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Sollen Therapeuten die destruktiven Auswirkungen der Religiosität behandeln?
ОглавлениеÜber die Rolle, die Kliniker angesichts der Religiosität ihrer Patienten einnehmen, hat es bereits seit langem eine Kontroverse gegeben.
Vielschichtige Argumente sprechen dafür, dass die Religiosität eines Menschen eine starke Wirkung auf seine körperliche und geistige Gesundheit hat, häufig eine gute, aber manchmal auch eine krankmachende. Bedeutet das aber auch, dass die Heilberufe die Aufgabe haben, in das religiöse Leben einzugreifen?
Es gibt überzeugende Argumente für eine klare Abgrenzung zwischen dem religiösen Leben eines Patienten und der professionellen Zuständigkeit der Kliniker. Meist handelt es sich dabei um ethische Bedenken, bei denen es darum geht, die Autonomie des Patienten zu wahren. Die Autonomie respektieren heißt, den Patienten als jemanden zu behandeln, der frei über seine persönlichen Ziele und darüber, ob er sich von diesen Zielen leiten lassen will, entscheiden kann. Das bedeutet, dass die Ansichten, Werte und Entscheidungen eines Patienten an erster Stelle stehen und man sich davon zurückhält, dem Patienten die Wertvorstellungen des Klinikers überzustülpen (Beauchamp & Childress 2001).
Richard Sloan, Professor für Verhaltenstherapie an der Columbia University (Sloan et al. 2000; Sloan 2006, 2007), war einer der führenden Kritiker der Bemühungen, die Heilmethoden von Spiritualität und Religion in die Medizin zu integrieren (Koenig 1998; Miller 1999; Puchalski, Larson & Lu 2001; Sperry & Shafranske 2005). Er hat drei ethische Bedenken gegenüber Klinikern, die ihre Patienten zu religiösen Praktiken ermutigen, erhoben. Erstens ist das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ungleich im Hinblick auf die Machtverteilung. Es gibt innerhalb der Behandlung eine implizite Erwartung, dass die Kliniker etwas vorschreiben und die Patienten es erfüllen. Es ist also für einen Kliniker schwierig, religiöse Aktivitäten „vorzuschlagen“, wie etwa, dass jemand für seine Heilung betet, ohne dass dies entscheidend wirkt. Zweitens gibt es viele andere Faktoren, die sich ungleich stärker auf die Gesundheit auswirken (z.B. kulturelle, politische, wirtschaftliche) und die doch als außerhalb der Zuständigkeit des klinischen Fachwissens liegend betrachtet werden. Die Ehe beispielsweise könnte die Gesundheit eines älteren Mannes fördern, der mit verschiedenen chronischen Krankheiten belastet allein lebt. Dennoch würden die meisten es als unangemessen betrachten, wenn sein Arzt ihm die Ehe empfehlen würde. Drittens besteht die Gefahr, dass man einem anderen Schaden zufügt. Eingriffe in das moralische Leben von Menschen sind niemals neutral. Es ist einleuchtend, dass einen Patienten dazu zu ermutigen, sich auf sein religiöses Leben zu konzentrieren, den Patienten im Umgang mit der Krankheit stärken kann, aber es kann genauso schaden, wenn der Patient in seiner Verzweiflung zu dem Schluss kommt, dass die Krankheit von Gott als Strafe über ihn verhängt worden ist.
Diese Kritikpunkte führen allesamt wichtige Bedenken an. Oft genug ist es Ärzten und anderen Heilern nicht gelungen, ihre persönliche Hybris oder ihren ideologischen Eifer zu kontrollieren, wenn sie Empfehlungen ausgesprochen haben, die für ihre Patienten letztendlich schädliche Auswirkungen hatten. Dennoch kann man auch jedem einzelnen dieser Bedenken eine begründete Antwort entgegenhalten, ohne einen grundsätzlichen Appell an die Kliniker, sich aus dem religiösen Leben ihrer Patienten herauszuhalten. Erstens ist es richtig, dass es keine wissenschaftlichen Beweise für den Nutzen einer bestimmten religiösen Überzeugung oder Praxis gibt, wenn sie als Behandlung verschrieben wird, sei es das Gebet, der Kirchenbesuch oder das Studium heiliger Schriften. Eine Vielzahl von Forschungsergebnissen weist jedoch auf die gesundheitsschädigenden Wirkungen von emotionalen Zuständen wie Verwirrung, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Einsamkeit hin. Nicht ganz so entschieden, aber immer noch maßgeblich ist der Anteil der Forschung, die auf die schützenden Auswirkungen von positiven Zuständen wie Hoffnung, Optimismus und dem Gefühl von Verbundenheit und emotionaler Unterstützung anderer aufmerksam macht (Harris & DeAngelis 2008; Taylor & Gonzaga 2007; Uchino et al. 2007). Zumindest die Forschungen zur psychosomatischen Medizin stützen die Rolle des Klinikers, der den Patienten beim Nutzen ihrer spirituellen Ressourcen hilft, um positive Gefühlszustände zu stabilisieren – und zwar der eigenen Ressourcen, nicht derjenigen des Arztes.
