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Mittwoch, 3. Juni 1998, Annas Datenverkehr ist gestört

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Es ist bereits zwei Uhr durch, als es etwas leiser wird. Zeitweise ist weder Hubschrauberlärm noch Sirenengeheul zu hören. Aber das heißt nicht, dass es insgesamt ruhiger geworden ist.

«Das könnte heißen, dass die Hubschrauber jetzt abgezogen werden», meint der Kollege zu Anna, der sie am Bahnhof schließlich doch gefunden hat. Anna zeigt ihm ihren Dienstausweis.

«Wo ist denn ...?»

«Urlaub», beendet Anna knapp seine Frage, richtet sich auf und wünscht sich wieder einmal, dass sie nicht so klein wäre und so jung aussähe.

«Keiner der anderen, der alten Hasen, wollte herkommen?» Geringschätzung schwingt in seiner Stimme mit. Anna ist es gewohnt, schräg angeschaut zu werden und fragt daher nur:

«Was genau hat der Fahrdienstleiter denn gesehen?»

«Der hatte nur den Triebkopf vorbeifahren sehen», fährt er mit einem Blick auf das Bahnhofsgebäude fort.

«Und der Lokführer?», erkundigt sich Anna.

«Der sagt, dass er vor dem Bahnhof ein Rucken gemerkt hat. Und, dass er die Zwangsbremsung unterstützt hat.»

«Was ist mit dem Blechteil, das auf der Strecke gefunden wurde? Kann das in Zusammenhang mit dem Knall, den es gegeben haben soll, gesehen werden?» Auch wenn sie nicht zum alten Eisen gehört und alles furchtbar durcheinander ist, könnte er doch ein wenig kooperativer sein, denkt Anna bei sich, und zieht auffordernd und zugleich fragend die Augenbrauen hoch. Muss sie ihm alles aus der Nase ziehen?

«Die Polizei ist auf einen EBA-Mann getroffen, hat man mir gesagt, der wiederum von Bahnmitarbeitern auf dem vorderen Streckenabschnitt Teile übergeben bekam. – Begeistert waren die nicht. Besser wir warten ab, bis wir aufs Gelände dürfen.» Anna schaut sich in Richtung Süden, der Unglücksstelle, um.

«Haben Sie so was schon mal erlebt?», möchte Anna von dem Mann wissen, um ihn besser einschätzen zu können.

«So etwas hat wohl keiner von uns bisher erlebt!» Er schaut etwas irritiert zu ihr hinunter. Sie hat ihr Ziel erreicht, ihn zu einer Veränderung seiner bisherigen Haltung bewegt.

«Womit soll denn der Zug geborgen werden? Und was ist mit der Brücke?»

«Ich habe gerade die Meldung bekommen, dass die von der Bundeswehr angeforderten Bergepanzer kommen. Dazu ein Vierzigtonnenkran. Aber wann die eintreffen, kann ich Ihnen nicht sagen», erklärt er und fügt dann noch weitere Angaben über seinen derzeitigen Kenntnisstand hinzu.

Das wird wohl kaum ausreichen überlegt Anna: Es waren zwölf Wagen plus Triebköpfe. Das macht etwa achthundert Tonnen, dazu das Mittelstück der Brücke, schätzungsweise zweihundert Tonnen. Drei Wagen vor der Brücke und der Rest dahinter. Und die vorderen können nicht gefahren werden. Wagen drei hat wohl einen Brückenpfeiler erwischt und ist im hinteren Teil stark beschädigt.

«Das EBA hat im ersten Wagen also einen Radlenker gesehen, der durch den Boden gekommen ist.» Annas Wiederholung seiner Aussage bleibt vom Kollegen unkommentiert, stattdessen sagt er, die Arme vor der Brust verschränkt:

«Die wollen von Ihnen wissen, wo und wie sie die Teile anpacken sollen.»

