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III. Der natürliche Handlungsbegriff

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Die heute wohl überwiegende Meinung konkretisiert daher den Verhaltensbegriff durch den Rückgriff auf das der kausalen Handlungslehre entnommene Merkmal der Willentlichkeit. So heißt es bei Fischer:[22] „In der Rechtspraxis wird idR ein sog. natürlicher Handlungsbegriff verwendet: Er begreift Handlung als willensgetragenes menschliches Verhalten.“ Auch in der wissenschaftlichen Literatur definieren beispielsweise Baumann/Weber/Mitsch/Eisele[23] und Walter[24] die Handlung übereinstimmend als „willensgetragenes menschliches Verhalten“.

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Diese Lösung hat den Vorzug, dass sie mit der Willentlichkeit ein den meisten Fällen von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unterlassung gemeinsames Merkmal benennt. Auch z.B. eine fahrlässige Tötung (etwa durch ein verkehrswidriges Überholmanöver) beruht ja auf einem willentlichen Verhalten (auch wenn dieser Wille nicht auf eine Todesverursachung gerichtet war). Ebenso sind die meisten Unterlassungstaten (z.B. die unterlassene Hilfeleistung) von einem Willen zum Untätigbleiben getragen.

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Ein auf die Willentlichkeit gestützter Handlungsbegriff ist außerdem insofern leistungsfähig, als er Handlungen, die keiner Willenskontrolle unterliegen (z.B. Bewegungen im Schlaf oder Delirium, Reflexhandlungen, Auswirkungen der vis absoluta u.ä.) aus dem Begriff der Handlung ausschließt und dadurch seiner „Filterfunktion“ in weitgehendem Maße gerecht wird. Daraus wird die Beliebtheit verständlich, die der „natürliche Handlungsbegriff“ auch heute noch genießt.

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Gleichwohl hat dieser Handlungsbegriff Schwächen, die ihn als Anknüpfungskriterium für die strafrechtssystematischen Bewertungsprädikate untauglich machen.

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Zunächst erfasst der Begriff der Willentlichkeit nicht alle Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens. So ist bei unbewusst fahrlässigen Unterlassungen ein Wille des Delinquenten nicht aufweisbar. Wenn ein Bahnbeamter eine Weichenstellung vergisst und dadurch einen Zugzusammenstoß mit vielen Toten herbeiführt, fehlt es bei der ihm vorzuwerfenden fahrlässigen Tötung an einem willensgetragenen Verhalten.

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Das bestreitet zwar Walter, wenn er sagt:[25] „… das Vergessen ist nicht Abwesenheit eines jeden Gedankens; der Täter wird schließlich nicht bewusstlos. Das Vergessen bezieht sich allein auf das Sorgfaltserfordernis und die Möglichkeit des deliktischen Erfolges. Im Übrigen ist das Bewusstsein des Täters ohne Abstriche tauglich, seinem Verhalten strafrechtliche Bedeutung zu geben.“

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Aber das überzeugt nicht. Denn erstens kann sogar das Bewusstsein fehlen, wenn etwa der Beamte sorgfaltswidrigerweise eingeschlafen ist. Zweitens ist das Bewusstsein noch keine Willensäußerung. Wenn der Beamte über irgendetwas nachsinnt und darüber das Stellen der Weiche vergisst, kommt darin kein auf einen Erfolg gerichteter Wille zum Ausdruck. Und drittens kann ein die Vergesslichkeit auslösender Wille – z.B. der Entschluss, demnächst einen Arzt aufzusuchen – auch die Prädikate der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld nicht tragen. Denn nicht dieser Wille, sondern seine Vergesslichkeit ist Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung.

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Dieser dritte Einwand gilt auch für unbewusst fahrlässige Begehungsdelikte. Wenn sich beim Gewehrreinigen unachtsamerweise ein tödlicher Schuss löst, knüpfen die strafrechtlichen Wertprädikate nicht an das willentliche Gewehrreinigen, sondern an die unwillentliche Unachtsamkeit an.

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Auch wird bei vielen Begehungsdelikten das eigentliche Handlungselement durch Reduzierung der Handlung auf „gewillkürte Körperbewegungen“ oder willentliche Kausalanstöße nicht richtig gekennzeichnet. Zwar sagt Walter:[26] „Es ist auch selbst bei einer Beleidigung nicht verkehrt, wenn man sub specie Handlung nur fragt, ob der Täter willentlich Körperkraft eingesetzt habe.“ Dass aber eine Beleidigung – etwa ein Schimpfwort – als tatbestandsmäßiger Einsatz von Körperkraft zu verstehen sei, wird einem juristisch unverbildeten Menschen nicht plausibel zu machen sein.

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Es fehlt dem Abstellen auf die lediglich faktisch-kausalen Auswirkungen des Täterverhaltens die Sinndimension, die auch der Handlungsbegriff haben muss. Schon Welzel[27] sagte im Anschluss an von Liszt mit Recht: „Gewiss kann die Handlungslehre nicht die weiteren dogmatischen Schritte überflüssig machen; wohl aber muss sie so beschaffen sein, dass sie zu ihnen ‚hinleitet‘, d.h. dass an ihren Handlungsbegriff die rechtlichen Beurteilungs- und Wertprädikate anknüpfen können.“ Das trifft beim Einsatz von Körperkraft nur auf die wenigsten Tatbestände zu.

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Dem Einwand, dass ein auf die Willentlichkeit zurückgeführter Handlungsbegriff den unbewusst fahrlässigen Delikten oder mindestens den unbewusst fahrlässigen Unterlassungen nicht gerecht werden könne, versucht eine verbreitete Meinung dadurch zu entgehen, dass sie der Beherrschung durch den Willen die „Beherrschbarkeit“ zur Seite stellt, die auch bei allen Erscheinungsformen der Fahrlässigkeit und des Unterlassens vorliegt.

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So sagt etwa Rengier,[28] Handlung setze „ein vom menschlichen Willen beherrschtes oder beherrschbares Verhalten … voraus“. Auch Beulke[29] vertritt die Auffassung – unter weiterer Hinzuziehung des noch zu erörternden Kriteriums der Sozialerheblichkeit – Handlung sei „das vom menschlichen Willen beherrschte oder beherrschbare sozialerhebliche Verhalten“.

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Aber eine solche Definition verfehlt die eigentliche Aufgabe des Handlungsbegriffs, einen einheitlichen Anknüpfungspunkt für alles deliktische Verhalten zu liefern. Die bloße „Beherrschbarkeit“ ist das Gegenteil einer tatsächlichen Beherrschung, so dass man auf diese Weise bei dem schon von Radbruch beklagten Ergebnis angelangt, „a und non-a“ unter demselben Begriff zusammenfassen zu müssen. Hinzu kommt, dass auch ein solcher Handlungsbegriff seiner Anknüpfungsfunktion dort kaum gerecht wird, wo ein strafrechtliches Verhalten, wie bei der Beleidigung, weniger auf der Beherrschung oder Beherrschbarkeit bestimmter Vorgänge als auf sozialen Bewertungen beruht.

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