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Richard, Herbst 1982, die Geburt

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„Darf ich Ihnen herzlich zu ihrem fünften Kind gratulieren, Frau Zimmermann“, sagte der Gemeindearzt, räusperte sich und blieb etwas verlegen vor dem Bett stehen.

Frau Zimmermann fühlte sich noch sehr erschöpft. Diese Geburt hatte sie mehr angestrengt als die letzten.

Sie war über vierzig Jahre alt und hatte mit der Familienplanung bereits abgeschlossen gehabt.

`Ob die Tante wohl gut aufpasst auf meine drei Mädchen?´, ging ihr durch den Kopf.

Der Bub, er war er älteste von den Kindern, interessierte sich kaum für seine Schwestern, was sie sehr schade fand. Er war überhaupt etwas anders.

Ob er depressiv war?

Der Arzt stand noch immer neben ihrem Bett und sie fühlte sich in ihren Gedanken gestört.

„Ja“, meinte sie knapp und streckte ihm ihre schlaffe Hand entgegen.

„Das wird nicht so einfach“, setzte sie seufzend hinzu und dachte an die Arbeit, die zuhause auf sie wartete.

„Ich weiß, dass Sie nicht unbedingt ein fünftes Kind wollten, aber es ist gesund und wird Ihnen viel Freude bereiten“, wieder räusperte er sich.

Frau Zimmermann wünschte sich, er würde gehen.

Weshalb stand er bloß noch immer im Raum?

Die Tür ging auf und die Hebamme kam mit dem gebadeten, frisch gewickelten und in einem weißen Strampelanzug gekleideten Säugling auf dem Arm herein und legte das Kind neben die Mutter, die fast unmerklich von dem kleinen Wesen wegrutschte.

Die Hebamme warf dem Arzt einen Seitenblick zu und blieb dann neben ihm stehen.

„Ich habe Herrn Zimmermann verständigt“, sagte sie zum Arzt und wandte sich dann der im Bett Liegenden zu, „er wird sofort kommen. Es hat niemand damit gerechnet, dass es so schnell geht“, sie lächelte Frau Zimmermann freundlich an, die ihr einen leeren Blick zusandte.

Es war ihr einerlei.

Bei der Geburt wäre er ohnehin nicht dabei gewesen.

Das war er bei den anderen Geburten auch nicht.

Abgesehen davon war sie sehr froh darüber.

Aber noch besser wäre gewesen, wenn es diese Geburt gar nicht gegeben hätte.

Sie konnte sich allerdings nichts vorwerfen. Sie hatte alles versucht, um das Kind loszuwerden.

Aber offensichtlich wollte sich dieses Baby nicht „abschütteln“ lassen.

„Haben Sie ihn telefonisch erreicht? Er ist bestimmt noch auf dem Acker“, sagte sie schwach und warf einen ersten Blick auf das Kind, das ruhig neben ihr auf dem Kissen lag.

„Ihre Schwiegermutter hat es ihm gesagt. Er ist schon auf dem Weg hierher“, die Hebamme stieg etwas unruhig von einem Bein auf das andere.

Nun blieb Frau Zimmermann nicht mehr verborgen, dass diese Situation etwas außergewöhnlich war. Sie sah den Arzt eindringlich an.

„Was ist mit dem Baby?“, fragte sie leise und versuchte sich etwas aufzurichten.

Der Arzt fühlte sich ertappt und fuhr sich nervös durch die Haare.

„Es ist alles in Ordnung“, beeilte sich die Hebamme zu sagen, warf dem Arzt einen warnenden Blick zu und setzte fort, „Herr Doktor, wir müssen die Papiere noch ausfüllen.“

An Frau Zimmermann gewandt sagte sie freundlich: „Sie haben ein äußerst hübsches Baby. Wir lassen Sie kurz allein mit ihm, aber Sie können mich jederzeit rufen, wenn Sie etwas brauchen.“

Sie beugte sich über das Bett und streichelte dem Säugling über die noch feuchten Haare.

Frau Zimmermann versuchte ein müdes Lächeln aufzusetzen und sah nach dem Kind, das einen krächzenden Laut von sich gab.

`Gott sei Dank ist es gesund´, dachte sie und schloss die Augen.

Ihr Puls schlug schneller als sie daran dachte, dass sie mehrere Male vom Heuboden gesprungen war und diesen höllisch ekelhaften Tee getrunken hatte, um das Kind loszuwerden.

Aber als sie den friedlich schlummernden Winzling in seinem strahlendweißen Gewand sah, wurde ihr Herz weich und sie fiel in ein haltloses Schluchzen.