Auch wenn Anna gut funktioniert – denn das tut sie eigentlich immer – weiß sie zwischenzeitlich nicht, was sie denken soll: Ein großes Mitgefühl für die Fahrgäste und die Angehörigen hat sich in ihr breit gemacht, droht überhandzunehmen. In ihrer Phantasie machen die Geschwindigkeit und die Wucht des Aufpralls eine Art Schleife, wiederholen sich wieder und wieder.

Und dennoch versucht sie innerlich Abstand zu halten. Das muss sie auch. Das hat man ihr beigebracht, das hat sie gelernt. Sonst kann sie den Job nicht machen. Ein paar Leute müssen immer einen klaren Kopf bewahren. Auf der Herfahrt hatte sie Zeit genug, sich ihren Panzer aufzubauen, denkt Anna, und die letzte von ihr im Radio verfolgte Nachricht hilft ihr jetzt wieder dabei: Die Leitstelle, so hieß es, habe um viertel vor zwei gesagt, es seien keine weiter zu versorgenden Verletzten mehr am Ort. Helfen kann Anna ohnehin nicht, das machen die vielen Ärzte und Sanitäter und die anderen Einsatzkräfte, und denen möchte sie nicht im Wege stehen.

«Und Sie?», fragt sie den Mann neben sich.

«Wer soll Sie sonst führen und einweisen?», pariert er.

«Geben Sie mir mal bitte das Handy», fordert sie ihn auf und denkt, dass sie den Weg auch so geschafft hätte. Ja, die Außenhaut des Zuges ist für Rettungsaktionen nicht geeignet, leicht geöffnet zu werden. Das ist ein Problem, dem sie hier und jetzt aber nichts entgegenzusetzen hat: Es gibt keinen Trick, die Fenster zu öffnen.

Nachdem sie den Einsatzleiter der Feuerwehr mit den einzelnen Daten über Gewicht und Maße der Wagen informiert hat und wo sie am besten die Wagen anpacken sollten, gibt sie ihrem Kollegen das Handy vorerst zurück und bedeutet ihm, mit zum Auto zu kommen.

«Sind Sie sicher, dass sie schon los wollen?» Auf seine eigentlich neutral gestellte Frage entgegnet sie etwas gereizt:

«Ich habe die letzten Monate in Hamburg größtenteils im Werk verbracht! Und vorher war ich unter anderem in Minden! München übrigens auch», und mit einem abschätzenden Blick an ihm hoch, fügt sie hinzu: «Kommen Sie? Oder soll ich doch alleine anfangen? Wir versuchen es schon mal mit dem ersten Streckenabschnitt, wo die Entgleisung begonnen haben muss.» Von dort aus werden sie einen besseren Überblick über das Geschehen haben.

Dass sie als Schaulustige von der Unglücksstrecke verscheucht würden, ist wegen seines Dienstwagens und der Ausweise nicht zu befürchten, so können sie ungehindert ihrer Arbeit nachgehen. Anna will nicht herumstehen und nichts tun. Außerdem soll der Kollege nicht denken, dass sie all das ist, also das kleine dumme Blondchen, was sie im Allgemeinen im Tagesgeschäft bisher widerlegen konnte. Daher fragt sie ihn energisch:

«Sie können noch fahren?»

Wenn der Zug nach Plan fuhr, hat er in einer Sekunde eine Strecke von etwa fünfundfünfzig Metern zurückgelegt. Der vordere Triebkopf ist unversehrt, der erste Wagen hat den Radlenker aufgenommen, der eigentlich dafür da ist, ein Fehlsteuern an den Gleisen zu verhindern. Warum kam der aus dem Gleisbett hoch? Und wann hat der sich da hineingebohrt? Immerhin ist es ein langes massives Metallstück!

Am besten fahren sie die Strecke auf dem angrenzenden Feldweg ab. Je weiter sie sich entfernen, umso weniger Hinweise dürfte es geben. Gab es einen Fremdkörper vorweg?

