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1. Die Entwicklung der Konzeption

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Nach der hier vertretenen Auffassung ist Grundelement des Strafrechts ein personaler Handlungsbegriff, der den strafrechtlichen Wertprädikaten im Regelfall vorgelagert und von ihnen unabhängig ist, aber zu ihnen hinleitet und sie verbindet. Die Handlung ist danach als „Persönlichkeitsäußerung“ zu verstehen. Handlung ist alles (einschließlich der Unterlassungshandlung), was sich dem seelisch-geistigen Aktionszentrum eines Menschen zuordnen lässt. Diese Konzeption beruht auf der Idee, dass der Mensch immer dann handelt, wenn er als „Person“ in einen Geschehensablauf verwickelt ist. Das gilt für alle Lebensbereiche, insbesondere aber für das Strafrecht.

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Ein solcher Handlungsbegriff wird der ihm abgeforderten „Filterfunktion“ (dazu näher Rn. 101 ff.) in besonderem Maße gerecht. Denn Wirkungen, die der geistig-seelischen Steuerung des Menschen nicht zugänglich sind, können nicht als Persönlichkeitsäußerungen angesehen und daher einem Verursacher oder Abwendungspflichtigen nicht zugerechnet werden. Das gilt für alle Lebensbereiche. Auch wo keine Folgen eintreten, fehlt es an einer Handlung.

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Der personale Handlungsbegriff erfasst andererseits problemlos alle fahrlässigen Handlungen und Unterlassungstaten. Wenn jemand unter Verletzung der Verkehrsregeln einen Unfall verursacht, liegt in der Fahrweise des Täters die Persönlichkeitsäußerung eines rücksichtslos agierenden Verkehrsteilnehmers, und wenn jemand bei einem Unfall die gebotene Hilfeleistung unterlässt, äußert sich auch darin die Persönlichkeit eines hilfsunwilligen Menschen.

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Auch unbewusst fahrlässige Unterlassungen, an denen der natürliche Handlungsbegriff scheitert, lassen sich ohne weiteres als Persönlichkeitsäußerungen verstehen. Wenn in dem oben (Rn. 37 ff.) erwähnten Beispiel ein Bahnbeamter die Weiche zu stellen vergisst und dadurch einen schweren Unfall herbeiführt, ist dies der Ausdruck einer Persönlichkeit, die mit ihren Dienstpflichten nachlässig umgeht. Dabei ist nicht etwa die strafrechtliche Relevanz für den Handlungsbegriff schon vorausgesetzt. Auch die Unaufmerksamkeit des sprichwörtlich zerstreuten Professors, die keine oder allenfalls für ihn selbst nachteilige Folgen hat, ist eine Persönlichkeitsäußerung.

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Allerdings ist der hier befürwortete Handlungsbegriff nicht ausnahmslos tatbestandsneutral. Wo bei Unterlassungsdelikten eine Handlungserwartung allein durch die Anordnung des Gesetzgebers entsteht, schafft erst der Tatbestand die Unterlassungshandlung. Wenn beispielsweise der Gesetzgeber Steuer-, Melde- oder Ablieferungspflichten aufstellt und den Verstoß gegen sie mit Strafe bedroht, lässt erst das Gesetz die Untätigkeit zu einer Unterlassungshandlung werden. Solange das Gebot nicht existiert, wäre die Vornahme der entsprechenden Handlung absurd. Ihre Unterlassung ist dann ein Nichts und keine Persönlichkeitsäußerung.

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Dieses Übergreifen des Handlungsbegriffs auf den Tatbestand gilt nur für den verhältnismäßig seltenen, auf spezielle staatliche Anordnung beschränkten Fall, dass erst das gesetzliche Gebot die Handlungserwartung schafft.

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Im Regelfall macht schon eine strafrechtsunabhängige soziale Erwartung ein Untätigbleiben zu einer Persönlichkeitsäußerung und damit zu einer Unterlassungshandlung. Wenn jemand bei einem Unglücksfall nicht hilft, ist das eine Unterlassungshandlung, weil die Hilfsbereitschaft einer sozialen Erwartung entspricht. Ob diese Handlung als tatbestandsmäßig im Sinne des § 323c StGB beurteilt werden kann, ist dann erst eine anschließende, von vielen zusätzlichen Umständen abhängige Frage. Auch wer einem anderen eine von der Verkehrssitte erwartete Begrüßung in Form eines Händedrucks verweigert, nimmt eine Unterlassungshandlung vor. Denn darin liegt eine Persönlichkeitsäußerung. Ob diese strafrechtlich als Beleidigung zu würdigen ist, wird dadurch nicht präjudiziert. Das entscheidet sich erst im Rahmen der Tatbestandsprüfung.

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Das bei einzelnen strafbewehrten staatlichen Geboten eine Unterlassungshandlung erst durch die gesetzgeberische Anordnung ermöglicht wird, ist auch kein Manko des personalen Handlungsbegriffs. Es ist vielmehr ein Vorzug, weil dadurch die Besonderheit der Deliktsstruktur verdeutlicht wird. Auch keiner der anderen Handlungsbegriffe kann hier ein vortatbestandliches Anknüpfungssubstrat aufweisen.

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Es wird außerdem die Verknüpfung von Handlung und Tatbestand durch ihre hier vorgenommene Reduzierung auf einen engen, meist nebenstrafrechtlichen Bereich begrenzt. Dadurch wird die viel zu weitgehende Annäherung der Handlung an den Tatbestand, die dem negativen und dem sozialen Handlungsbegriff anzulasten war, rückgängig gemacht. Allein auf diese Weise lassen sich die Selbstständigkeit des Handlungsbegriffs und seine Anknüpfungsfunktionen erhalten.

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Der personale Handlungsbegriff löst sich von der Fixierung auf ontische, naturalistische und deskriptive Faktoren, die den Kriterien der Kausalität, der Willkürlichkeit oder Finalität anhaftet. Diese Befreiung vom „Naturalismus“ hatte schon Eberhard Schmidt als notwendig erkannt und durch das Postulat der Sozialerheblichkeit zu erreichen versucht. Jedoch sollte die Normativierung des Handlungsbegriffs aus der Eigenart des Täterverhaltens und nicht aus davon unabhängigen sozialen Bewertungen begründet werden. Das meint auch Murmann,[49] wenn er sagt: „Die personalen Handlungslehren haben gegenüber den sozialen Handlungslehren den Vorzug, dass der soziale Sinngehalt einem Handeln nicht von außen zugeschrieben, sondern vom Handelnden selbst (mit-) begründet wird.“

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Der personale Handlungsbegriff ist zudem als Anknüpfungspunkt für alles strafrechtsrelevante Verhalten auch deshalb besser geeignet als alle anderen Handlungsbegriffe, weil er den vorstrafrechtlichen Gehalt menschlichen Handelns weitaus besser zur Geltung bringt als diese. So ist es, um auf ein oben behandeltes Beispiel zurückzugreifen, wenig prägnant, eine Beleidigungshandlung auf die Verursachung von Schallwellen, auf deren finale Überdetermination, auf den willentlichen Einsatz von Körperkraft oder ein vermeidbares Nichtvermeiden zurückzuführen. Die Bezeichnung als sozialerheblich ist zwar zutreffend, erfasst aber nicht die Täterhandlung, sondern nur deren gesellschaftliche Bewertung. Dagegen trifft es den Kern der Sache, wenn man die Beleidigung in einem von strafrechtlicher Bewertung noch freien Sinn als „Persönlichkeitsäußerung“ charakterisiert.

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