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12. Marie

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Als wir uns auf den Weg zur Schule machten, regnete es immer noch sehr stark.

»Wir haben gleich Literatur zusammen«, sagte Jacob Traum.

»Endlich!«

»Wieso?«, fragend zog er eine Augenbraue hoch.

»Sie haben doch die Arbeiten korrigiert, oder?«

»Gut möglich.«

»Und ich bin gespannt, welche Note ich bekomme.« Er nickte und lenkte seinen Wagen auf den Parkplatz. Als wir ausstiegen, liefen wir direkt ins Gebäude. Jacob hatte einen Regenschirm aufgespannt, somit blieben wir trocken. Es war mir egal, ob ich viel zu früh dran war. Draußen wollte ich definitiv nicht sein. Drinnen schloss er den nassen Regenschirm, Wasser tropfte auf den Boden, aber überall konnte man bereits feuchte Fußspuren entdecken. Er stellte ihn in einen Schirmständer, der an der Eingangstür stand. Als wir Richtung Klassenraum gingen, entdeckte ich plötzlich etwas und blieb stehen.

»Was ist?«

»Ich weiß auch nicht. Gehen Sie doch schon mal vor.«

»Du weißt, es kann gefährlich sein, nach allem, was vorgefallen ist.«

»Dann kommen Sie halt mit«, murmelte ich resigniert. Er folgte mir. Wir gingen die Stufen der Treppen nach unten. Bis wir in die unterste Etage ankamen. Ein paar Räume, dann würde der Keller kommen.

»Was ist denn los?«

»Psst«, sagte ich und legte meinen Finger auf seine Lippen. Wie weich sie waren! Ich öffnete eine Tür einen Spaltbreit und als ich mir sicher war, schob ich sie ganz auf. Es war dunkel in dem Raum. Ein Abstellraum, wie sich herausstellte.

»Hallo«, flüsterte ich. »Es ist alles in Ordnung. Maja hier, Herr Traum ist auch da. Aber er kann auch draußen bleiben, wenn es dir lieber wäre.« Ich spürte den Atem von Jacob im Nacken. Er fühlte sich warm an und roch süß.

»Maja?« Eine leise Stimme kam von ganz weit hinten.

»Ja, erinnerst du dich an mich?«

»Ja«, flüsterte ein Mädchen.

»Gut.«

»Herr Traum?«

»Hier bin ich«, sprach er leicht verwirrt.

»Was machen Sie hier?«

»Ich bin Maja gefolgt, nachdem sie sich seltsam verhalten hat. Soll ich draußen warten?«

»Nein, ist schon okay.« Ein dunkler Schatten war zu erkennen.

»Marie«, begann ich, »egal was los ist, ich kann dir helfen.«

»Kannst du nicht.«

»Doch, kann ich. Komm bitte raus. Ich mag diese Art Räume nicht. Sie bereiten mir eine Gänsehaut. Bitte, komm raus.«

»Ich habe Angst«, hauchte sie.

»Ich weiß.«

»Woher?« Ihre Stimme wurde misstrauisch.

»Sonst würdest du dich nicht hier verstecken.«

»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«

»Keine Ahnung. Intuition oder so.«

»Du bist seltsam.«

Ich musste kichern. »Da bist du nicht die Einzige, die das denkt.«

»Herr Traum sind Sie noch da?«

»Ja.«

»Der Unterricht fängt gleich an. Sie sollten hinauf gehen.« Ich sah ihn an und nickte. Kurz darauf sagte ich, er sei weg. »Wirklich?«

»Ja, wirklich. Er muss noch was für Literatur vorbereiten.«

»Wieso bist du mit ihm hier gewesen?«

Kurz erzählte ich ihr, was los war und auch, wo ich derzeit wohnte.

»Wow, wie ist das so? Läuft da was?«

»Er ist sehr nett. Aber es läuft nichts.«

»Würdest du gerne?«

Natürlich verneinte ich die Frage, aber es war gut, selbst ehrlich genug zu antworten, damit sie mir vertraute.

»Aber er sieht gut aus.«

»Sehr gut, sogar.«

»Warum dann nicht?«, wollte Marie wissen.

»Ganz einfach: Es wäre nicht richtig.«

»Wieso nicht?«, bohrte sie weiter.

»Er ist mein Lehrer. Es wäre nicht richtig. Manche Menschen kennen den Unterschied noch.« Eine Pause entstand. »Marie, komm bitte raus. Literatur ist mein Lieblingsfach, also möchte ich es nur ungern verpassen. Ich habe noch nie geschwänzt.«

»Noch nie?«

»Nein. Aber ich würde es, wenn du nicht raus kommst.«

»Warum?«

»Du darfst nicht vergessen, dass du Freunde hast.«

»Habe ich?«

»Wenigstens eine, mich.«

»Aber wir kennen uns nicht wirklich.«

»Das kann man ändern«, sprach ich behutsam.