Sloans Vergleich der Religion mit der Ehe weist tatsächlich auf eine für den Arzt angemessene Rolle hin. Betrachtet man die Gesellschaft als Ganzes, so gibt es wenig Hinweise darauf, dass die Ehe die Gesundheit fördert. Zwei frühe Studien kamen sogar zu dem Ergebnis, dass die Ehe bei Patientinnen mit Brustkrebs einen früheren Tod erwarten lässt (Waxler-Morrison et al. 1991; Ell, Nishinoto et al. 1992). Spätere Studien haben jedoch gezeigt, dass es die Qualität des Verhältnisses der Ehepartner zueinander ist, die den „entscheidenden Faktor“ für die guten oder schlechten Auswirkungen auf die Gesundheit darstellt (Hibbard & Pope 1993; Weihs et al. 2008). Ärzte mit entsprechender Kompetenz können sowohl die Bedeutung der Ehe als auch der Religiosität für das Leben eines Patienten in angemessener und günstiger Weise beeinflussen. Diese Aufgabe ist für Psychologen eine leichte Übung, wenn sie schon ihr gesamtes Fachwissen beim Durchqueren der emotionalen und beziehungsmäßigen Welten des Patienten verausgabt haben.
Zweitens sind die für die geistige Gesundheit zuständigen Ärzte zwar keine Experten auf dem Gebiet der Religion, aber sie verfügen durchaus über professionelle Fähigkeiten, um Probleme zu behandeln, die mit Kommunikation, Beziehungen und der Rolle, die Werte und Überzeugungen im Leben eines Menschen spielen, zu tun haben. Kompetente Psychologen haben gelernt, mit diesen Aspekten des religiösen Lebens umzugehen und dennoch die Autonomie des Patienten zu respektieren.
Drittens besteht tatsächlich die Gefahr schädlicher Auswirkungen, wenn die Religiosität eines Patienten in die Behandlung einbezogen wird, aber dasselbe gilt auch für jede medizinische Behandlung. Viel wichtiger ist, dass die dahinter stehenden ethischen Prinzipien wie Patientenautonomie und Wohlwollen des Klinikers gewahrt bleiben: Größtmögliches Wohlwollen und kleinstmögliche Risiken für den Patienten müssen erreicht werden, wobei der Patient gut informiert seine Zustimmung zu den Entscheidungen gegeben haben muss (Beauchamp & Childress 2001). Es gibt immer mehr klinische Literatur, die die Position vertritt, dass erfahrene Psychologen gut mit einem Patienten zusammenarbeiten können, wenn es darum geht, wie religiöse Erfahrungen sich auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirken, ohne im Einzelnen darauf einzugehen zu müssen, welche Überzeugungen und Praktiken sie selbst anerkennen (Blass 2007; Gallanter 2005; Griffith & Griffith 2002; Josephson & Peteet 2004; Pargament 2007; Puchalski et al. 2001).
Kritiker haben angemerkt, Kliniker seien zu schlecht darauf vorbereitet, religiöse Themen kompetent zu behandeln, oder zu unfähig um Einflüsse ihrer eigenen religiösen Ideologien auf ihre fachliche Arbeit zu vermeiden. Für sie lag die Lösung darin, eine Mauer aufzubauen, damit Kliniker sich aus dem religiösen Leben ihrer Patienten heraushalten.
Dieses Buch unterstützt zwar die ethischen Bedenken, schlägt aber eine andere Richtung ein: Sein Ziel ist es zu versuchen, jene Mechanismen zu verstehen, durch die die Kehrseite der Religiosität schaden kann, und sie von den Mechanismen zu unterscheiden, die heilsam sein können. Daraufhin können sie klinische Strategien anbieten, die Ärzten helfen, die Religiosität ihrer Patienten sowohl in ihren heilenden als auch ihren schädlichen Auswirkungen anzusprechen.
Der auf den folgenden Seiten vorgestellte Ansatz verwendet Soziobiologie und Neurobiologie, um den schädlichen Einsatz der Religiosität erkennbar zu machen. Diese Sichtweisen können den Praktiker dabei unterstützen, Kontexte für den Dialog mit denjenigen religiösen Patienten zu schaffen, die sonst den Kontakt mit einem Psychologen vermeiden würden. Das Ziel ist ein Gespräch, in dem sowohl der Kliniker als auch der Patient sich ausdrücken und nach Lösungen suchen können, ohne Zwang, aber mit Rücksicht auf die Sorge des Klinikers einerseits und die religiösen Überzeugungen des Patienten andererseits. Diese Strategie propagiert eine Hinwendung zum Dialog anstatt zu einem Machtungleichgewicht in dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient.