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Mittwoch, 7. Januar 1998, Max´ Training

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Der Weg, der vor ihm liegt, ist Max sehr vertraut. Viele Jahre fährt er ihn schon, um zur Sporthalle zum Volleyball zu gelangen. Erst war es während der Schulzeit, später machte er einfach weiter, auch nach bestandenem Diplom, bis heute.

Die Halle – oder besser der Weg dorthin – hält Vorfreude bereit. Die Aussicht auf einen schönen Abend oder bei Turnieren auf ganze Tage. Und die Gesellschaft seiner Mannschaft ist genau richtig für ihn, denn Max redet nicht viel. Bei seinen Leuten ist das auch nicht nötig. Nach Fußball und Hockey ist Volleyball so ziemlich das Einzige, was Max nie spielen wollte. Ausgerechnet ein Mannschaftssport. Und doch ist er nach der Schule auch während des Studiums immer dabeigeblieben. Aber am Netz kommt ihm auch seine Größe zugute.

Max hinterlässt eine kleine schmale, etwas eierige Spur auf dem ansonsten bretthart gefrorenen Feld, als er es mit seinem Mountainbike überquert. Die Lederjacke, die er trägt, ist zwar ein Lieblingsstück, aber eigentlich viel zu dünn für den Winter. Seine Schwester Silvia soll endlich einmal den lang versprochenen Flicken auf den Ärmel nähen, dann würde es vielleicht nicht ganz so stark ziehen. Sie hätte das passende Stück noch nicht gefunden, sagt sie. Was immer das heißen mag.

«Wie wärs mit schwarz auf schwarz?», hatte er vorgeschlagen, aber sie hatte wie immer etwas, das man dabei zusätzlich beachten sollte.

Die Kälte der kommenden Nacht fällt nicht nur von oben herab. Sie steigt auch aus den Feldern herauf und macht sich breit, mischt sich unter die feuchten Schneeflocken. Leicht und vereinzelt rieseln ein paar auf ihn herab. Das ist aber auch das Einzige, was gerade locker und flockig ist, denkt Max.

Bisher kommt ihm sein Leben eher wie ein vielschichtiger Arbeitsplatz vor, wie gestern beim Streichen zum Beispiel: Seine Heimat wird er später finden, hatte er überlegt, während er die stark verrußte Wand oberhalb des Kamins hell gestrichen hatte. Und gestrichen hatte er natürlich erst, nachdem er den Bereich mit Spülmittel versetztem Wasser vom Fett gereinigt hatte und sie wieder trocken war. Sähe besser aus, hatte Silvia gemeint. Ob das wirklich hilft, einen Käufer für das Haus zu finden? Später ist bald. Hell und freundlich ist immer gut, sagt seine Schwester. Aber sie ist ja auch nicht immer da, um zum Beispiel zu streichen oder ihre vielen guten Vorschläge selbst umzusetzen. Es beginnt tatsächlich richtig zu schneien. Er hält sein Rad an.

Max blickt vom Boden auf. In diesem Moment spürt er die kalte Luft noch klarer, die sich in seinen Lungen ausbreitet und dort langsam erwärmt. Max hebt den Kopf weiter, fühlt die zarten Schneeflocken auf seiner Haut schmelzen. Er kann sie in der spärlichen Beleuchtung vom Stadtrand her im Dunkeln auf dem Feld stehend nicht sehen, sondern nur spüren.

Seine Füße, die nun neben dem Rad stehen, nehmen den harten Boden und die Kälte wahr, die in sie hineinkriecht. Der Himmel in Richtung Stadt ist gelb-orange-grau verhangen. Aber in klaren Nächten kann er in der Ferne, über das Feld zurückblickend in Richtung Kasseler Berge, die Sterne sehen.

Das Leben ist holperig, genauso wie der Boden unter seinen Füßen. Nicht mehr, nicht weniger. Das ist sein Leben und wird es bald gewesen sein, denn es wird alles einfacher werden.

Eine gewisse Erwartung löst sich vom kalten Boden und steigt beginnend an der Basis, seinen Füßen, in ihm auf. Weglaufen war nie sein Ding. Die Knie bleiben da wo sie sind, und zittern unsichtbar ein wenig der ungewissen und unverplanten Zukunft entgegen. Seiner eigenen Zukunft, der er sich stellen wird. Mit gutem Bauchgefühl wird er schließlich – seinem klaren Kopf sei es gedankt – loslegen.

Die Sterne hinter sich zurücklassend setzt er seinen Weg fort. Egal welchen Weg er einschlagen wird, jeder Weg hält Überraschungen für ihn bereit. Das, was er sich bisher untersagt hat, ist dann erlaubt und greifbar nahe, wenn er erst einmal den Absprung geschafft haben würde.

«Wer keine Ziele hat, kommt auch nirgends an», sagte der Deutschlehrer.

«Komm sicher an mit Bus & Bahn», steht auf den Stadtbussen.

