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Romy, Herbst 2017, sie ist wundeerschön

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„Bitte, Isa! Du weißt, dass das mein größter Wunsch ist!“, ruft sie und zerrt wieder einmal an meinem Handgelenk.

Ich versuche ihre Hand abzuschütteln. Es nervt mich, wenn sie an mir herumzerrt.

„Das kann ich nicht machen“, sage ich und fühle mich elend bei diesem Gespräch.

„Doch“, sagt sie mit Nachdruck und lacht.

„Was gibt es da zu lachen?“, frage ich forsch und merke, wie sich meine Stirn in Falten legt. Den Griff um mein Handgelenk kann ich noch immer nicht abschütteln.

Mit der freien Hand greife ich nach ihren Fingern und löse sie mit sanfter Gewalt von meinem Handgelenk.

„Das kannst du schon! Ich möchte das. Du weißt, dass ich mich danach sehne“, sie schaut mich flehend an.

Ich werfe einen kurzen Blick auf ein paar Ausdrucke, die sie mir vor die Nase auf den Tisch geknallt hat.

„Du fährst mit mir in die Schweiz!“, sagt sie mit noch mehr Nachdruck und schaut mich durchdringend an.

Mir ist schlecht.

Ich weiß, dass sie es ernst meint.

„Aber du kannst es trotzdem noch schaffen“, versuche ich zaghaft, denn ich bin mir nicht sicher, ob ihr dazu nicht der Wille und die Stärke fehlen.

„Blödsinn! Du weißt, dass ich es schon immer wollte. Ich schaffe es einfach nicht“, sie schiebt den kleinen Stapel Papier wieder vor meine Nase.

„Romy, ich kann lesen!“, fauche ich und blicke sie böse an.

„Weißt du noch: vor einem Jahr hast du mir versprochen, dass du mit mir in die Schweiz fährst, wenn es mir nicht besser geht. Und es geht mir noch schlechter“, erinnert sie mich.

Oh ja! Warum habe ich so etwas nur gesagt?

Ich kann mich erinnern: sie hat mich unter Druck gesetzt und ich habe nicht damit gerechnet, dass dieses Jahr so schnell vergehen würde.

Wie unvorsichtig von mir!

Abgesehen davon war ich mir sicher, dass ich sie in diesem Jahr davon überzeugen kann, dass das Leben schön oder zumindest lebenswert ist.

Ich sehe sie an.

Sie ist wunderschön.

Es tut weh.

„Du hast nicht alles versucht, damit es dir besser geht“, werfe ich ihr vor und gehe damit in die Offensive.

Anders kann ich mich nicht mehr verteidigen.

„Ich bin grundverschieden. Ich empfinde viele Dinge anders als alle anderen. Ich weiß das“, sagt sie unbeirrt.

„Einen Dreck weißt du!“, rufe ich zornig aus.

„Was hast du dir von dieser Welt bisher angesehen? Du weißt gar nichts! Du sitzt in deiner Wohnung und bemitleidest dich selbst, und wenn du einmal aus deiner Wohnung kommst, dann hast du gleich zwei Dates. Ich begreife das nicht! Alle schauen dich an, weil du so hübsch bist. Du bist sexy, du bist intelligent, du bist etwas Besonderes!“, zetere ich und meine das auch wirklich so.

Ich mache ihr nichts vor!

Das habe ich gar nicht nötig.

„Ich bin nichts Besonderes! Ich bin eine Missgeburt“, erwidert sie und senkt ihr geschundenes Haupt.

Ich möchte gerne vermeiden, dass mich der aufkommende Zorn übermannt, aber ich schaffe es nicht.

„Du gehst einmal aus und hast einen One-Night-Stand. Ich hatte das noch nie!“, ein mageres Argument, ich weiß.

„Wenn man will, hat man immer einen One-Night-Stand. Den Männern ist es egal, mit wem sie nach Hause gehen. Das bedeutet gar nichts“, sie grinst und verdreht dabei die Augen.

„Oh doch, Romy! Keiner nimmt sich eine Hexe mit nach Hause!“, sage ich ruppig.

„Siehst du, jetzt hast du es zugegeben“, triumphiert sie.

„Was?“, rufe ich gereizt. Ich weiß, was kommt.

„Du hast zugegeben, dass ich nicht hübsch bin, und dass es den Männern egal ist, wer mit ihnen schläft, wenn sie nur halbwegs gut aussehen. Und ich will nicht halbwegs gut aussehen. Ich möchte schön sein“, sagt sie und schaut mich auffordernd an.

„Aber du bist doch hübsch!“

Ich möchte ihr den schönen Hals umdrehen.

„Ich möchte wunderschön sein“, sagt sie trotzig.

Ich sehe sie von der Seite an.

Ihr Profil ist süß.

Wenn sie das nur selbst sehen könnte.

„Du möchtest hundertfünfzig Prozent Frau sein, Romy! Es reichen aber hundert Prozent. Und du warst immer eine Frau!“, ich versuche wieder, mich zu beherrschen und drehe ihr nicht den Hals um, wie ursprünglich geplant.

