Читать книгу ROMY - Isabella Maria Kern - Страница 19

Romy/Richard, Frühjahr 2013

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Nachdem der Termin zur geschlechtsangleichenden Operation für September 2013 feststand, konnten sämtliche Dokumente von Richard auf Romy geändert werden.

„Begleitest du mich zum Gemeindeamt? Ich muss meine Geburtsurkunde und den Staatsbürgerschaftsnachweis umändern lassen,“ sagte er und ich hatte Mühe, mich zu entscheiden, wie ich ihn/sie ansprechen sollte.

„Ab wann soll ich denn Romy zu dir sagen?“, fragte ich etwas unsicher.

„Ja, jetzt, wann denn sonst, du musst dich daran gewöhnen. Je schneller, desto besser“, meinte er/sie lachend.

„Und die Psychologin hat schon alles genehmigt?“, fragte ich, obwohl ich ja wusste, dass der OP-Termin schon feststand.

Er/sie sah mich an, als hätte ich gesagt, wir fliegen zum Mond.

„Natürlich, sonst hätte ich den Termin ja gar nicht bekommen, das wird ja alles geprüft“, meinte er/sie.

„Und du freust dich darauf?“, fragte ich ihn/sie und wusste bereits im Vorhinein seine/ihre Antwort.

„Natürlich wäre ich lieber tot, das weißt du“, ich erntete einen strafenden Blick.

„Aber du möchtest ja nun auch optisch und amtlich eine Frau sein und du bekommst jetzt diese einmalige Chance, freust du dich nicht darüber?“, fragte ich ihn/sie und wollte mich gerne mit ihm/ihr freuen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich eine schöne Frau werde. Schau dir meinen Kiefer an, meine Arme sind viel zu männlich, ich habe ein schmales Becken, dafür breite Schultern. Ich werde eine hässliche Frau werden“, antwortete er/sie.

Genau das hatte ich befürchtet.

„Versuche doch einfach einmal, dich darüber zu freuen“, meinte ich mit Nachdruck und versuchte das Thema zu wechseln.

„Was hat denn die Pflegedienstleitung dazu gesagt?“

Er/sie dachte nach.

„Eigentlich war sie sehr nett zu mir. Sie hat gemeint, dass wir das schon schaffen werden. Die Direktorin wollte mich aber davon überzeugen, dass ich nach der Operation auf eine andere Station wechseln soll, damit ich dort einen Neuanfang machen kann. Sie meinte, es wäre besser für mich, irgendwohin zu gehen, wo mich und meine Geschichte niemand kennt.“

Ich erschrak bei diesen Worten, wusste aber gleichzeitig, dass das im Grunde eine gute Idee war.

„Und? Fändest du das nicht gut?“, fragte ich ihn/sie.

Ich kannte ihn/sie aber so gut, dass ich wusste, dass es keinen Sinn hätte, weil er/sie seine/ihre Geschichte preisgeben würde, sobald er/sie Vertrauen in eine Person gesetzt hatte.

Und dann wäre sein/ihr Geheimnis heraus und es würden wieder alle wissen.

„Aber warum darf es denn keiner wissen? Das ist deine Geschichte, dein Leben. Ich finde es spannend“, sagte ich.

Richard/Romy schnaubte.

„Ja, du vielleicht, Isa. Du bist anders. Aber die meisten Menschen haben Vorurteile und sehen mich als Missgeburt.“

Ich konnte es nicht nachvollziehen und hielt meinen Mund.

Natürlich diskutierten wir im Kreise der Kollegen und Kolleginnen ausführlich das Thema „Geschlechtsangleichung“ im Falle Richard/Romy, aber es gab niemanden, zumindest nicht in meiner oder Richards/Romys Anwesenheit, der sich nicht positiv dazu äußerte.

Vielleicht ist es meine Herangehensweise an dieses heikle Thema, dass ich noch nie auf Menschen gestoßen bin, die Romy für ihre „Umwandlung“ verachteten.

Ja, vielleicht ist es die Art und Weise, wie ich es erzähle.

Es ist ja nicht eine Laune von Romy, plötzlich nicht mehr Richard sein zu wollen. Ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen, hätte man sie als Kind ordentlich untersucht.

Denke ich.

Die inneren Organe eindeutig weiblich, ihr Verhalten in der Kindheit, sich lieber Mädchen zuzuwenden und nicht mit den Burschen raue Spiele zu spielen, später ihre Stimme und ihr gesamtes Wesen, hätte man da nicht….

Ja, hätte man.

Aber es ist zu spät.

Laut WHO (World Health Organisation) bekommen intersexuell geborene Menschen einen Stempel aufgedrückt.

Der Code dieser Krankheit lautet in der internationalen Klassifikation der Krankheiten: ICD-10-GM-2014

Definition:

angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomen-Anomalien, auch angeborene Fehlbildungen der Genitalorgane, unbestimmtes Geschlecht und Pseudohermaphroditis.

Jetzt frage ich mich tatsächlich, ob man von einer Krankheit sprechen kann, wenn (laut Wikipedia und andere Quellen) mindestens 0,1% der Bevölkerung (im konkreten Fall wurde Deutschland angeführt), also bei einer von tausend Geburten, ein intersexuelles Kind zur Welt kommt. (In manchen Quellen liest man von 1-2 von 1000 Kindern).

Wie überall ist aber die Dunkelziffer vermutlich um ein Vielfaches höher.

Liegt es da nicht auf der Hand, dass es in Wirklichkeit ein „drittes Geschlecht“ gibt, das heute Gott sei Dank in Deutschland bereits in der Gesetzgebung Beachtung findet?