Als sie nach dem Umfahren des Ortes auf einem der Feldwege an den Streckenabschnitt vor dem Unglück angelangen, halten sie an. Anna nimmt die Kamera in die Hand und prüft nach, ob sich ein Film in der Kamera befindet. Zwei weitere steckt sie in die Tasche ihres Blazers. Den separaten Blitz braucht sie nicht, denn es ist sehr sonnig, außerdem hat sie den in Hamburg vergessen. In Begleitung des Kollegen steigt Anna die Böschung zum Gleis hinauf.

Was sie von dort aus sehen kann, hat mit den Bildern aus dem Fernsehen und denen, die sie sich aus den Radiobeiträgen in ihrem Kopf zusammengesetzt hat, nicht viel gemein. Die abgerissenen Oberleitungen und das was davon herunterhängt vermitteln auf den ersten Blick den Eindruck eines Hurrikans. Anna steht einfach nur da. Es ist warm, das leichte Lüftchen weht ihr die Haare ein wenig ins Gesicht.

Nach einem Moment der Besinnung bezweifelt sie stark, dass sie das Chaos, das da vor ihren Augen zu sehen ist, binnen achtundvierzig Stunden wegschaffen können. Dazu kommen noch die Gleisarbeiten. Dann denkt Anna eine Weile gar nichts mehr.

Beim Anblick der Hilfskräfte, die sich mit Tragen vom Zug entfernen, erkundigt sich Anna schließlich bei ihrem Kollegen:

«Sind die Verletzten doch noch nicht alle weg?»

«Schon», sagt ihr Kollege langsam. Und fügt danach mit einem leichten Stirnrunzeln hinzu: «Das sind die anderen.» Nach einer nachdenklichen Pause flüstert er beinahe:

«Zum Glück muss ich nicht mit den Angehörigen reden.»

Vom Start in München bis zum letzten Halt in Hannover sind Leute ein- und ausgestiegen. Wie viele? Anna schaut an ihrem Kollegen hoch. Aber ihr Kopf hat schon gerechnet. Dann überkommt sie eine mächtige Welle der Übelkeit. Sie schafft es gerade noch, sich von ihm wegzudrehen und übergibt sich die Böschung hinab. Der Brechreiz sitzt tief und Anna bekommt ihn nur mühsam in den Griff. Ihre festen Schuhe sind ins tiefe Gras eingesunken, geben ihr an dem Hang dennoch nur mäßigen Halt. In der Zwischenzeit muss der Kollege beim Auto gewesen sein, denn er hält ihr nun eine kleine Flasche Wasser und ein Taschentuch hin. Die Hand auf ihrer Schulter hilft ihr, der Schwindel wird weniger. Nach einem weiteren Anfall richtet sie sich mit seiner Hilfe auf und greift dankbar nach der Flasche. Das hatte er also vorhin gemeint.

Dann übernimmt wieder ihr Verstand die Führung. Anna nimmt ihre Kamera zur Hand. Vielleicht beginnen sie doch besser ein Stückchen weiter weg. Das würde auch Sinn machen, denn der Knall, der von mehreren Zeugen wahrgenommen wurde, weist daraufhin, dass sie eine Entfernung von mehreren Kilometern zurücklegen müssen, um mit ihrer Suche nach der Ursache sinnvoll zu beginnen.

Oberhalb der Unfallstelle sind erneut Hubschrauber zu sehen. Der eine drängt einen anderen ab. Vermutlich Polizei, die einen Medienhubschrauber daran hindern will, die Rettungsarbeiten weiter zu behindern. Anna fährt fort, Fotos zu machen. Und sie notiert sich Dinge zum Zustand der Gleisanlagen. Nirgends ist etwas Außergewöhnliches zu sehen. Kein Viehbetrieb oder Weidetiere sind in Sicht, ebenso wenig umgestürzte Bäume oder Ähnliches, was sofort auf eine vorangegangene Fremdeinwirkung schließen ließe.