»Wieso?«

»Zeig dich mir. Ich weiß, dir wurde etwas angetan. Aber bitte komme heraus.«

»Woher weißt du das?«, ihre Stimme war nur noch ein Schluchzen.

»Weil du dich sonst nicht verstecken würdest.« Ich hörte, wie ihre Atmung schwerer wurde.

»Also gut«, sagte sie und kam langsam aus ihrem Versteck raus.

»Was ist passiert?«, wollte ich von ihr wissen, als ich sie in die Arme nahm.

»Meine Eltern.«

»Sie haben dich geschlagen?« Sie nickte und wichte sich ihre Tränen weg. »Das ist schrecklich.«

»So kann ich nicht in den Unterricht.« Ich hatte meinen Rucksack dabei und kramte darin umher. Ich zog eine kleine Kosmetiktasche raus und nahm etwas Concealer, Make-up, Puder, und Wimperntusche und schon sah sie vollkommen okay aus - jedenfalls äußerlich. »Was ist mit meinen Haaren und meinem Oberteil?« Stimmt, es war zerrissen und die Haare standen ab. Ich holte eine Bürste raus und begann ihr Haar durchzukämmen. Anschließend gab ich ihr mein Zopfgummi, da es eigentlich gewaschen werden musste. Es war nicht fettig, aber sehr stumpf.

»Du solltest Spülung nach dem Haare waschen benutzen und ein bis zweimal wöchentlich eine Haarkur«, schlug ich vor. Als ich mir ihr T-Shirt ansah, wurde mir richtig schwindelig. Was war nur passiert? Ich zog meine Kurzarmbluse aus und reichte es ihr. Ich hatte noch ein Top darunter, also sollte das gehen.

»Danke, aber ich glaube nicht, dass es mir passen wird.«

»Probiere es.« Sie zog ihren Lumpen aus und ich sah sehr viele blaue Flecken. Als sie die Bluse zuknöpfen wollte, war es wirklich etwas eng. Ich nahm das kaputte Shirt und machte eine Art Bauchband daraus. »Darf ich?« Sie nickte. Ich knöpfte die Bluse wieder auf und band das Tuch um ihren Bauch, als sei es so gewollt. »Lass oben und unten jeweils zwei Knöpfe auf. Dann solltest du den Tag überstehen können.«

»Danke«, sie lächelte scheu.

»Leider hab ich keine Hose dabei. Aber ignoriere es einfach. Tue so, als ob es so sein soll.« Die Jeans war zerrissen. »Ich frage dich nicht, was passiert ist. Du kannst es mir erzählen, wenn du willst. Aber egal was es ist, du solltest zur Polizei gehen.« Ich begann ein wenig die blauen Stellen, die sichtbar auf ihrer Haut waren, abzuschminken. So gut es eben ging, und riet ihr, vorerst nicht in den Regen zu gehen.

»Maja, es gibt da etwas ... Aber ich kann nicht«, sie stockte und seufzte.

»Du musst es mir nicht erzählen.« Dann klingelte es.

»Wir sollten zum Unterricht.« Sie nahm meine Hand und drehte mich zu sich.

»Ich danke dir.«

»Weine nicht. Die Wimperntusche verschmiert sonst. Du kannst mit mir reden.«

»Danke.« Ich umarmte sie und wir schlüpften, mit dem zweiten Klingeln, in den Klassenraum. Herr Traum wirkte irritiert.

»Guten Morgen«, begrüßte er uns und begann seinen Unterricht.

»Ich habe eure Arbeiten über ›Bridget Jones‹ benotet. Einige von euch haben nur den Film gesehen. Ich verteile jetzt die Arbeiten und ihr werdet, wenn ich euch aufrufe, euren Aufsatz laut vorlesen.« Er verteilte alles wieder und als er bei Marie ankam, wusste er, was geschah - ich hab das Klicken förmlich gehört. Er schaute mir tief in die Augen und ich zuckte mit den Schultern. Er rief jeden Schüler einzeln auf.

»Die Frau hat mehr Sex, als Bill Clinton«, las einer laut vor. Ich musste schmunzeln. »Sie soll sich für den gutaussehenden Mann entscheiden. Ist doch egal, ob der fremd geht. Würde wahrscheinlich jeder Mann irgendwann«, endete ein Schüler seinen Aufsatz.