Man kann also annehmen, dass von 1000 Kindern, 509 Mädchen, 490 Burschen und 1 Pseudohermaphrodit zur Welt kommen.

Man könnte diese Tatsache auch von einer anderen Seite beleuchten und nicht von einer Krankheit sprechen, sondern von einer Besonderheit.

Pseudohermaphroditen sind etwas Seltenes, etwas Einmaliges.

Vermutlich müsste man ein etwas schmeichelnderes Wort kreieren als Zwitter, Zweigeschlechtlicher, Intersexueller oder Intergeschlechtlicher.

Vielleicht wäre Jumä, Mäju oder Knädchen eine Lösung?

Man muss dieses dritte Geschlecht nur in die Köpfe der Menschen bringen und schon wird auch das zur Normalität.

Steht zum Beispiel Mäju in der Geburtsurkunde, kann sich dieser junge Mensch im entscheidungsfähigen Alter selbst aussuchen, ob er ein Mäju bleiben oder sich einer geschlechtsangleichenden Operation in die eine oder andere Richtung unterziehen möchte.

Später wachsen diese jungen Menschen zu einem Frama, Mafra oder Herm heran.

Heutzutage ist es sehr einfach, sich mit Hilfe von YouTube & Co Videos zu jedem Thema anzusehen.

Da Romy der erste Mensch ist, den ich (wissentlich) kenne, der diese Entwicklung durchmacht, habe ich mich natürlich sehr dafür interessiert und ein wenig recherchiert.

Und beinahe jeder intersexuelle Mensch hatte in seinem Leben die Phase, in der er sich als „Missgeburt“ oder „Monster“ fühlte. Diese beiden Worte kommen leider sehr häufig vor und spiegeln sehr gut ihre Gedanken wider.

Bei den meisten Menschen kam noch dazu, dass sie von den Eltern belogen, beziehungsweise nicht informiert wurden.

Manchmal, wie in Romys Fall, hatten auch die Eltern keine Ahnung von der Zweigeschlechtlichkeit ihres Kindes.

Man muss sich vorstellen, wie es ist, wenn man in der Volksschule sitzt und ein Biologiebuch in die Hand bekommt. Man blättert darin und kommt unweigerlich auf die Seiten, wo Mann und Frau abgebildet sind. Nackt und mit detaillierten Zeichnungen der inneren und äußeren Geschlechtsorgane.

Man stelle sich das vor!

Mit einem Projektor wird die Zeichnung lebensgroß an die Wand projiziert und das intersexuelle Kind bekommt den ersten Schock fürs Leben.

Ja, wenn es nur Mann und Frau gibt?

Was bin dann ich?

Es traut sich weder die Lehrerin noch einen Klassenkameraden oder Kameradin zu fragen.

Was passiert, wenn es seine Eltern damit konfrontiert?

Ein Jumä wie Romy hätte sich eher die Zunge abgebissen, als seine/ihre Eltern auf ihre Geschlechtsorgane anzusprechen.

Ich bin ein Jumä“, meinte Stephanida und stemmte beide Arme energisch in die Seiten, „meine Mama hat gesagt, ich kann mir aussuchen, mit wem ich im Sportunterricht mitmachen möchte“.

Die Burschen umringten neugierig das kleine Jumä.

Dann spiele mit uns Fußball!“, rief Klaus und drängte sich nach vorne, um diesen jungen, frechen Menschen besser zu sehen.

Das Jumä war von Anfang an ein sehr beliebter Spielgefährte und jeder freute sich, in seiner Nähe zu sein.

Es hatte sich daran gewöhnt, dass man es mit „er“, „sie“ oder „es“ ansprach. Seine Mutter hatte ihm schon ganz früh gesagt, dass es etwas Besonderes sei.

Stephanida spielte mit Leidenschaft mal Fußball, mal Völkerball.

Es machte aber genauso gerne beim Bodenturnen mit und meldete sich zum Ballettunterricht an.

Nachdem ein selbstbewusster, von allen akzeptierter Mensch herangewachsen war, entschied sich Stephanida mit 16 Jahren zu einer geschlechtsangleichenden Operation und wurde zu Stephanie.

Sie bekam mit ihrem Mann zwei Kinder und lebte glücklich… bla bla bla…

Genauso gut könnte aber auch sein, dass sich Stephanida in ihrem Körper wohl fühlt und einfach nur Stephanida bleiben möchte.

Sie hat ihre Situation und ihr Geschlecht akzeptiert und wird von ihrem Umfeld in ihrer Person bestärkt.

Aber was für eine Persönlichkeit kann sich aus einem Menschen entwickeln, der sich klein und krank fühlt?

Der denkt, er wäre eine Missgeburt und der von anderen Kindern gehänselt und beleidigt wird?

Wie fühlt sich ein Mensch, dem gesagt und gezeigt wird, er sei nicht normal?

Er sei weder das noch das?

Ein Monster?

Wer besitzt das Recht, über normal und abnormal zu entscheiden?

Vielleicht betrifft mich diese Situation deshalb so sehr, weil ich sehe, wie ein wertvoller Mensch an den Aussagen seiner Mitmenschen zu zerbrechen droht.

Dazu gehört gesagt, dass es allerdings nur wenige Menschen sind, die harte Urteile fällen oder Beleidigungen aussprechen.

Aber sind im Grunde nicht diese Menschen die „Armudschgerl“?

(Armudschgerl: ein Wiener Ausdruck für bemitleidenswerte Menschen)

Wenn jemand nicht der Norm entspricht ist er nicht abnormal, sondern anders normal oder einfach etwas Besonderes.

Das ist, was ich mir für diese Menschen wünsche.

ROMY

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