«Wenn die Götter uns prüfen, erfüllen sie unsere Wünsche», stammt aus einem von Silvias Knutschfilmen. Mal sehen, was das für Wünsche sein werden. Aber erst mal gehts weiter zur Sporthalle.

Wäre Anna nicht vor einem Jahr hinzugekommen, hätte dieser Sport vermutlich keine solche Anziehungskraft mehr auf ihn. Wer weiß, seine Schnelligkeit und das Gefühl, immer auf dem Sprung zu sein, passen doch eigentlich ganz gut hierher. Außerdem mag er das Gebäude, das er seit seiner Kindheit kennt und den Weg dorthin mag er auch. Der Ort seiner wöchentlichen kurzen Auszeit, abgesehen von den Treffen mit Anna.

Sie hat genauso wenig Zeit, auch da passen sie gut zusammen. Denn er muss nicht immer wieder erklären, dass es zurzeit so ist wie es ist.

Die Hallenbeleuchtung wirft helle, verzerrte Rechtecke auf den Vorplatz, auf dem schon ein wenig Schnee liegt. Die dünne weiße Schicht sieht aus wie Puderzucker. Genau wie beim Schneemannbauen braucht man jede Menge davon, wenn man eine Glasur machen möchte. Wann hat er eigentlich das letzte Mal diese scheußlich süßen «Amerikaner» gebacken? Mehr als eine Ewigkeit ist das her. Er schließt sein Fahrrad an einem Laternenpfahl an.

Im Umkleideraum der Herren trifft er auf ein paar Leute seiner Mannschaft. Viele von ihnen stammen noch aus der ehemaligen Jugendmannschaft. Sie begrüßen sich kurz und wünschen sich zurufend oder schulterklopfend ein gutes neues Jahr. Aus dem Umkleideraum nebenan hören sie das, was aus der Damenumkleide immer zuhören ist – obwohl es nur wenige Frauen sind –, bei jedem neuen Eintreten zuerst Neujahrsglückwünsche, mit und ohne Kussgeräusche, dann Kichern, Lachen und jede Menge Tratsch, normalerweise gemischt mit ein paar Fakten aus der vergangenen Woche.

Heute allerdings mehr, denn über Weihnachten und Neujahr haben sie nicht trainiert und es haben sich ein paar Worte mehr angesammelt. Wozu sich selbst unterhalten, wenn doch von dort alles so gut zu hören ist? Und mit etwas Geduld erfährt man vor dem Spielen in etwa das Gleiche, was sie unter Männern erzählt hätten, hier vermutlich nur kürzer und mit etwas anderen Worten.

Er zieht sich um, nicht wissend, dass er manchmal beneidet wird. Max ist groß und schlank, das schon. Dass seine hellen Augen und das dunkle Haar, das sich um seinen Kopf ringelt, in manchen Augen Aufsehen erregt, weiß er nicht so ganz genau. Er ist ja auch nicht der Einzige, der so aussieht. Für seinen Schopf kann er genauso wenig wie für seinen durchtrainierten Körper, den er gar nicht trainiert. Der einzige Sport, den er betreibt, ist das wöchentliche Volleyballspiel. Sonst nichts. Sonst ist er damit beschäftigt, Haus und Hof und Familie am Laufen zu halten. Er sieht eher aus wie ein typischer Läufer, immer in Bewegung. Auffällig ist seine Händedruck. Max ist handfest.

Nachdem er sich umgezogen hat, geht Max in die Halle und hilft eines der Netze aufzubauen. Mit den Gedanken ist er bei Anna. Wo sie nur wieder bleibt? Wieso nur kommen Frauen eigentlich immer zu spät? Na ja, macht nichts. Sie sind ja ohnehin verabredet, nachher im «Filius». Das Lokal liegt nicht weit von der Halle entfernt und ist so etwas wie ihr Stammlokal geworden.

Oder hat Anna es sich anders überlegt? Ist bei ihr «anders überlegt» mit der ihr eigenen energiegeladenen Überstundenbereitschaft zu übersetzen?

Ah, da kommt sie ja. Und sie strahlt über das ganze Gesicht. Sie leuchtet richtig! Kopfschüttelnd lächelt Max in sich hinein. Wenn sie wüsste, wie sehr sie ihn immer wieder amüsiert.

«Hey, du – ich habs geschafft!» Anna sieht ihn glücklich an und wedelt mit der an ihr festgewachsenen Wasserflasche hin und her.

«Na, die Uhr lesen kannst du schon mal nicht gemeint haben», meint Max grinsend und wartet, die dichten dunklen Augenbrauen zu einer fast grinsenden Frage hochgezogen, auf das, was da gleich aus ihr herausprudeln wird.

«Nee, hör auf. Ich musste wieder länger machen. Der Leiter des Betriebswerks in Hamburg stellt sich zwar ein wenig quer, der hat aber ohnehin nicht zu entscheiden. Ich denke, ich habe das Zwischenziel erreicht und dann kanns bald losgehen!»