»Maja?« Ich drehte meine Blätter um und musste lächeln, als ich die 1 sah. »Als ich die ersten Kapitel von ›Bridget Jones‹ las, ahnte ich noch nicht, welche Auswirkungen es haben sollte. Ich kannte den Film noch nicht, muss ich gestehen, und konnte mir selbst vorstellen, wie die Figuren aussehen sollten. Dabei stellte ich mir Miss Jones gewiss nicht als zu dick vor. Sie war natürlich nicht das, was man ein Model nennen würde. Aber das spielte keine Rolle. Es ging eher darum, wie sie sich selbst sah und wahrnahm. Und wie sie glaubte, andere würden sie sehen. Besonders dieser durchaus attraktive Mann, der auch ihr Chef ist, sollte sie wahrnehmen. Während des Lesens stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass ich wie Bridget Jones war. Und genau darum geht es. Wir wollen alle einem Ideal hinterherlaufen. Während einige von uns ihre Unvollkommenheit als Ganzes betrachten und stolz sind, nicht so zu sein, wie der Durchschnitt, sind die meisten doch wie Bridget. Es ist ihnen wichtiger, was andere über sie denken, als das, was wirklich zählt. Sie brauchen die Bestätigung. Die Anerkennung. Sei es im Beruf, in der Schule, in der Liebe oder bei der Familie. Sie streben nach etwas, was sie vielleicht nicht haben können. Oder was sie auf Dauer unglücklich macht. Auch ich war wie sie. Ich wollte, dass man mich mag. Was war schon verkehrt daran? Nichts. Denn ich wollte, dass man mich so mag, wie ich nun einmal bin. Mit all meinen Fehlern. Aber eigentlich ist das kaum möglich. Ich verstellte mich. Hatte Freunde, die keine waren. Eines Tages, nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, brachte ich mein wahres Ich wieder zum Vorschein. Jemand, der verrückt genug ist, um so zu sein, wie er will. Bridget Jones ist neurotisch, zu sehr auf ihre Freunde angewiesen - die ihr allesamt scheußliche Ratschläge geben und sie ist die Unpünktlichkeit in Person. Die meisten Frauen wollen eher einen Daniel Cleaver, als einen Mark Darcy. Die Jungs eher eine Heidi Klum«, allgemeines verneinen und ich korrigierte mich: »Wäre euch der Vergleich mit Nina Dobrev, also Elena aus ›Vampire Diaries‹, als eine Bridget Jones, lieber?« Allgemeine Zustimmung. »Wer sich aber mehr mit der Person ›Darcy‹ oder ›Jones‹ beschäftigt, stellt leicht fest: Das, was im ersten Moment scheint, ist nicht immer das, was zählt. Der Kern ist das, was von Dauer hält. (Auch wenn Bridget schon sehr speziell ist). Allerdings muss ich an dieser Stelle anmerken: Mark Darcy ist einem Ideal entsprungen. Doch das ist eine andere Geschichte.« Ich stockte und sah auf. »Äh ja, ich wurde da aus dem Unterricht geholt.«

»Wolltest du noch was hinzufügen?«

»Ja, wenn ich darf?«

»Sicher.«

»Wenn man jemanden liebt, dann spielt das Aussehen kaum eine Rolle. Wir werden natürlich angezogen, von der Macht dessen, was wir sehen. Vom Ideal. Doch manche Menschen sehen jemanden und erkennen sofort ihr Inneres. Wenn ihr das nächste Mal jemanden kennen lernt, blickt in dessen Augen und ihr spürt, ob es wahr ist oder nicht.«

»Und was?«

»Die Gefühle, die durch dessen Aussehen, ausgelöst wurden.«

»Danke, Maja.«

»Was hat sie bekommen?«, wollte jemand wissen. Ich wusste nicht genau wer.

»Eine 1.«

»War ja klar. So was gefühlsduseliges.«

»Nein, sie hat genau erkannt, worum es geht.«

»Um Unvollkommenheit. Das hätte ich auch erraten können.«

»Hast du allerdings nicht«, sagte Herr Traum.

»Ich kann es aber zum zweiten Teil schreiben.«

»Falls wir eine Arbeit darüber schreiben«, konterte dieser absolut perfekte Lehrer. Ich schmunzelte. Bevor noch jemand etwas sagen konnte, bat er eine andere Schülerin, Marie, ihres vorzulesen:

»Frau trifft Mann, wird seinetwegen dünn und er betrügt sie. Mann trifft Frau, wird zunächst ignoriert und entpuppt sich später als supertoll. Was ist das Problem von Bridget? Sie hätte direkt mit Mark zusammen kommen sollen und nicht vom Aussehen des Daniels geblendet werden.« Sehr zynisch, stellte ich fest. Sagte aber nichts. Vorerst. In der Pause ging ich zu Marie und wollte mit ihr reden, aber sie blockte ab.

