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Entscheidung 1:
Ich übernehme Verantwortung.

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Plötzlich dieses scharrende Geräusch in der Stille. Ben wird bewusst, dass der letzte Song der Playlist schon vor Minuten zu Ende gegangen sein muss und dass er seitdem unbeweglich dasitzt. Nur seine Finger drehen unablässig das Rotweinglas, sodass der Fuß leise über den Tisch kratzt. Ben gibt sich einen Ruck und kippt den letzten Schluck Merlot runter. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Nadja schläft sicher längst.

Aber dann bleibt er doch sitzen und starrt vor sich hin. Es ist dunkel draußen, und in der Fensterscheibe sieht er sich selbst am Küchentisch sitzen: einen Mann mit grauen Haaren und hängenden Schultern. Nächste Woche wird er fünfzig, und ihm ist überhaupt nicht nach Party. Was gibt’s da auch zu feiern? Früher glaubte er, mit fünfzig bestimmt längst alle seine Träume verwirklicht zu haben: in der Karriere oben angekommen, das Eigenheim so gut wie abbezahlt, die Kinder so weit selbstständig, wieder mehr Zeit, um gemeinsam mit Nadja ausgedehnte Motorradtouren zu machen und ferne Länder zu entdecken.

Ben lacht kurz und unfroh auf, als er an seine Maschine denkt, die langsam, aber sicher in der Garage einstaubt. Er kann sich überhaupt nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal den Fahrtwind gespürt hat. Erst lag es daran, dass Nadja nicht mehr mitkommen wollte – zu gefährlich, sagte sie, sie hätten schließlich Verantwortung als Eltern. Wenn er dann doch mal allein loszog, empfing ihn bei der Rückkehr eisiges Schweigen.

Aber wenn Ben ehrlich ist, dann weiß er schon lange nicht mehr, wo er die Zeit für Motorradtouren überhaupt hernehmen soll. Sein Bereichsleiterposten, auf den er mit zusammengebissenen Zähnen und jeder Menge Überstunden hingearbeitet hat, bedeutet nämlich seit Jahren vor allem eins: noch mehr Überstunden. Nur dass nach denen jetzt niemand mehr fragt. Außerdem kommt der Job mit einer Dauerkarte für den Platz zwischen den Stühlen. Von oben die Ansprüche der Geschäftsführung, die immer überzogenere Zielvorgaben aufstellt, und von unten das ewige Genörgel der Mitarbeitenden, die dem »Höher! Schneller! Weiter!« nur noch passiv-aggressiven Widerstand entgegensetzen. Ben flucht. Scheißjob!

Wann hat er eigentlich das letzte Wochenende so richtig genossen, ohne das quälende Gefühl im Hinterkopf, dass der Montag immer näher rückt? Inzwischen schläft er oft schlecht, wacht nachts auf und liegt stundenlang wach, während er Gedanken wälzt. Sein bewährtes Mittel zum Runterkommen, das Gläschen Rotwein am Abend, hilft auch nicht mehr so richtig. Mal abgesehen davon, dass er Nadjas erhobene Augenbraue beim Anblick der leeren Weinflasche kaum noch ertragen kann.

Manchmal träumt Ben davon, einfach zu gehen. Die Tür hinter sich zuzumachen und woanders noch mal völlig neu anzufangen. Frei sein, einfach was Neues auszuprobieren, ohne Verpflichtungen. Tauchlehrer werden auf einer Sonneninsel. Irgendwo Gemüse anbauen, bescheiden leben und wieder mit wenigem zufrieden sein.

Na ja, das sind Schäume-Träume, das ist ihm schon klar. Aber da gibt es noch etwas anderes, was ihm seit ein paar Tagen nicht mehr aus dem Kopf geht: dieses Treffen mit Jens. Wie begeistert der alte Studienkumpel von seinem Leben erzählt hat! Ein kompletter Neuaufbruch mit diesem Start-up, hat er geschwärmt, ein dynamisches Team, eine spannende Geschäftsidee, die gerade so richtig einschlägt. Und dann hat er ihn, Ben, plötzlich angeguckt und gesagt, er solle doch mit einsteigen. Erst mal nur als Angestellter, aber genau so jemanden wie ihn bräuchten sie gerade. Und man könne ja sehen, was sich noch daraus entwickeln werde.

Ben hat natürlich sofort abgewehrt. Ein Jobwechsel in seinem Alter, und dann noch in ein Start-up – viel zu unsicher! Was, wenn es baden geht? Außerdem hat Jens zugegeben, dass sie ihm erst mal kein Supergehalt zahlen könnten. Dafür bräuchte er aber auch nur vier Tage zu arbeiten – das sei sowieso Firmenphilosophie.

Aber wie soll das mit einem Rückschritt beim Gehalt gehen? Selbst mit Nadjas Einkommen zusammen kommen sie als Familie gerade so hin. Die Kinder sind jetzt in einem Alter, in dem die Ausgaben größer werden – allein die Klassenfahrten und Smartphones! Bald muss beim Älteren auch das Studium finanziert werden. Und dann ist da schließlich noch die Hypothek für das Haus …

Trotzdem geht Ben dieses Jobangebot nicht aus dem Kopf. Die Stelle klingt superspannend. Sie wäre ein Ausweg aus seiner aktuellen Jobsackgasse, und mehr Zeit hätte er auch. Jens hat gesagt, er könne es sich ja noch ein, zwei Wochen überlegen. Erst dann würden sie den Job ausschreiben. Ben steht auf, stellt das Weinglas in die Spülmaschine und geht ins Bett, obwohl er weiß, dass er sowieso nicht schlafen kann.

Ben ist eine fiktive Person. Aber ich begegne immer wieder Bens bei meinen Seminaren und Vorträgen. Manchmal heißen sie auch Hakim, Maren oder Petra, aber sie alle fühlen sich vollkommen fremdbestimmt – abhängig von den Entscheidungen ihrer Partner, Chefinnen, Eltern und Kinder; gefangen in einem Leben, dass sie so nie selbst gewählt haben.

Glauben sie jedenfalls.

Den meisten von uns geht es so. Gerade dann, wenn wir uns gestresst fühlen in unserer alltäglichen Tretmühle, verlieren wir vollkommen aus dem Blick, dass wir an diesen Punkt gekommen sind, weil wir es so entschieden haben.

Niemand anders ist so sehr für unser Leben verantwortlich, wie wir es selbst sind. Es fühlt sich nur manchmal so an, als wären wir komplett ferngesteuert, weil wir uns im Normalfall nur an wenige wirklich richtungsweisende Entscheidungen in unserem Leben erinnern können.

So wie Ben: Okay, dass Nadja und er geheiratet haben, das war natürlich eine große Lebensentscheidung. Dass er sich damals für das BWL-Studium entschieden hat? Na ja, das war halt das, was bei der obligatorischen Berufsberatung rauskam, und seine Eltern haben ihm auch dazu geraten. Er selbst hatte eigentlich keine konkrete Vorstellung von dem Studium und den Berufen, die man damit nachher ausüben kann – nur dass man darin meistens ordentlich verdient. Aber war das schon eine bewusste Entscheidung? Und dass er sich zum Bereichsleiter hochgearbeitet hat und dafür in Kauf nimmt, kaum noch über seine Zeit verfügen zu können, das war schon gar nicht frei gewählt – da ging es ganz banal um Geld. Denn das Gehalt war und ist nötig, um das Familienleben und vor allem das Haus zu finanzieren. Sachzwänge also – oder etwa nicht?

Unser Leben ist die Summe unserer Entscheidungen.

Stress dich richtig!

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