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Dienstag, 2. Juni 1998, Maßnehmen

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Am Dienstagnachmittag kommt Max von einem Kundentermin nach Hause geeilt und bittet Silvia, ihm noch schnell ein paar seiner Hemden zu ändern, bevor diese gleich wieder nach Kiel fährt. Er bräuchte sie dringend, teilt er seiner Schwester knapp mit, und so lange dauerte es ja nicht, oder? Er hat am nächsten Tag wieder ein Vorstellungsgespräch. Und nein, er fährt lieber alleine hin, Silvia muss ihn nicht bringen.

«Eigentlich kannst du ja auch ein wenig zunehmen, dann würden dir diese Hemden vielleicht auch mal so passen!», bemerkt Silvia und schiebt ihre Brille zurecht.

«Das hättest du wohl gerne! Am liebsten von deinen Rippen, was?»

«Ich wusste gar nicht» unterbricht Silvia das Abstecken, den Kopf zur Seite geneigt und eine Nadel vor die Augen ihres Bruders haltend, «dass du mit der Hand so gut nähen kannst!»

«Schon gut, schon gut!», wehrt er lachend ab, «So was sollte ich nicht sagen.»

«Nicht zu jemandem mit scharfen Gegenständen!», gibt Silvia zurück und droht Max lachend mit der großen Stoffschere.

Als Hutmacherin kennt sich Silvia mit Nadeln aus. Der deutliche Handschlag scheint mehr zu Silvia als zu Max zu passen. Silvia ist nur wenig kleiner als ihr großer Bruder, aber nicht so schlank wie er. Neben ihren Freundinnen sieht sie immer ein wenig derb aus. Zu groß, um in der Masse zu verschwinden. Zu breit, um sich unauffällig schmal machen zu können und zu schwer, um durchs Leben zu schweben. Groß, breit, kräftig – das ordnet man eher einem Mann zu. Max hat sich früher gern über Silvia lustig gemacht: «Sechs Jahre Ballett – bei dir kaum zu glauben, Silvi!»

Silvia steckt die Hemden ab und näht sie passend für ihren Bruder um. Sobald sie das erledigt hat, packt sie die Nähmaschine und die Kettelmaschine zu den bereits verstauten Kisten und Kartons in ihr Auto ein und fährt gen Norden zu sich nach Hause. Sie freut sich auf einen freien Tag. Im Elternhaus haben sie diesmal wieder viel gearbeitet und besprochen. Das Haus scheint mitsamt Inventar ständig zu wachsen, seit sie beschlossen haben, es zu verkaufen. Und danach kann jeder seinen eigenen Weg gehen. So ist es geplant.

Silvia hatte sich bis zur Mitte ihrer Ausbildung immer mit um die Familie gekümmert. Nach ihrer Ausbildung hatte sie genug davon, sie ging nicht mehr zurück ins Elternhaus, zum Vater und den Geschwistern. Jetzt sind eben ihr großer Bruder Max und ihre kleine Schwester Mini dran, kümmern sich um ihn, denn allein kann er sich nicht mehr versorgen. Seine ständigen Stürze, die häufig damit verbundenen Fahrten ins Krankenhaus, und immer das Gefühl zu haben, ihn nicht einmal kurz alleine lassen zu können, machen den beiden Geschwistern im Haus das Leben mit dem Vater ziemlich schwer. Für Silvia, die das Ganze nur aus der Entfernung betrachtet, sieht es leichter aus. Bleibt nur noch ihre Phantasie.

Wie gut, dass das Haus recht wenige Treppen hat. Der Gedanke auszuziehen kommt für Max gar nicht in Betracht, denn das wäre verantwortungslos. Und dann führt Max ja auch das Büro des Vaters quasi alleine. Mini meint, dass es eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen kann. Also bleibt nur die Lösung, für ein gutes Heim zu sorgen. Dann kann Max endlich das Elternhaus mitsamt der Verantwortung für die Familie hinter sich lassen. Dann kann er ein neues, ein selbstbestimmteres – sein eigenes Leben beginnen.

Mini, ebenfalls groß gewachsen, mit glattem, langem dunklen Haar, kleiner Brille auf der niedlichen Stupsnase und die schmalste von den drei Geschwistern, findet die Lösung, die ihre Oma für sie hat, auch nicht wirklich gut. Denn wenn es nach Oma ginge, solle sie zu Hause bleiben und den Vater pflegen. So wie es früher eben immer war und so wie sich ihre Tochter um sie und ihre Schwägerinnen kümmert. Das jüngste Kind bleibt zu Hause und versorgt selbstverständlich die Alten. Mini hat andere Pläne für sich selbst. Sie möchte in eine andere Stadt umziehen, ein Studium machen und sich einmal nur um sich kümmern können. Vielleicht Hamburg, vielleicht Berlin, vielleicht München. Auf jeden Fall soll sie groß sein die Stadt, in die sie geht.

Unglück

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