»Okay, dann rede wenigstens mit unserem Vertrauenslehrer«, schlug ich vor. Sie sah mich an und ich hätte schwören können, dass sie sagen wollte:

›Geh du doch zu ihm und flirte noch etwas.‹ Als es wieder klingelte, setzte ich mich auf meinen Platz.

Ich öffnete mein Notizbuch und fand eine kleine Nachricht darin:

›Rede mit ihm und hör auf dein Herz.‹

»Mir ist zu Ohren gekommen einige von euch wollen noch einmal auf Majas Aufsatz zu sprechen kommen«, begann er direkt die nächste Stunde.

»Muss das sein?«

»Ja, weil sie als Einzige darauf kam, was ich erreichen wollte.«

»Streberin.«

»Willst du was dazu sagen, Maja?«

»Ja. Ich bin gerne ein Nerd. Das ist die heutige Bezeichnung, für jemanden wie mich. Früher hätte man mich ›Freak‹ oder ›Streberin‹ genannt. Natürlich bin ich eine Streberin. Aber auf eine gesundeweise. Ich möchte etwas erreichen. Aber ich bevorzuge den Begriff Leseratte oder Nerd.« Herr Traum nickte und ich wusste, im Inneren lachte er. »Aber egal. Mir ging, als ich den Aufsatz schrieb, durch den Kopf, wie sich eine Bridget Jones, also ein Single, in der heutigen Zeit zurechtfände.« Ich blickte mich etwas um und sah viele gerunzelte Stirnfalten auf den Gesichtern der Mitschüler. Manche schienen verwirrt zu sein.

»Wie meinst du das?«, fragte unser Lehrer und ich sah wieder zu ihm.

»Nun ja, in Zeiten von Social Media wie Facebook, MySpace, Twitter und all den anderen, würde ja eine Bridget Jones durchdrehen. Sie ist quasi mit ihrem Anrufbeantworter leiert. Und das Telefon klingelt ja auch am laufenden Band. Oje, sie würde wahrscheinlich täglich 20-mal den Status irgendeines Mannes checken, nur um sicherzugehen, dass derjenige tatsächlich noch frei ist. Die Dating Welt hat sich definitiv verändert. Manchmal glaube ich, Personen zwischen 20 und 40 haben es besonders schwer. Natürlich kann ich es selbst nicht beurteilen.«

»Sprichst wohl aus Erfahrung, wa?«

»Tatsächlich hab ich auch mal tagelang den Status eines Jungen, an meiner ehemaligen Schule, beobachtet. Oder habe einem Star über Twitter geschrieben, wie toll er sei, etc.« Na ja, es wurde wieder getuschelt und gemurmelt. Aber eigentlich war mir das auch egal. Jeder, wie er es am besten findet. Nachdem die Stunde vorbei war, ging ich zu Herrn Traum.

»Was ist vorgefallen?«, fragte er ohne Umschweife. »Sie trägt deine Sachen. Schickes ›Green Day‹ Top übrigens.«

»Reden Sie bitte mit ihr«, bat ich. Er nickte und machte sich ein paar Notizen, warum, wusste ich nicht. »Aber ich wollte Ihnen noch Folgendes zeigen.« Ich reichte ihm mein Notizbuch. »Zwischen den Stunden muss es mir jemand reingeschrieben haben«, erklärte ich. Marie ging an uns vorbei.

»Kann ich mit dir reden, Marie?«

»Danke, Maja, fürs Petzen.«

»Sie hat nicht gepetzt.«

»Klar«, sagte sie und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

Mit meinen Augen signalisierte ich Jacob, er sollte trotzdem mit ihr reden und verschwand. Als ich auf dem Schulhof war, setzte ich mich unter einem Baum, die Stelle war recht trocken. Meine Beine winkelte ich an, hörte Musik und dachte über Marie nach. Kam aber zu keinem Urteil und holte ›Julia‹ hervor. Nicht mehr viel und ich hatte es durch.