Plötzlich schienen ihr die Wände viel zu nahe, die Decke senkte sich auf sie herab und die Luft war heiß und dampfend.

Ihr Atem ging immer schneller und das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen, schnürte ihren Brustkorb ein.

Verzweifelt zog sie das kleine Wesen an sich heran und die Wärme und der Geruch des Neugeborenen löste ihre Panikattacke auf und die Wände und die Decke rückten an ihren ursprünglichen Platz zurück.

In diesem Augenblick stellte sich Freude über das Kind ein und sie war froh, dass sie solche Gefühle zulassen konnte.

Der Arzt ließ sich schwerfällig auf den Sessel plumpsen, der vor dem großen Schreibtisch stand, auf dem alles ordentlich geordnet lag.

Vor ihm hatte die Hebamme alle Dokumente und Formulare ausgebreitet, die er bei einer Geburt ausfüllen musste.

„Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?“, fragte die Hebamme und sah auf die schlaffe Person herab, die lustlos auf ihrem Sessel hockte. Sie wusste, dass er mit dieser Situation überfordert war.

„Das ist eine gute Idee, danke“, seufzte er und rappelte sich etwas auf, um an die Formulare heranzukommen.

Schon wenig später breitete sich ein wohlbekannter, intensiver Kaffeeduft im Büro aus, der den Arzt auf eigentümliche Weise beruhigte und seine Gedanken wieder mühelos ordnen ließ.

Mit dem dampfend heißen Getränk neben sich wirkte das Problem gar nicht mehr unlösbar.

„So etwas habe ich noch nie gesehen“, teilte die Hebamme dem Arzt mit.

Der Arzt nahm einen großen Schluck Kaffee, der sich wohltuend in seinem Mund, dem Rachen und dann der Speiseröhre entlang ausbreitete und ihm sein Wohlbefinden endgültig zurückgab.

„In meiner Ausbildungszeit habe ich einige Fälle gesehen“, er nickte bedächtig und nahm einen weiteren beruhigenden Schluck.

„Bei manchen Kindern weiß man überhaupt nicht, was man machen soll, da ist der Penis und die Scheide gleichermaßen ausgeprägt. Die Entscheidung in diesem Fall hier ist einfacher“, ein Schluck Kaffee beendete diesen Satz.

„Aber der Penis ist doch viel zu klein und die Hoden sehen auch seltsam aus. Irgendwie,“ sie suchte nach Worten, „irgendwie langgezogen.“

Der Arzt zuckte mit den Achseln.

„Die Harnröhre geht aber eindeutig durch den Penis, also kann es keine Klitoris sein“, wieder zuckte er mit den Achseln.

„Bei manchen Mädchen sehen die Schamlippen ähnlich aus, wie bei diesem hier. Aber beim Tasten habe ich Hoden spüren können, wenn auch zu kleine, aber man konnte sie eindeutig tasten. Ein Mädchen ist es auf keinen Fall“, sagte er und starrte in seine Kaffeetasse, die nun leer war.

Die Hebamme bemerkte den Blick in die Tasse, holte die Kaffeekanne, die gleich ums Eck in der kleinen Küche stand und goss Kaffee nach. Der Arzt nickte dankbar, noch immer seinen Gedanken nachhängend.

„Bei einer richtigen Dosierung von Testosteron wird er sich zu einem normalen Mann entwickeln“, informierte er die Kaffeetasse.

Die Hebamme sah ihn fragend an.

„Bekommt er jetzt schon Hormone?“, wollte sie wissen.

„Nein, erst in ein paar Jahren, noch vor der Pubertät, damit er sich gut entwickeln kann. Aber wahrscheinlich wird er nie Kinder zeugen können“, erklärte er.

„Und wenn er Testosteron bekommt, dann wird er ein richtiger Bub?“, fragte die Hebamme interessiert.

„Wir wollen es hoffen. Testosteron lässt die Geschlechtsteile wachsen, fördert den Stimmbruch und beschert ihm einen Bart. Mehr können wir in diesem Fall nicht tun“, meinte er achselzuckend.

„Und die Eltern?“, fragte sie und wollte in Wahrheit wissen, wie sie selbst mit dieser Situation umgehen sollte.

Sie kannte die Familie schon lange und hatte Frau Zimmermann auch bei den letzten beiden Geburten – zwei äußerst hübsche Mädchen waren zur Welt gekommen – betreut.

Im Ort und den umliegenden Dörfern kannte man jeden.

