herumgesprochen haben, worauf nicht zuletzt die in jüngster Zeit stark verminderte Bereitschaft der Juden, den Arbeitseinsatzbefehlen nachzukommen, zurückzuführen sein dürfte. Genau so dürften die von den Mechelner Einwohnern in Antwerpen und Brüssel verbreiteten Gerüchte, dass in der Kaserne in Mechelen viele Juden gestorben seien, nicht ohne Einfluss geblieben sein.“127

Infolgedessen war vorauszusehen, dass die Heranziehung der Antwerpener Polizei zu einer zweiten Großrazzia am 27. August möglicherweise nicht reibungslos vonstatten gehen würde. Erich Holm, der sich als Leiter der zuständigen Abteilung der BdS-Außenstelle bei der Judenverfolgung durch seinen Eifer und seine Brutalität auszeichnete, forderte die belgische Polizei diesmal erst wenige Stunden vor Beginn und damit so kurzfristig an, dass den belgischen Beamten kaum Bedenkzeit blieb. Der Antwerpener Polizeichef De Potter unterstrich bei der Weitergabe des deutschen Befehls an die unterstellten Einheiten mehrfach, dass die georderten Polizeikräfte gestellt werden müssten – was auf vorausgegangene Erörterungen innerhalb der Kommunalpolizei schließen lässt. Und doch muss zumindest ein Angehöriger des Antwerpener Polizeikorps die Entscheidung getroffen haben, die Verhaftung der Juden zu sabotieren. Kurz nach Beginn sah Holm sich zum Abbruch der Razzia gezwungen, da die Juden mithilfe eiligst geschriebener Flugzettel gewarnt worden waren und ihre Wohnungen großenteils verlassen hatten128.

Auch in diesem Fall ist nicht dokumentiert, welche deutschen Dienststellen die Durchführung der Razzia beschlossen hatten. Allerdings berief sich der in der deutschen Rangordnung weit unten angesiedelte SS-Oberscharführer Holm ausdrücklich auf einen Befehl aus Brüssel, als er am folgenden Abend vier Antwerpener Stadtteilkommissare in sein Büro zitierte und ihnen mitteilte, dass sie zur „Strafe“ für den begangenen „ Verrat“ ohne Mitwirkung der deutschen Polizei bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr 1000 Juden festzunehmen hätten. Sollten sie den Befehl nicht strikt befolgen und die vorgeschriebene Zahl nicht pünktlich erreichen, so drohte Holm, würden sie und die verantwortlichen Polizeikräfte in das Lager Breendonk eingewiesen. Das Kriegsgericht werde jegliche Sabotage streng bestrafen. Der Besatzungsmacht seien die Namen und Dienstnummern derjenigen Polizisten bekannt, die die Juden am Vortag gewarnt hätten.

Diese Drohungen waren um so ernster zu nehmen, als Grund zu der Annahme bestand, dass der SS-Oberscharführer der Antwerpener Polizei tatsächlich nicht eigenmächtig, sondern in Übereinstimmung mit seinen Vorgesetzten schärfste Repressionsmaßnahmen ankündigte. Der Militärbefehlshaber hatte erst im Vormonat 50 belgische Polizisten und Gendarmen als Geiseln festsetzen lassen und bekanntgegeben, dass er damit auf die wachsende Illoyalität der belgischen Polizei gegenüber der Besatzungsmacht reagiere und dass diese Geiseln mit ihrem Leben für „besatzungsfeindliche“ Handlungen der Polizeieinheiten hafteten129. Vor diesem Hintergrund konnten die angeblich auf Weisung Brüssels angekündigten Repressalien nicht als selbstherrliche Wichtigtuerei des skrupellosen untergeordneten SS-Führers abgetan werden, der Holm fraglos war.

Wenngleich man bezweifeln kann, ob die Besatzungsbehörden Holms Drohung wahrgemacht hätten, verfehlte sie am Abend des 28. August ihre Wirkung nicht, da die betreffenden Polizeikommissare eine Intervention ihrer Vorgesetzten nicht erwarten konnten. Sie sorgte dafür, dass die Antwerpener Polizei in der folgenden Nacht zum ersten und einzigen Mal in eigener Regie tätig wurde. Nach Rücksprache mit Polizeichef De Potter mobilisierte das Hauptpolizeikommissariat Antwerpen mindestens 68 kommunale Polizisten zur Festnahme von Juden. Wie von Holm ausdrücklich befohlen, gingen die Beamten mit offener Gewalt vor, um die deutschen Vorgaben zu erfüllen. Sie brachen Türen ein, um versteckte Juden aufzuspüren, und sie verhafteten Kranke mit ärztlichem Attest. Insgesamt fielen den nächtlichen Verhaftungen am 28. / 29. August 943 Frauen, Männer und Kinder zum Opfer. Eichmanns Gehilfen registrierten sie noch am 29. August im Lager Malines und schickten sie mit den Transporten Nr. VII (1. September) und VIII (10. September) in den Tod130.

Bei keiner anderen Razzia in Belgien wurden so viele Juden verhaftet. Dies hat den belgischen Historiker Maxime Steinberg dazu veranlasst, die Ereignisse in Antwerpen mit der am 16. / 17. Juli 1942 in Paris von der französischen Polizei durchgeführten Massenfestnahme von fast 13 000 Männern, Frauen und Kindern – der sogenannten rafle du Vélodrome d’Hiver – zu vergleichen131. Dieser Vergleich ist allerdings nicht nur in quantitativer Hinsicht irreführend. Dass dem Rückgriff auf die Antwerpener Polizei jedenfalls bei der dritten Razzia massive Drohungen gegen Leib und Leben der ausführenden Organe vorausgingen (eine Einweisung in das Konzentrationslager Breendonk war im Wortsinne lebensgefährlich), verweist auf einen wesentlichen Unterschied zu Frankreich, wo der Razzia des Vel’d’Hiv eine deutsch-französische Vereinbarung auf höchster Ebene zugrunde lag. Letztlich blieb in Belgien das Verhalten der kommunalen und regionalen Vorgesetzten entscheidend. Sie hatten einen beträchtlichen Handlungsspielraum, wie der Vergleich zwischen Antwerpen und der belgischen Hauptstadt zeigt.

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