«Das trifft sich gut, hier kann es mit dir nämlich auch gleich richtig losgehen. Apropos gehen – wo sind denn deine Schuhe? Sag nicht, du hast sie schon wieder … »

«Hier habe ich sie doch! Hörst du mir eigentlich überhaupt zu? Ich hab gesagt, es ist so weit, ich hab den Job so gut wie in der Tasche! Und dann gehts ab nach Hamburg!» Zufrieden erläutert sie Max knapp, dass der Chef ihr signalisiert habe, dass, wenn sie die Absenkung im Gegensatz zu ihrem Kollegen durchführe, Anna nach Hamburg gehen könne. Und Max weiß ohnehin, dass Hamburg immer schon Annas erklärtes Ziel gewesen ist.

«Na klar, klingt das toll!», stimmt er Anna lächelnd zu, nimmt sie in die Arme und gibt ihr einen Kuss. So schnell hatte Max sich das zwar nicht vorgestellt, aber dann würde er sich eben auch in Hamburg eine Arbeit suchen.

Die anderen kennen das Spielchen schon und wissen, dass es sowieso erst richtig losgeht, wenn Anna und dann noch später auch Ben erscheint.

Was Anna und Max verbindet ist ihnen allen nicht ganz klar, besonders dem Griesgram Ben nicht, aber es scheint für die beiden zu passen. Warum auch nicht: Anna redet die ganze Zeit und Max hört zu. Auch äußerlich sind sie das genaue Gegenteil, denn Anna ist blond und recht klein. Ihr langes, leicht gelocktes Haar trägt sie gerne offen. Und da sie es durch tägliches Waschen in Form bringt, weht ihr immer der frische Duft ihres Shampoos nach.

Oft ist es lustig, wenn Annas Luftschlösschen auf Max´ praktisches Wesen treffen. Vielleicht kann man das auch als liebevolles Erden bezeichnen. Einen langen Atem hat er ja schon bewiesen, so, wie sie sich am Anfang geziert hat. Oder ist es bei ihr überhaupt eher Unsicherheit? Ihre Rufe beim Spiel sind manchmal kaum zu hören und dann wieder ist sie unüberhörbar, fast zu laut. Na, jeder wie er will oder kann. Und hat nicht jeder Mensch mehr als nur zwei Seiten?

Im Winter sitzen sie nach dem Training immer noch ein Weilchen im «Filius» zusammen. Als der Wirt für manche die zweite Runde Getränke bringt, sieht Max ihn an und denkt, der ist auch einer, der sich um die Eltern gekümmert hat und aus Pflichtgefühl einfach da geblieben ist. Einfach?

Er, Max, würde den Absprung jedenfalls schaffen. Das Loslösen von zu Hause, von der Familie. Und wenn alles gut geht, mit Anna dann in Hamburg loslegen. Im Sommer, wenn sowieso alles irgendwie neu sein wird. Silvia hat versprochen, sich um einen Heimplatz für ihren Vater zu kümmern und seine kleinste Schwester Mini wird nach ihrem Abitur auch woandershin gehen. Abgesehen von der Studienplatzlotterie weiß sie wohl selbst noch nicht genau, wohin sie möchte. Überhaupt scheint alles am Loslegen zu sein. Bald ist es soweit. Wenn er es bis jetzt geschafft hatte, dann würde er die letzten Monate auch noch durchhalten. Endlich ist das Ende seiner Zeit im Elternhaus und somit sein Neuanfang in Sicht.

Wohlig müde von der sportlichen Betätigung, dem kleinen Bier danach und mit der vorsichtigen Freude auf ein neues Leben, sinkt er auf der alten Holzbank noch etwas tiefer und verschränkt wie so oft die Arme vor der Brust. Dabei rutscht der Ärmel Richtung Ellenbogen und gibt den Blick auf die Armbanduhr frei. Ach herrje, schon so spät!

«Entschuldige bitte.» Er gibt Anna einen Kuss.

«Ich muss los», sagt er laut in die Runde und klopft einmal kurz auf den Tisch, dann steht er auf.

«Aber ich hab dir doch noch gar nicht alles erzählt!», wendet Anna ein.

«Ich ruf dich nachher noch an.» Max deutet nur auf die Uhr und Anna weiß, Max lässt seine kleine Schwester Mini spät abends nicht gerne mit dem Vater alleine. Sobald Mini ihren Führerschein gemacht hat, wird es anders aussehen, aber bis dahin bleibt es bei der Abmachung. Die Sache ist sehr einfach: Solange ihr Vater noch laufen kann, muss Mini dann nicht jedes Mal den Notarzt rufen, sobald er wieder gestürzt ist und seine Platzwunden genäht werden müssen. Der sture alte Herr zu Hause ist ein ewiges Familiendilemma. Aus der von seinem Vater unangetasteten Packung heraus wirken die Medikamente nicht.

Während Ben noch überlegt, ob es Max´ Verantwortungsmacke ist, die bei Anna so gut ankommt, obwohl Max sie doch wieder alleine lässt, ist dieser schon längst auf dem Parkplatz und dann in der Dunkelheit verschwunden. Warum nur kommt seine Macke bei Anna so gut an?

Unglück

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