Читать книгу Unglück - Iris Wandering - Страница 17

Mittwoch, 3. Juni 1998, Ein fauler Tag

Оглавление

Es ist Mini, die durch ihren Anruf Silvia so verschreckt hat. Sie möchte wissen, ob ihre Schwester sich erinnern könne, zu welcher Firma Max hatte fahren wollen. Richtung Hamburg sei er unterwegs, das wisse sie noch, mehr aber auch nicht. Der Kloß in Silvias Hals wird immer dicker. Hatte Max denn den Firmennamen beim Hemdenabstecken noch genannt? Müde und in ihre Arbeit vertieft hat Silvia wahrscheinlich nicht richtig zugehört. Sie sagt Mini, sie solle auf seinem Schreibtisch nochmal nachsehen.

«Kein Zettel? Ist wirklich kein Hinweis da? Nicht mal etwas irgendwohin gekritzelt? Vielleicht weiß Mutter etwas? Wollen wir sie anrufen? Nein, lieber nicht. Wir wollen sie nicht unnötig in Angst und Schrecken versetzen.»

«Und Papa? Hast du ihn schon gefragt?» Silvia ist sich nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollen.

Mini gibt ihrer großen Schwester allerlei Kürzel von Max´ Schreibtischunterlage und Silvia telefoniert mit Hilfe der Telefonauskunft die in Frage kommenden Firmen ab, um zu erfahren, ob Max dort angekommen ist.

«Und keiner will dir Antwort geben? Haben die denn die Nachrichten nicht gehört?», empört sich Silvias Freundin Jenny, die, wie so oft auch heute, auf einen Tee von der nahegelegenen Uni her bei ihr vorbeigekommen ist.

«Nein.»

Eine gefühlte Ewigkeit später gibt es auch eine Unfall-Hotline. Eine Nummer oder besser gesagt zwei Telefonnummern, eine in Hamburg und eine in Hannover. Wie gut, dass es Tastentelefone gibt. Und die Wahlwiederholung ist auch eine sehr gute Erfindung, geradezu perfekt für solche Anlässe.

Sie laufen tatsächlich heiß, diese Nummern. Denn es dauert mitunter viele Versuche und viele Minuten bis zu einem ersehnten Freizeichen und ehe jemand am anderen Ende der Leitung ist. Der Hörer scheint bereits klebrig zu glühen.

«Wann ist es sinnvoll, wieder anzurufen?»

Aufgewühlt erhält Silvia die Antwort, dass zu oft anrufen nicht so gut sei. Sie wisse ja selbst, wie schwierig es sei durchzukommen. Wer weiß schon, welche Nummer die richtige Nummer ist. Und falls Max im Zug war, wohin man ihn gebracht hat. Oder gehört er zu denen, die erst viel später geborgen werden können? Ganz oder in Teilen? Oder vielleicht steckt er schon mitten in seinem Vorstellungsgespräch und hat gar keine Nachrichten mitbekommen? Es gibt zwei Züge, die für Max in Frage gekommen sind!

Das ist ein guter Gedanke.

Von der Vorstellung beseelt, den Bruder irgendwo heile zu erreichen, telefoniert Silvia weiter. Viele Firmen fangen mit den Kürzeln an, die Mini ihr gegeben hat. Und zahlreiche Anrufe gehen zwischen Mini und Silvia hin und her, außerhalb der Reichweite der Hotline und anderen Einrichtungen. Eine der sich ähnelnden Antworten lautet: «Was wollen Sie? Das werde ich Ihnen nicht sagen, wer hier Vorstellungsgespräche hat!» Und Silvia entgegnet dann: «Das müssen Sie auch nicht, ich möchte nur wissen, ob mein Bruder eins bei Ihnen hat.»

Die Suche nach Max ist mühsam und menschlich unerfreulich. Teils weil die Leute nichts vom Unfall gehört haben, teils weil es ihnen schlicht egal zu sein scheint.

Wer wählt bei den Firmen eigentlich die Musik für die Warteschleifen aus?

Das Mozartstück von vorhin war okay, aber der Rest?

Gleichzeitig ist da der Gedanke, dass Max sich selbst bei belegter Leitung gar nicht melden kann. Also muss eine Leitung frei bleiben. Und so fordert Silvia ihre kleine Schwester auf, nicht von sich aus zu telefonieren, bis sie mehr in Erfahrung gebracht haben.

Mittlerweile sind einige Stunden vergangen. Viele verschiedene Gesichter und Stimmen klären die Fernsehzuschauer und Radiohörer über eine Vielzahl von Möglichkeiten auf, wie und warum der Unfall passiert sein könnte. Die genaue Anzahl der Toten und Verletzten stehe noch nicht fest.

Das hilft uns jetzt auch nicht weiter.

Ach, sei still, Mick!

In einem Beitrag erkennt Silvia eine ehemalige Mitschülerin. Mit ihrem Baby auf dem Arm steht sie in einer Schlange der Blutspendenden an und wird befragt. Natürlich hilft sie – vielleicht tatsächlich mit ihrem Blut. Ihr Herzblut scheint daran zu hängen. Dann wird Silvias Ton am Telefon schärfer:

«Es ist mir völlig egal, ob Sie wollen oder nicht! Ich suche meinen Bruder und möchte wissen, ob er bei Ihnen ein Vorstellungsgespräch hat oder nicht. Ob er angekommen ist. Nein, ich werde nicht wieder anrufen. Ich bleibe dran!», zischt sie. Das Gespräch wird weitergegeben. Verbunden, geklickt, Musik am Ohr. Warten im Takt. Und dann möchte sie gar keinen Erfolg mehr haben. Er ist nicht angekommen. Er ist jedenfalls nicht zum vereinbarten Termin erschienen.

Unglück

Подняться наверх