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Oktober 1992, Professor Doktor Ades Semesterbeginn

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«Ich bin nicht sonderlich an Geschichte interessiert, ich modelliere sie nur gerne» ist eine der Einleitungen bei seinen Vorlesungen, welche Professor Ade gerne auf diese Weise beginnt und mit einem Lächeln in sein mehr oder seltener auch minder aufmerksam lauschendes Publikum ergänzt.

Das Lächeln umspielt nur wenig mehr als die Lippen, seine klaren grauen Augen erreicht es dabei nicht ganz. Hochaufgeschossen und für jegliche Dinge aufgeschlossen hatte Herr Professor Ade sein Amt vor einem Jahr an der Hochschule angetreten.

Er ist ein Mann, der weiß was er will und wer er ist. Er ist jemand, der – im Gegensatz zu vielen anderen Männern – auch weiß was oder vielmehr wer er nicht sein möchte. Der von ihm mit seiner etwas rauen und dennoch melodischen Stimme in Schwingung versetzte Universitätsraum ist etwas älter, klassisch eingerichtet in Holz mit Holz, und eine gute Ausgangslage für vieles. Oft weiß man zu Beginn nicht wie eine Sache ausgehen wird, denkt er, aber man kann einiges dafür tun, um es in die Richtung zu bringen, die man für sinnvoll erachtet – Dinge die sich rechnen lassen. Er mag es, wenn seine Stimme auch ohne Mikrofon nur mit Hilfe der architektonisch gut durchdachten Akustik noch die hinterste Reihe erreicht.

«Sie werden in diesem Studiengang lernen wie man Dinge lenkt. Aber nur, wenn Sie sich dafür eignen. Sie werden die Geschicke der Staatsorgane wie ein Marionettenspieler in der Hand haben. Nicht, indem Sie sich in der Öffentlichkeit prostituieren, sondern unsichtbar hinter dem grauen Vorhang der Bürokratie im Verborgenen handeln. Bevor die Figuren es bemerken, werden Sie sie bereits bewegt haben. Wenn Sie gut sind, werden Sie Ihre Grenzen erkennen.» Meist hat sein Publikum Mühe, ihm zu folgen. Auch seine leisen Scherze werden leider nicht immer als solche erkannt. Was die Leute im Hörsaal als geistreich unterhaltend empfinden, ist für ihn Alltag, den er mit Freude gestaltet. Vielleicht trifft er den ein oder anderen von ihnen in ein paar Jahren nur in anderem Ambiente wieder. Er hatte schon immer gerne mit Menschen gearbeitet.

Da ist sie wieder: Die Kraft der Rhetorik! Sie ist sein Mittel der Kommunikation. Eine Möglichkeit, mit Sprache zum Verständnis beizutragen. Nichts anderes tut er. Er macht seinem Publikum wirksam seinen Standpunkt klar. Das war schon bei seinem Vater so, er kennt es gar nicht anders. Er geht den Weg unbeirrt fort, den sein Vater so vorzüglich beschritten hat, genau wie sein Großvater zuvor. Er wäre ein Narr, wenn er die Firma nicht weiterführte. Er will in seinem Leben Verschiedenes erreichen. Seine guten Kontakte tun ihr Übriges. Und so hat er schon früh eine Anerkennung als bester Jungunternehmer erhalten und sich damit seine Sporen verdient. Aber das ist nicht das Ziel, eher nur eine Basis, für seine selbstgewählten Aufgaben.

Seine Besuche zu Hause gelten weniger der Familie als der Arbeit des Vaters. Beruflich gesehen sein Vorbild, das er zu überragen gedachte. Nicht wie kleine Kinder spielen oder pokern, und dann verzweifelt jammern, wenn sie das Spiel verlieren.

Überhaupt besteht sein Leben aus Überragendem. Körperlich groß gewachsen, daher auch die Anfertigung der höheren Bergère-Sessel, weil die Originale ihm nicht gerecht werden. Da sind die Fußstapfen des Vaters, die Fürsorge der Mutter und der Neid der Geschwister auf seine klare Vorstellung vom Leben.

Eines seiner Ziele, dem Herausragenden aus allen übrigen, ist ihm dank Fleiß und Ausdauer geglückt. Aber was heißt geglückt? Er hat es gewählt und erreicht. Mehr fühlt er es, als dass er es wirklich weiß – er verlässt sich in diesem Punkt auch auf seine Sekretärin, Frau Zett, und ihre Quellen – weit geachtet sei er, manches Mal auch gefürchtet, weit gekommen und von allem weit weg, so wie er es immer wollte. Was ihm guttut, ist auch für andere gut. Auch wenn es manchmal etwas einsam um ihn herum ist, so bindet ihn bisher doch nichts an eine Art Stammtisch oder Ähnliches. Er ist lieber mit sich allein, als dass er einsam unter vielen Menschen sich Situationen anpassen muss, die andere ihm vorgeben.

Etwas mehr Beachtung könnte er seinen eigenen Ideen allerdings schenken, fühlt er. Vielleicht ergibt sich so nach und nach die Möglichkeit, es sich beruflich etwas bequemer machen zu können. Für ihn werden sich die Gelegenheiten bieten. Man ist, was man denkt. Und er ist gut, sehr gut sogar.

Unglück

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