»Maja?« Ich schaute auf und sah in Maries trauriges Gesicht. »Darf ich mich zu dir setzen?« Ich machte eine Kopfbewegung und sie nahm platz. »Es tut mir leid.«

»Und was?«

»Wie ich vorhin zu dir war.«

»Ist schon okay. Du dachtest, ich würde dein Vertrauen verraten. Aber das würde ich nicht machen. Herr Traum bemerkte nur, dass du meine Bluse an hast, und wollte wissen, was unten los war.«

»Das erklärte er mir.«

»Magst du mir erzählen, was vorgefallen ist?«

»Meine Eltern fanden raus, dass man mich in der Schule fertig macht. Sie konnten es nicht verstehen. Sie hörten Gerüchte über mich und fragten, ob etwas dran sei. Irgendwann, nachdem mein Vater mich mit dem Gürtel so lange geschlagen hatte, bis eine blutige Wunde entstand, gab ich nach und erzählte es ihnen. Der Gürtel war gar nichts dagegen, was als Nächstes kam. Ich hielt es nicht aus und lief weg. Ich wusste nicht wohin, wusste aber, dass die Schule noch lange offen war. Ich schlich mich hinein und versteckte mich in diesem Raum. Und dann hast du mich gefunden.«

»Hast du schon was gegessen?« Sie schüttelte den Kopf und ich holte mein Lunchpaket hervor. »Du musst etwas essen.« Sie griff nach dem Stück Apfel. Ich atmete tief durch. »Du bist nicht zu dick.«

»Ich passe nicht mal in deine Bluse«, sagte sie leicht angewidert.

»Darf ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« Sie nickte.

»Vor den Ferien hatte ich etwa 10 Kilo mehr auf den Hüften.«

»Was ist passiert?«

»Meine Großmutter starb. Meine Eltern waren nicht da und ich musste ihren Haushalt auflösen. Glaube mir, ich kann keinen Umzugskarton mehr sehen und der Mottengeruch war auch nicht sonderlich schön. Wie dem auch sei, ich war die Ferien über alleine und war nur unterwegs. Ich möchte mit niemanden tauschen. Es lohnt sich nicht. So bist du nun mal. Ich kann dir helfen, dein Gewicht vollkommen harmlos zu verlieren. Aber nur, wenn du es willst. Nicht weil andere es von dir verlangen.«

»Du meinst, so wie es meine Eltern möchten?«

»Das tut mir wirklich leid. Gerade deine Eltern sollten dich so lieben und schätzen, wie du bist. Du solltest nicht ihretwegen abnehmen.« Sie schaute traurig zum Boden.

»Du würdest mir wirklich helfen, dünner zu werden?«

»Nein, aber zu dir selbst zu finden.«

»Warum?«

»Du solltest dich selbst akzeptieren können. Mit oder ohne Traumfigur.«

»Du hast mich doch heute Morgen gesehen.« Sie wirkte so verloren.

»Ja, und ich fand es nicht schlimm.«

»Das sagst du nur so.«

»Du kennst mich nicht, um das zu wissen. Aber ich bin ein sehr ehrlicher Mensch. Ich sage nicht, dass du dünn bist. Aber auch nicht, dass du dick bist. Du bist genau dazwischen. Es gibt viele, die kein Klappergestell wollen.«

»Du bist nett.«

»Danke und jetzt iss etwas.« Sie nahm sich mein Sandwich und biss genüsslich hinein.

»Das schmeckt gut.«

»Und ist gesund. Und genau der erste Schritt für dich, um dich wohler zu fühlen. Hungere nicht. Iss, aber richtig.«

»Wie und was?«, erkundigte sie sich.

»Ich stelle dir gerne etwas zusammen.«

»Ich werde es zu Hause nicht machen können«, meinte sie traurig.

»Dann lass mich dir eine Zeitlang was mitbringen.«

»Du willst mir was zu essen mitbringen?«, stieß sie total überrascht hervor.

»Ja, warum nicht?! Es ist mehr als reichlich vorhanden und wenn du dadurch in der Schule wenigstens was isst, dann würde ich es gerne machen.«

»Danke.«

»Sehr gerne. Wirklich. Ach, und die Bluse kannst du behalten.« Sie hakte irritiert nach und schaute an sich runter. Es war eine schöne Bluse, aber nicht mein Fall. Ich wusste nicht einmal, wieso ich sie überhaupt angezogen hatte. Es war, als würde mir eine innere Stimme sagen, ich sollte es genau so machen.

»Wieso?«

»Sie steht dir besser als mir. Ich bin mit meinem Top vollkommen zufrieden und ich hab zu Hause mehr als genug.«

»Dankeschön«, sprach Marie aufrichtig. Als es klingelte, standen wir auf und ich umarmte sie. »Was du da in deinem Aufsatz geschrieben hast«, begann sie, als wir uns auf den Weg ins Gebäude machten. »Hast du das ernst gemeint?« Ich sah zu ihr. »Das wir es im Blick erkennen?«, wollte sie wissen.