Die älteste Tochter ging mit ihrer Tochter in die Schule und war ein sehr freundliches, fleißiges Mädchen. Die beiden anderen Mädchen kannte sie nur flüchtig und sie schienen sehr introvertiert zu sein.

„Wir werden nicht viel darüber reden“, meinte der Arzt düster und störte ihre Gedanken.

„Dabei kann man ja noch von Glück sprechen, denn hätte das Baby eine ausgeprägte weibliche Scham, würde man die Hoden entfernen und die Harnröhre versetzen müssen. Das wäre keine leichte Operation für so ein kleines Kind.

In ein paar Jahren beginnen wir mit der Hormongabe, allerdings muss er diese dann sein Leben lang einnehmen und das war´s!“, er ließ die Hand auf seinen Oberschenkel klatschen, stellte die Kaffeetasse auf die Ablage, rückte den Drehsessel etwas näher zum Schreibtisch und machte sich an die Arbeit, die Formulare auszufüllen.

„Operiert man die Kinder schon im Babyalter?“, fragte die Hebamme ungläubig. Sie ging näher an den Schreibtisch heran.

„Hodenentfernung, ja. Die Harnröhre würde man etwas später versetzen“, erklärte er knapp.

„Und wenn man Testosteron zuführt, dann wird es ein richtiger Mann?“, wollte sie noch wissen.

„Ja“, er sah nun nicht mehr von den Papieren auf.

Die Hebamme hatte verstanden, dass sie ihn nicht mehr stören sollte und blieb gedankenverloren hinter ihm stehen.

In möglichst schöner Schrift malte er Richard in die dafür vorgesehene Zeile.

„Und wird Richard einmal darüber aufgeklärt, dass er, wie soll ich sagen“, sie suchte den Plafond mit den Augen nach den richtigen Worten ab, „kein richtiger Mann ist.“

Sie fand keine bessere Umschreibung, die den Nagel auf den Kopf traf.

Der Arzt legte den Stift zur Seite und drehte sich im Sessel zu ihr, um sie ansehen zu können.

„Was ist schon ein richtiger Mann?“, fragte er und hob die Augenbrauen.

Die Hebamme versuchte sich dieser Frage zu entziehen und zuckte nur wortlos mit den Achseln.

„Er wird als Bub aufwachsen und nichts anderes kennen. Soll ich den Eltern erklären, dass sie einen Zwitter zur Welt gebracht haben? In so einem kleinen Dorf! Das würden sie nicht ertragen,“ meinte er.

„Das stimmt. Die Nachbarn würden sich die Mäuler zerreißen, da haben Sie recht“, nickte die Hebamme bestätigend.

Vor ihrem geistigen Auge entstanden Bilder, die sie nicht beeinflussen konnte:

Wie ein Schwarm hungriger Wespen schwirrte die Dorfgemeinschaft zu dem Platz, an dem nackt der Junge stand, der kein Junge war.

Die gierigen Fresszangen der Wespen schlugen klappernd aneinander, während die Flügelschläge zu einem surrenden Höllenlärm anschwollen.

Aus ihren Mäulern floss ekelhafter Speichel, während eine Wespe nach der anderen ihren blitzenden Giftstachel in die zarte Haut des Jünglings versenkte, bis der geschwollene und malträtierte Leib mit einem Mal zerplatzte und die herabfallende, dunkelrote Flüssigkeit den Dorfplatz samt der herumfliegenden Wespen besudelte.

Die Wespen verließen speicheltriefend und zufrieden den Dorfplatz, während die Eltern vor Scham selbst zu zwei Speichelpfützen zerschmolzen.

Die Hebamme schüttelte den Kopf, wie um ihre Bilder darin verscheuchen zu können.

„Sie haben recht, die Eltern würden sich schämen“, nickte sie. Das Gerede im Dorf sollte man mit einer derartigen Geschichte nicht forcieren.

Der Arzt wandte sich wieder seinen Papieren zu.

„Ich werde sie darüber informieren, dass das Kind etwas schmächtig ist und vielleicht einmal Medikamente benötigt, um sich richtig entwickeln zu können. Sie sollen regelmäßig zum Hausarzt mit ihm und für mich ist diese Sache damit erledigt.“

Und so kam es, dass die Freude des Vaters, einen Sohn nach drei Töchtern bekommen zu haben, über die Tatsache, er sei ein etwas schwächlicher Junge, überwog.

Die Mutter schloss schließlich diesen zarten Buben mit den blonden Engelslocken und den wunderschönen türkisen Augen in ihr Herz.

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