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Dein Stress und du:
Beginn einer Liebesbeziehung

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Wir Menschen sind keine Maschinen, und die biologische Stressreaktion läuft nicht einfach auf Knopfdruck ab. Sie nimmt einen entscheidenden Umweg: den über das Gehirn. Kommt dort ein Reiz an, wird er erst einmal geprüft: Besteht Gefahr? Soll unser System in Alarmbereitschaft versetzt werden? Weil das Gehirn aber im Fall eines Falles schnell bewerten muss, ob ein Reiz bedrohlich ist, vergleicht es ihn mit bekannten Mustern, die ihm das Gedächtnis zur Verfügung stellt.

Im Kopf sind wir ständig damit beschäftigt, alle möglichen Reize mit unseren Erfahrungen abzugleichen, positiven wie negativen. Weil die bei jedem Menschen anders aussehen, reagieren wir auch auf ganz unterschiedliche Dinge mit Stress – oder eben nicht. Ob eine Stressreaktion abläuft, entscheidet sich also im Gehirn.

Deshalb ist Stress nicht für alle gleich. Es gibt so viele unterschiedliche Auslöser dafür, wie es individuelle Erfahrungen gibt. Drei Beispiele:

Stress, das ist zu 10 Prozent ein Reiz und zu 90 Prozent unsere Reaktion darauf.

Der Pflaumenkuchen ist angeschnitten – und die Wespen haben es natürlich als Erstes mitgekriegt. Es schwirrt nur so über dem Gartentisch. Marie gerät in Panik, schlägt hektisch nach den gelb-schwarzen Kaffeegästen und flüchtet schließlich ins Haus. Bloß nicht gestochen werden! Ihre bisherigen Begegnungen mit den Insekten sind ihr als schrecklich schmerzhaft im Gedächtnis geblieben. Außerdem hat ihr schon als Kind die beste Freundin erzählt, dass man sterben kann, wenn so eine Wespe in den Mund gerät und dort zusticht. Betty dagegen lässt sich die Kaffeepause nicht von ein paar Insekten vermiesen. Klar ist sie auch schon gestochen worden, aber sie ist sich sicher: Das waren unglückliche Zufälle. Sie bewegt sich einfach ruhig. Dann wird schon nichts passieren.

Beispiel zwei: Während Olga sich auf den Firmenlauf freut und unbedingt noch ein Selfie mit dem ganzen Team machen will, steht Sven total verspannt neben ihr. Was hat ihn bloß dazu gebracht, sich für die längere Strecke anzumelden? Bestimmt merken jetzt alle, wie unfit er ist, und die Kolleginnen und Kollegen ziehen sofort an ihm vorbei. Wie früher im Sportunterricht – er kann das Gelächter der anderen noch immer hören. Kein Wunder, dass sein Körper kurz vor dem Startschuss die höchste Alarmstufe ausgerufen hat!

Und drittens eine Situation, die wir alle während der Coronapandemie sicher so oder so ähnlich beobachten konnten: Jorge wälzt sich in der Zeit des ersten Lockdowns oft ganze Nächte schlaflos im Bett. Er macht sich Sorgen: Was ist, wenn er sich ansteckt? Wird er auf die Intensivstation kommen? Wird er überhaupt überleben? Ist seine Familie sicher? Für ihn war immer wichtig, dass er in seinem Leben die Kontrolle behält, und die scheint ihm nun zu entgleiten. Wer kann schon ein Virus kontrollieren? Annik sieht das alles etwas entspannter. Ist bei ihr nicht irgendwie noch immer alles gut gegangen? Sonntagskind, hat ihre Mutter immer gesagt. Die haben Glück im Leben.

Dass unterschiedliche Menschen also auf die gleichen Stressauslöser vollkommen verschieden reagieren, hat mit ihren Erfahrungsmustern zu tun. Und jetzt die gute Nachricht: Die sind nicht in Stein gemeißelt. Wir können darauf Einfluss nehmen und sie verändern. In den letzten Jahren habe ich so einen Wandel nicht nur bei mir selbst angestoßen, sondern auch bei vielen Leuten in meinem Umfeld miterleben können.

 Menschen, die früher Kritik als persönlichen Angriff verstanden haben und sich davon verständlicherweise total stressen ließen, nehmen kritische Worte jetzt als Zeichen, dass ihnen das Gegenüber vermutlich weiterhelfen will. Auf diese Weise sehen sie das Gesagte nicht als Angriff, sondern können es akzeptieren und sich verbessern.

 Menschen, die sich früher für jedes Gefühl der Erschöpfung als Versagerinnen oder Loser abgewertet und so in einen negativen Stresskreislauf getrieben haben, sehen Müdigkeit und Schlappheit jetzt als Zeichen, auf Selbstfürsorge und klare Prioritäten zu achten.

 Menschen, bei denen früher der volle Terminkalender Angst und Panik ausgelöst hat, gehen ihre To-dos heute Schritt für Schritt an, finden den Mut, wichtige Termine auch mal zu verschieben, und sind in der Lage, sich Unterstützung zu holen.

 Andersherum gibt es Menschen, die früher Hektik und übervolle To-do-Listen als Beweis für ihren eigenen Wert brauchten und die heute auch mal entspannen können.

 Menschen, die früher die eigene Überforderung in sich hineingefressen und damit noch vergrößert haben, können ihre Gefühle heute anderen gegenüber zugeben und sich darüber austauschen.

Wir können also unsere Stressmuster bewusst verändern. Und wenn das so ist, dann müssen wir den Stress nicht bekämpfen, nicht vor ihm davonlaufen, ihm nicht ausweichen! Yoga und Meditation tun gut und haben für viele Menschen eine wichtige Funktion im Umgang mit dem Stress, keine Frage – aber wer kann schon permanent meditieren oder beim leisesten Anzeichen von Unruhe einen Sonnengruß beginnen? Oder noch grundsätzlicher gefragt: Was hilft es, permanent Ruhe und Entspannung nachzutanken, wenn im Tank ein riesiges Loch klafft, das erst einmal repariert werden müsste?


Stress dich richtig!

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