Читать книгу Unglück - Iris Wandering - Страница 16

Mittwoch, 3. Juni 1998, Fünf nach zwölf

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Das, was der Kollege da erzählt, klingt schrecklich. Anna schaudert es. Ihre ohnehin nicht ganz bodenfesten Gedanken beginnen erneut zu schwanken. Noch während der Kollege berichtet, schaltet Anna den Fernseher ein. Sie zappt von Programm zu Programm in der Hoffnung, auf ein Bild zu stoßen, das ihr einen Eindruck vermitteln könnte, von dem was ihr Kollege da erzählt. Auf jedem Programm ist etwas anderes zu sehen, mehr noch zu hören. Was sie allerdings nicht genau mitbekommt, denn die angestrengt ruhige Stimme an ihrem Ohr spricht gleichzeitig: Möglicherweise habe es auf der an der Strecke befindlichen Straßenbrücke einen Unfall gegeben, erklärt der Kollege am Telefon weiter. Die Rettungsarbeiten seien in vollem Gang.

Anna ist schockiert. Wie viele mögen es wohl sein, die da in den Trümmern stecken? Hastig überlegt sie. Welcher Zug war das? Wilhelm Conrad Röntgen ICE 884 von München nach Hamburg. Wie gut, dass Max schon ein paar Minuten zuvor losgefahren ist! Ihre private Erleichterung macht nun der aufmerksamen Angestellten Platz.

Als zuständige Ingenieurin müsse sie sich das neben den Kollegen ansehen und dokumentieren, außerdem solle sie der Feuerwehr Angaben machen, wo und wie die Zugteile gehoben werden können, gibt der Kollege die Anordnung an Anna weiter, da sie Expertin für den ICE 1 sei und ihr Weg schließlich auch kürzer als von München, Berlin oder Nürnberg. Die aus Hannover seien unterwegs und ihr Kollege habe noch Urlaub und sei sowieso zu weit weg. Und da der Ort nicht mehr mit der Bahn zu erreichen sei, müsse sie den Privatwagen nehmen, wenn sie einen hat? Ja, antwortet Anna, geht klar, sie will schnell packen und sofort losfahren.

Am Telefon werden Anna Name und Mobiltelefonnummer des Kollegen vor Ort weitergegeben, der wird ihr neben den neuesten Informationen auch einen Ausweis aushändigen für den Fall, dass sie ihren im Büro liegen hat, damit sie den Streckenabschnitt überhaupt betreten darf. Alles Weitere würde sie dann in Eschede selbst erfahren, sagt er abschließend und danach legt auch Anna den Hörer auf. Plastik auf Plastik. Beim Zug ist fast alles aus Metall. Metall auf Metall. Und Glas. Große Flächen Sicherheitsglas. Schnell schlüpft sie in ihren üblichen Hosenanzug und versucht dann, den Kollegen zu erreichen, damit sie ihm ihr Autokennzeichen, Wagentyp und eine Beschreibung ihrer Person durchgeben kann. Wenn sie Glück hat, kommt sie noch vor einer Straßenabsperrung durch, die es mit Sicherheit irgendwann geben wird.

Was für ein Chaos! Anna greift in eine Schachtel im Schrank, in der sie ihre Kamera und die Filme aufbewahrt. Sie nimmt das Weitwinkelobjektiv und auch das fünfziger Objektiv heraus, legt eine neue Sechserpackung Filme dazu, mehr hat sie nicht da. Sie schaltet den Fernseher ab. Ein Diktiergerät besitzt sie privat nicht, dafür holt sie einen Block und ein paar Stifte aus der Schreibtischschublade. Vielleicht kann der Kollege vor Ort aushelfen. Ob der eine Polaroid-Kamera hat? Hat sie wirklich ihre Sicherheitsschuhe im Auto? Na klar, hat sie doch immer, überzeugt sich Anna selbst: Sie ist doch stets einsatzbereit. Also noch eine Tasche für Klamotten. Fertig.

Anna ist schon fast zur Tür hinaus, als sie sich erinnert, dass sie Max eine Nachricht hinterlassen sollte, damit er Bescheid weiß. Sie schreibt auf einen Zettel:

«Lieber Max, tut mir leid! Aber es hat einen Unfall gegeben (Eschede) und ich soll die Doku machen. Kann länger dauern. Machs Dir schön, bandel nicht mit Nina an! Kuss, Anna.»

Darunter notiert sie noch den Namen und die Telefonnummer des Kollegen, damit Max sich bei ihr melden kann. Sie blickt sich kurz im Flur um und legt dann den Zettel neben das Telefon auf das Schränkchen. Wenn sie erst zusammenwohnen, wird sich einspielen, wo und wie sie Nachrichten füreinander hinterlassen. Außerdem ist jetzt wohl die Zeit reif, dass sie sich auch ein Handy zulegt. Mit Schwung zieht sie die Tür hinter sich zu und bemerkt nicht, dass der Zettel vom Tischchen geweht wird, und eilt die Treppe hinunter.

Unglück

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