Jetzt sagt Anna ihrem Kollegen, dass sie die Mobilnummer weitergegeben hat, weil sie einen wichtigen Anruf erwartet. Sie möchte erreichbar sein, nicht nur dienstlich. Glücklicherweise ist Max schon durch gewesen. Er ist kurz vorher noch durchgekommen. Max ist sicher in Hamburg!

Über das Handy, das Sprechfunkgerät und das Autoradio gelangen weitere Informationen zu ihnen. Beispielsweise, dass der Katastrophenalarm aufgehoben wird und eine erste Lagebesprechung mit allen Leitern angesetzt ist. Hierbei wird sicherlich auch über die Brücke und die Wagons gesprochen werden, überlegt Anna. Etwa zweihundert Meter Zug wurden auf dreißig bis vierzig Meter Bodenfläche zusammengefaltet. Das muss erstmal zerlegt werden, ehe der Transport stattfinden kann. Der Autounfall auf der Brücke, der zu dem Unfall geführt haben soll, wurde von der Polizei noch nicht bestätigt. Wie denn auch, bei den vielen Trümmern, die da aufgetürmt liegen. Der Zwischenstand von etwa sechzig Toten und ungefähr zweihundert Verletzten macht zusammen mit der fortgeschrittenen Uhrzeit nicht wirklich Hoffnung auf weitere positive Funde.

Vereinzelt sehen Anna und ihr Kollege auf und neben der Strecke Kleinteile. Sie finden auch Kratzer auf den Schwellen vor. Je weiter sie sich dem eigentlichen Unfall nähern, umso auffälliger und zahlreicher werden die Spuren. Die Polizei hat ihre eigenen Leute, aber Anna kennt sich besser aus und könnte das ein oder andere entdecken, was zur Aufklärung beiträgt. Beim Anblick der Gleise wird die enorme Kraft deutlich, die hier gewirkt hat: Vom hinteren Triebkopfende bis zur Brücke ist das gesamte Nebengleis zerstört, die Schienen sind herausgerissen.

Anna und ihr Dienstkollege kehren wieder zum Bahnhof und den anderen Kollegen zurück. Einen angebotenen Kaffee lehnt sie dankend ab und füllt ihre Wasserflasche auf.

Sie will sich auf ihre Notizen konzentrieren, um die Eindrücke später den Fotos zuordnen zu können. Dann erhält sie die Anordnung, zurück zur Brücke zu kommen. Anna nimmt das Telefon und ruft ihre eigene Nummer in Hamburg an. Kein Durchkommen, das Netz ist überlastet. Aber sie versucht es immer wieder und schließlich kann sie Max eine Nachricht aufs Band sprechen, dass sie tatsächlich länger bleiben muss. Dass die Arbeiten noch bis mindestens Freitag, wenn nicht sogar Samstag andauern werden. Eigentlich müsste er den Zettel mit ihrer Nachricht doch schon gefunden haben. Nachdenklich legt Anna auf. Sie hätte seine Stimme jetzt so gut brauchen können.

Die von der Staatsanwaltschaft angeordneten Obduktionen rücken alles in die Nähe eines Krimis, an dem Anna nicht unmittelbar beteiligt ist, an dessen Auflösung sie aber mitarbeitet. Als sie wenig später eine Lieferung von Toilettenhäuschen beobachten kann, wird damit auch ein Teil Normalität gebracht. Denn auch während einer Katastrophe gibt es ganz schlichte irdische Bedürfnisse.

Kurz danach werden die Leuchtmittel gebracht, die für die Weiterführung der Arbeit in der Nacht sorgen. Mittlerweile sind es über tausend Helfer, und bisher wurden fünfundsiebzig Tote und circa fünfunddreißig Schwerverletzte gezählt. Für weitere Blutspender wird eine Verkehrsregelung notwendig. Der Abtransport der Leichen wird durch Begleitfahrzeuge gesichert. Das sind beinahe neutrale Informationen in einem Regelwerk aus Arbeit. Informationen zum Ablauf machen aus diesem Chaos eine halbwegs überschaubare Angelegenheit.

Unglück

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