»Ja. Auch wenn ›Cher‹ in ihrem Lied über das Küssen etwas anderen sang. Ja, natürlich verrät uns ein Kuss auch einiges. Aber bei einem Kuss geht es eher um die magnetische Anziehung. Beim Augenkontakt ums erste Kribbeln. Ein Blick sagt mehr, als tausend Worte.« Als wir uns darüber unterhielten, merkte ich, dass Herr Traum uns zuhörte.

»Woher weißt du so viel darüber? Hast du schon so viel Erfahrung gesammelt?« Ich spürte, wie Herr Traum aufmerksamer wurde.

»Nein. Natürlich nicht. Aber ich habe sehr viel darüber gelesen. Manches ergab Sinn, anderes war lächerlich. Ich habe für mich das Sinnvollste zusammengepackt und das ist daraus entstanden. Nicht mehr und nicht weniger.« Wir gingen in unser Klassenzimmer und hatten Mathe. Irgendwann war die Stunde vorbei und Marie kam erneut zu mir.

»Was machst du nach der Schule?« Ich wusste, Herr Traum hatte heute Elterntag.

»Wenn du magst«, schlug ich vor, »können wir uns in ein Café, um die Ecke, setzen.« Sie strahlte.

»Gerne.«

Kurz vor Geschichte sagte ich es Jacob und er war froh. So war ich nicht alleine und langsam fand ich eine Freundin.

»Ihr hattet als Aufgabe gehabt, die Präsidenten raus zu suchen, die eurer Meinung nach viel Einfluss hatten.« Ich holte meine Aufgabe raus. »Nennt mir eure Präsidenten.« Viele sagten Bill Clinton. Manche George W. Buch. Warum auch immer. Ich hob meine Hand, um meine aufzuzählen. »Bei den meisten muss ich nichts erklären, denke ich«, begann ich und erzählte, wie ich es meinte und wen ich gut gefunden habe. »Wie dem auch sei, zu guter Letzt möchte und muss ich Barack Obama erwähnen. Er ist einfach ein unglaublicher Präsident und steht für das ein, woran er glaubt.«

»Schwulen Ehen«, rief jemand.

»Und das ist auch gut so. Wenn ein Kevin Bacon seine Cousine heiraten konnte, warum dürfen dann nicht auch Frauen ihre Freundinnen ehelichen oder Männer ihren Mann?«

»Weil das nicht Normal ist.«

»Okay, lassen wir das Mal beiseite. Ich wette, die meisten Jungs sehen sehr gerne wie zwei Frauen, na, ihr wisst schon ...« Ein Raunen ging durch und einige obszöne Bemerkungen wurden gemacht. »Und worin besteht dann der Unterschied? Es tut mir leid, aber ich hab nie kapiert, wie das funktioniert.« Die Kommentare muss ich nicht wirklich hier aufzählen, die durch meine letzte Aussage kamen. »Auf der einen Seite solch eine abwehrende Reaktion und dann wiederum genau das Gegenteil. Und eigentlich ist es auch egal. Denn das gehört nicht zum Thema. Es tut mir leid, Herr Traum, denn das war unangemessen.« Er nickte. Schrieb Barack Obama auf. Am Ende der Stunde sammelte er die Hausaufgabe ein und die Schule war beendet.

»Maja?« Marie kam zu mir.

»Warte doch noch eine Sekunde, bin gleich da.«

Sie nickte und ließ uns alleine.

»Es tut mir leid, Herr Traum. Irgendwie schaffe ich es immer wieder, für Aufregung zu sorgen. Ich sagte ja bereits, mit mir hält man es nicht lange aus.«

»Schon okay. Es ist gut, wenn eine Diskussion läuft. Aber das nächste Mal vielleicht nicht ein ganz so deutliches Bild erklären, okay?« Er versuchte, streng zu klingen, aber ich erkannte ein leichtes Schmunzeln und wusste, wie er selbst zu diesem Thema stand.

»Natürlich. Tut mir leid.«

»Der Elternabend wird eine Weile dauern.«

»Okay. Ich bin in der Nähe.«

»Viel Spaß.« Vor der Tür traf ich Marie.

»Bist du soweit?«, fragte ich sie und kannte natürlich die Antwort.

»Wie sehe ich aus?«, erkundigte sie sich und ich schaute in ihr Gesicht. Die blauen Flecken schimmerten wieder hervor.

»Warte mal kurz«, bat ich sie und ging zurück. Fragte Jacob, ob er mir den Wohnungsschlüssel geben könnte.

»Ja, ich sollte dir mal endlich einen Nachmachen lassen, oder?«

»Das ist es nicht. Marie sollte sich umziehen und ich glaube, duschen wäre auch ganz praktisch.«

»Du bist wirklich lieb.«

»Ich versuche, nur zu helfen.« Er reichte mir den Haustürschlüssel und ich versprach rechtzeitig wieder hier zu sein.