„Ich bin ein Monster!“

Oh Gott! Nicht schon wieder.

„Nein. Du bist eine Frau und warst immer eine Frau. Nur das Testosteron hat dich zum Mann gemacht“, ich rede langsam und deutlich.

„War ich ein schöner Mann?“, fragt sie und ihre türkisenen Augen blitzen neugierig.

„Du weißt, dass du ein sehr schöner Mann warst“, sage ich ärgerlich.

„Ha! Jetzt hast du es zugegeben“, ruft sie und reibt sich die Hände, als würde sie sich über irgendetwas besonders freuen. „Aus einem richtigen Mann kann nie eine hübsche Frau werden. Das geht nicht. Ich habe sehr männlich ausgesehen. Und jetzt: schau dir diesen breiten Kiefer an! Ich will das nicht!“

Ich merke, dass die Situation gleich eskaliert.

„Ich finde deinen Kiefer schön“, sage ich betont ruhig.

Romy presst beide Handflächen auf ihre Wangen.

„Aber ich will diesen breiten Kiefer nicht! Weibliche Attribute sind: eine zarte Stirn, ein ovales Gesicht, ein schmaler Kiefer und große Augen. Ich bin ein Mann!“, ruft sie hysterisch und drückt ihre Wangen weiter zusammen.

„Es gibt auch Frauen mit einem breiten Kiefer“, sage ich zum gefühlt achttausendsten Mal zu ihr, „auch meine Schwestern haben einen breiteren Kiefer als ich!“

„Aber ich möchte ein zartes Gesichtchen, so wie deines!“, sie fasst mir ins Gesicht.

Ich mag das nicht.

„Ist doch egal!“, antworte ich zornig, „sei doch froh, dass du nicht so aussiehst wie alle anderen, das wäre doch langweilig!“

„Aber bei dir hat noch nie jemand gedacht, dass du früher einmal ein Mann warst, oder?“ Das ist eine Falle.

„Ja, nein“, was soll ich darauf sagen?

Das Gespräch dreht sich im Kreis. Wie immer.

Natürlich hat mich noch nie jemand gefragt, ob ich schon immer eine Frau war. Ich bin einen Meter sechzig groß, habe lange Haare und sehe aus wie eine Frau eben aussieht.

Romy ist einen Meter vierundsiebzig.

Kein Grund zur Verzweiflung, finde ich.

Sie hat die schönsten Augen, die ich kenne.

Sie hat eine bezaubernde Nase und sehr sinnliche Lippen.

Die Zähne könnten nicht schöner und ebenmäßiger sein.

Wenn sie lächelt, ist sie am bezauberndsten, doch sie lächelt leider viel zu selten.

Sie sieht sich selbst nie lächeln.

Sie sieht im Spiegel etwas anderes als ich. Sie sieht ein Spiegelbild, das sie abgrundtief hasst.

„Vor kurzem in der Straßenbahn“, sie schluckt, es fällt ihr schwer, darüber zu reden.

Aber ich kenne diese Geschichte natürlich schon.

Geduldig höre ich ihr zu.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn dich jemand in der Straßenbahn anschreit. Vor allen Leuten“, sie stockt.

„Du scheiß Transe! Ihr gehört alle vergast!“

Ich sage nichts.

Was auch.

„Ich will das nicht mehr! Und der hat es auch gemerkt. Ich bin eben keine Frau! Und niemand hat mir geholfen. Sie haben mich alle angestarrt. Alle! Wahrscheinlich haben sie alle dasselbe gedacht!“, ruft sie und möchte meine Bestätigung, die sie aber von mir nicht bekommt.

„Nein, Romy! Das ist Blödsinn. Ich weiß nicht, wie er auf diese Idee gekommen ist“, beginne ich.

„Weil man es eben merkt. Alle merken es!“, unterbricht sie mich.

„Nein, das stimmt nicht! Ich kenne viele Leute, die erstaunt sind und sich das nie gedacht hätten, wenn sie deine Geschichte hören. Alle, mit denen ich geredet habe, sagen „wow, was für eine schöne Frau“!“

Das reimt sich sogar.

„Vielleicht gibt es manche Menschen, die es merken, warum auch immer. Aber es muss dir egal werden. Dass dich in der Straßenbahn keiner verteidigt hat, kann ich nachvollziehen. Ich hätte mich auch nicht getraut gegen so einen dummen, aggressiven Menschen etwas zu sagen. Gut möglich, dass so jemand gleich zuschlägt und das riskiert niemand. Aber ich bin mir sicher, dass du den meisten leidgetan hast“, ich finde meine Argumentation selbst nicht gut.

„Ich möchte in die Schweiz. Bitte Isa, hilf mir“, flüstert sie.

Ich will aber nicht!

Wäre sie unheilbar krank, würde ich vermutlich Sterbehilfe akzeptieren, aber wenn es nur einen einzigen Funken Hoffnung gibt, werde ich es zu verhindern versuchen.

Ich möchte, dass sie lernt, wie man lebt.

ROMY

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