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IV. Der negative Handlungsbegriff

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In verschiedenen Varianten wird in der Literatur sodann ein „negativer“ Handlungsbegriff vertreten, demgemäß die Gemeinsamkeit aller strafrechtlich relevanten Vorgänge darin besteht, dass der Täter den Erfolg nicht vermieden hat.

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So heißt es etwa bei Kahrs:[30] „Dem Täter wird ein Erfolg zugerechnet, wenn er ihn nicht vermieden hat, obwohl er ihn vermeiden konnte und das Recht es ihm gebot.“ Herzberg[31] vertrat die Lehre: „Die Handlung des Strafrechts ist das vermeidbare Nichtvermeiden in Garantenstellung.“ Dabei ging er davon aus, dass bei Begehungsdelikten „sich in der deliktischen Körperbewegung die Person als potenzieller Gefahrenherd aktualisiert“[32] und dadurch zum Garanten wird. Schon Herzberg hat gesehen, dass echte Unterlassungsdelikte wie §§ 138, 323c StGB durch diesen Handlungsbegriff nicht zu erfassen sind, weil es an einer Garantenstellung fehlt.

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Auch Jakobs[33] hatte anfänglich die These vertreten, Verhalten sei „vermeidbare Erfolgsherbeiführung“. Behrendt[34] hat versucht, den negativen Handlungsbegriff durch ein psychoanalytisches Modell als „unterlassene Gegensteuerung“ zu deuten und als „vermeidbares Nichtvermeiden der tatbestandsmäßigen Situation“ zu verstehen.

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Aber ein solcher Handlungsbegriff ist durchschlagenden Einwendungen ausgesetzt. Erstens werden durch das Kriterium des Nichtvermeidens alle strafbaren Verhaltensweisen in Unterlassungshandlungen umgedeutet: Der Täter hat es unterlassen, den Eintritt des Erfolges zu vermeiden. Wenn man aber erkennt, dass die bei weitem größte Anzahl aller Delikte in aktivem Tun besteht, leuchtet es nicht ein, dass die strafrechtlichen Wertprädikate an ein Unterlassen anknüpfen sollen. Wenn der Mörder sein Opfer durch Messerstiche tötet, sind diese Verletzungsakte Gegenstand tatbestandsmäßiger, rechtswidriger und schuldhafter Bewertung. Dies als unterlassene Tötungsvermeidung zu beurteilen, wird dem sozialen Sinn des Geschehens nicht gerecht.

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Zweitens ist die Nichtvermeidung auch in Wahrheit kein gemeinsames Merkmal von Begehung und Unterlassung. Man kann sicher die unterlassene Abwendung eines Todeserfolges als dessen „Nichtvermeidung“ ansehen. Bei aktiven Taten aber ist das Vermeiden eine „Nichtherbeiführung des Erfolges“. Das Nichtvermeiden ist dann also die „Nicht-Nicht-Herbeiführung“ des Erfolges. Diese doppelte Verneinung hat logisch den Sinn einer Bejahung, bedeutet also: Herbeiführung des Erfolges. Durch eine solche sprachliche Umformulierung kann aber kein gemeinsames Sachkriterium gefunden werden. Puppe[35] spricht hier mit Recht von der unlösbaren Aufgabe, „non A und non non A unter einen Begriff zu bringen“.

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Drittens ist der negative Handlungsbegriff weit davon entfernt, das sachliche Substrat zu kennzeichnen, an das ggf. das Prädikat der Tatbestandsmäßigkeit angeknüpft werden kann. Vielmehr ist die Tatbestandsmäßigkeit bei dieser Charakterisierung schon vorausgesetzt. Von einem „vermeidbaren Nichtvermeiden“, einer „vermeidbaren Erfolgsherbeiführung“ oder einer „unterlassenen Gegensteuerung“ kann nur gesprochen werden, wo etwas vermieden werden soll. Das setzt ein tatbestandsmäßiges Verbot voraus.

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Wenn Kahrs[36] schon vor vielen Jahrzehnten verlangte, dass das Recht eine Erfolgsvermeidung geboten haben müsse, wenn Behrendt ein Nichtvermeiden „der tatbestandsmäßigen Situation“ fordert und wenn Herzberg[37] nunmehr seine ursprüngliche Definition dadurch verbessern will, dass er „das sorgfaltswidrige und strafrechtlich missbilligte Unterlassen“ als das allen Delikten Gemeinsame bezeichnet, so tritt in aller Klarheit hervor, dass mit diesen Charakterisierungen eine tatbestandsmäßige Handlung bezeichnet werden soll. Während aber an zusammenfassenden Charakterisierungen des tatbestandlichen Unrechts kein Mangel besteht, geht auf diese Weise die Anknüpfungsfunktion des Handlungsbegriffs gänzlich verloren.

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Viertens schließlich wird durch die Berufung auf einen negativen Handlungsbegriff verschleiert, dass es sich bei der Vermeidbarkeit keineswegs um ein handlungsbegründendes Merkmal handelt, sondern dass vielmehr die Nichtvermeidbarkeit ein Prinzip des Zurechnungsausschlusses darstellt, das auf allen Stufen des Deliktsaufbaus in spezifisch unterschiedlicher Form wiederkehrt.

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So ist es zwar zutreffend, dass Wirkungen, die keiner Willenskontrolle unterliegen (wie etwa eine durch einen epileptischen Krampfanfall verursachte Sachbeschädigung), unvermeidbar sind und der Handlungsqualität entbehren. Hier wird also die Unvermeidbarkeit der Filterfunktion des Handlungsbegriffes gerecht. Aber auf der Tatbestandsebene sind z.B. auch völlig irreguläre Kausalverläufe unvermeidbar. Das ändert aber nichts daran, dass derjenige, der einen solchen Kausalverlauf anstößt, eine Handlung vorgenommen hat (auch wenn diese Handlung nicht tatbestandsmäßig ist). Hier schließt die Unvermeidbarkeit also zwar den Tatbestand, aber nicht das Vorliegen einer Handlung aus. Unvermeidbar ist auch ein Erfolg, der durch einen Geisteskranken herbeigeführt wird oder auf einem unerkennbaren Verbotsirrtum beruht. Hier liegt aber nicht nur eine Handlung, sondern sogar eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung vor. Nur die Schuld ist ausgeschlossen.

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Der spezifische Grund der Unvermeidbarkeit, der nicht nur die strafrechtliche Zurechnung im Rahmen irgendeiner Deliktskategorie, sondern gerade die Zurechnung zur Handlung ausschließt, geht also in den negativen Handlungsbegriff nicht ein.

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