»Keine Eile, wie gesagt, es kann ziemlich spät heute werden.«

»Ich kann auch zu Hause warten, Molly ist ja da.« Er dachte kurz nach und nickte.

»Okay, du kommst jetzt erst mal mit zu mir.«

»Wirklich?«

»Ja, nein, eigentlich ist es ja Herr Traums Wohnung, aber da ich da wohne, kommt es aufs Gleiche raus.«

Langsam schloss die Tür auf und Molly kam uns entgegen. »Marie, darf ich dir Molly vorstellen?«

»Wow.«

»Ja, das war auch mein erster Gedanke bei ihr«, kicherte ich. »Okay, also du wirst erst einmal duschen. Das wird dir guttun und in der Zwischenzeit suche ich dir was zum Anziehen raus.«

»Danke.«

Ich bereitete im Bad alles vor und machte das Radio an. »Lass dir ruhig Zeit.« Sie lächelte und schlüpfte ins Bad. Ich suchte ihr ein T-Shirt raus, welches etwas weiter war und noch eine etwas ältere Jeans, die ich aufbewahrte. Als die Dusche wieder ausging, fragte ich, ob ich kurz reinkommen könnte. Vorsichtig reichte ich ihr die Klamotten. »Brauchst du noch irgendwas?« Sie war in ein Handtuch gewickelt.

»Unterwäsche?«, sie klang sehr verschüchtert. Ich hob das T-Shirt und da lag es. »Danke.«

»Gerne. Du kannst dich bedienen. Und wenn du willst, kann ich dich wieder etwas schminken. Bodylotion und alles, was du eventuell benötigst, findest du im Spiegelschrank.« Sie sah mich an und erinnerte an einen kleinen Welpen. Ich nickte und verschwand wieder. Als sie die Tür öffnete, wirkte sie wie ein neuer Mensch. »Das passt ja alles«, quietschte sie entzückt.

»Ja, ich hab ein gutes Augenmaß. Ich würde dir die Klamotten gerne schenken.«

»Wow, danke.«

»Wenn ich dir sage, dass du oft etwas zu altmodisch rum läufst, meine ich das nicht böse. Aber du brauchst Farbe an dir.« Sie lächelte dankend. Mit einer Bürste begann ich schließlich ihr Haar zu bearbeiten. Bis es locker auf ihre Schulter fiel. Sie hatte sich die Haare etwas geföhnt, der Rest würde durch die Sonne trocknen. »Okay, heute Morgen musste ich improvisieren. Aber ich hatte eben genug Zeit gehabt, um mir ein Make-up für dich auszudenken. Wenn du mich lässt?« Sie lächelte und ich machte mich ans Werk, die Grundierung auf zu tragen. Sie trug eine stonewashed Bluejeans, dazu ein lila T-Shirt mit einem Frosch drauf. Also wählte ich rosa Lidschatten, der ins lila überging. Etwas Kajal und Wimperntusche und sie sah frisch aus. Ich drehte sie zum Spiegel und sie konnte kaum glauben, was sie da sah. »Du bist nicht hässlich. Und ich hoffe, du erkennst es auch endlich an.« Sie wirkte verlegen. »Lass uns raus gehen.« Ich selbst war kurz im Bad von Herrn Traum. Aber umziehen brauchte ich mich nicht. Wir setzten uns in ein Café, welches nicht weit von der Schule war. Ich schaute in die Karte und als die Kellnerin kam, bestellte ich - zum Kaffee - noch ein paar Kekse. Als sie unsere Bestellung brachte, schob ich den Teller mit dem Gebäck zu Marie. Nahm mir aber selbst auch einen. »Du brauchst das auch ab und zu. Es ist wichtig, damit dein Blutzucker oben bleibt.« Sie nahm sich einen und biss rein. Zuerst zaghaft, doch dann nahm sie Geschmack. Als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Und vielleicht war es das ja auch - abgesehen vom Sandwich vor wenigen Stunden.

Als wir unsren Kaffee tranken, spürte ich, wie sie etwas sagen wollte, es sich aber nicht traute.

»Marie«, begann ich, »du kannst mir vertrauen. Wenn du darüber reden willst, was dir deine Eltern antaten, dann kannst du es mir sagen.«

Sie überlegte.

»Du hast die Blessuren gesehen.« Ich nickte und tätschelte ihren Arm.

»Was war es für ein Gerücht, welches sie so verstörte?«

»Sie hörten, ich sei lesbisch.« Das dachte ich mir schon.

