Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Armin Engländer, Jan C. Joerden - Страница 60

V. Reflex- und Schockreaktionen, Automatismen, Affekttaten

Оглавление

121

Die bisher behandelten Fälle von Nichthandlungen haben die Rechtsprechung kaum beschäftigt. Der Grund liegt nicht in ihrer Seltenheit, sondern darin, dass beim evidenten Fehlen einer Persönlichkeitsäußerung strafrechtliche Ermittlungen eingestellt oder gar nicht erst aufgenommen werden. Grenzfälle, die Entscheidungen herausfordern, ergeben sich jedoch bei den hier thematisierten körperlichen Spontanreaktionen.

122

An einer Handlung fehlt es, wo ein Reflex sich ohne psychische Vermittlung unmittelbar in einen Außenwelterfolg umsetzt: „Jemand zuckt bei Berührung einer elektrischen Leitung zusammen und verletzt dadurch einen anderen.“[79] Anders ist es dagegen, wenn ein Willensimpuls zwischen den äußeren Reiz und die Reaktion des Betroffenen tritt: In einem vom OLG Hamm[80] entschiedenen Fall flog einer Autofahrerin, als sie gerade durch eine Kurve fuhr, plötzlich von draußen ein Insekt gegen das Auge. Sie machte mit der Hand eine „ruckartige Abwehrbewegung“, verlor dadurch die Kontrolle über das Fahrzeug und verursachte einen Zusammenstoß. Hier war eine Handlung zu bejahen. Denn es lag, wenn auch ohne bewusste Reflexion, eine zielgerichtete Abwehrbewegung und damit eine Persönlichkeitsäußerung vor. So hat auch das OLG Hamm entschieden. Reflexbewegungen sind also nur dann keine Handlungen, wenn „die Erregung der motorischen Nerven nicht unter seelischem Einfluss steht“.

123

Entsprechendes gilt für Schockreaktionen. Der Presse[81] ist ein Fall zu entnehmen, der dem vorbeschriebenen ähnelt, aber doch wieder anders liegt. Hier war einem Autofahrer ein Insekt unter die Sonnenbrille geflogen. Er erschrak darüber so sehr, dass er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und einigen Sachschaden verursachte. Hier wird man eine Handlung ablehnen müssen, weil die schädigenden Folgen nicht durch einen Willensimpuls vermittelt und daher nicht durch eine Persönlichkeitsäußerung herbeigeführt waren.

124

Anders ist es auch hier wieder, wenn der Schock zu einer zielgerichteten, sei es auch automatisierten Reaktion führt. Einen solchen Fall hat das OLG Frankfurt[82] entschieden: Eine mit 90 km/h fahrende Frau sah nachts auf der Autobahn plötzlich in 10–15 m Entfernung ein Tier von der Größe eines Hasen vor sich, zog den Wagen erschreckt nach links und prallte gegen die Leitplanke, wobei die Beifahrerin getötet wurde. Auch wenn man davon ausgeht, dass Ausweichmanöver als automatisierte Reaktionen weitgehend unbewusst verlaufen, so dass ein Willensentschluss zweifelhaft sein mag,[83] haben wir doch eine Persönlichkeitsäußerung und damit eine Handlung vor uns. Denn auch erlernte Handlungsdispositionen gehören zum Gefüge der Persönlichkeit. Ihre Auslösung ist deren Äußerung, unabhängig davon, ob sie in bestimmten Situationen zu nützlichen oder schädlichen Folgen führt.[84]

125

Zu den Handlungen gehören auch Affektreaktionen.[85] Das OLG Hamburg[86] hat sich mit einem Fall befasst, in dem der Täter einer Frau ein Kostüm anprobieren sollte. Dabei wurde ihre Brust entblößt, die er daraufhin mit Küssen bedeckte und durch einen Biss verletzte. Hier haben sich mehrere Instanzen mit der Frage beschäftigt, „dass es sich bei dem Biss möglicherweise nicht um eine Handlung, sondern um ein rein reflexartiges, nicht mehr bewusstes Tun gehandelt haben könnte“.

126

Man wird hier eher von einer triebhaften Affektreaktion sprechen müssen. Solche Taten beruhen kaum auf bewusster Überlegung. Das schließt aber ihre Handlungsqualität nicht aus, weil Verhaltensweisen, die der Triebbefriedigung oder, wie oft bei Tötungen in rasender Wut, der Aggressionsentladung dienen, auf eine Rechtsgutsverletzung gerichtet, also Persönlichkeitsäußerungen und keine blinden Kausalprozesse sind. Die Problematik der Affekttaten liegt im Schuld-, nicht im Handlungsbereich.

Handbuch des Strafrechts

Подняться наверх