»Und sie haben so reagiert?«, ich war entsetzt. Sie nickte traurig. »Das ist nicht fair«, fügte ich hinzu. »Es gibt nichts, was ich jetzt sagen könnte, damit du dich besser fühlst. Gibt es Verwandte, die du besuchen könntest?«

»Meine Schwester wohnt nicht weit weg.«

»Würdest du zu ihr gehen? Du musst dringend von deinen Eltern weg.«

»Ich könnte sie anrufen.« Ich wartete, während sie sprach. »Heute Abend kann ich zu ihr. Ich müsste zu mir, um ein paar Sachen zu packen.«

»Ich helfe dir.« Marie bedankte sich und wirkte noch immer so verloren. Ich bezahlte und wir gingen zu ihr. Ihre Eltern waren nicht da. Was gut war, denn sonst hätte ich vielleicht etwas gesagt, was ich bereuen würde. Als wir in ihr Zimmer ankamen, schaute ich mich etwas um. »Du hast es schön hier«, bemerkte ich und setzte mich auf ihr Bett. Als sie fertig packte, gesellte sie sich zu mir. »Ich hab grade nachgeschaut, wann der nächste Bus fährt«, erklärte ich ihr, als ich mein Smartphone weglegte. »Ich kann dich in anderthalb Stunden hin begleiten.«

»Danke.«

»Kein Thema. Wie geht es dir eigentlich?«

»Dank dir, besser«, sie lächelte.

»Schön.«

»Hast du eigentlich kein Problem damit, was ich dir erzählt habe?«

»Ich habe ein Problem damit, wie dich deine Eltern behandelt haben und es macht mich wütend. Aber nein, damit hab ich kein Problem. Ich bin sogar froh, dass du es aussprechen konntest.«

»Wieso?«

»Weil nicht viele den Mut haben es, zu riskieren.«

Sie nickte. Und wurde plötzlich sehr traurig. Ich nahm ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, deine Eltern werden darüber wegkommen und sie werden sich selbst hassen, für das, was sie dir antaten.«

»Glaubst du das wirklich?« Ich nickte. »Und was, wenn nicht?«

»Sobald sie dein Verschwinden bemerken, werden sie es einsehen. Ihre Reaktion war absolut falsch. Du kannst sie anzeigen, weißt du. Du kannst dafür sorgen, dass sie es nicht noch mal machen.«

»Es war das erste Mal.«

»Es war immer das erste Mal«, sagte ich leise.

»Wie meinst du das?«

»Niemand hat das Recht, seine Kinder zu schlagen oder irgendjemandem Gewalt anzutun.« Während ich das sagte, wusste ich, ihre Mutter hörte zu. Ich hatte ihre Schritte gehört und fügte, etwas lauter hinzu: »Du hast ein Recht zu lieben, wen du willst. Du hast ein Recht darauf, geliebt zu werden. Es spielt keine Rolle, ob du - glaubst - zu dick zu sein. Es spielt auch keine Rolle, ob du lesbisch bist oder nicht. Du musst dich akzeptieren. Du bist so, wie du bist. Nur das zählt. Lass dir, besonders von deinen Eltern, nicht einreden, es nicht wert zu sein geliebt zu werden. Das bist du. Denn nur der, der liebe erfährt, kann sie auch zurückgeben und nur der, der sich selbst mag, kann einsehen, gemocht zu werden.«

Sie nickte und wir sahen einander in die Augen. »Guten Tag, Frau Bertel!«, sagte ich zur Tür. Sie trat reumütig ins Zimmer.

»Hallo, und du bist?«

»Maja Stark. Eine Klassenkameradin und gute Freundin von Marie.«

»Freut mich. Was hast du denn da an, Marie?«, das klang nicht wirklich als Frage, eher als: Du siehst wie ein Clown aus.

»Darf ich Sie mal unter vier Augen sprechen?« Marie und auch ihre Mutter wirkten verwirrt. Ich stand einfach auf und schloss die Tür hinter mir. »Ihre Tochter hat mir alles erklärt.«

»Und jetzt willst du sie vereidigen?«

»Wenn es sein muss. Aber eigentlich wollte ich Sie nur an den Elternabend erinnern. Sie sollten hingehen. Und Sie sollten unbedingt mit jemanden darüber reden, weshalb Sie Marie das antaten.«

»Was bildest du dir ein?« Ich wette, am liebsten hätte sie mich geohrfeigt.

»Denken Sie von mir, was Sie möchten. Aber im Gegensatz zu Ihrer Tochter, weiß ich, wer ich bin.«

»Verlass sofort mein Haus«, sagte sie mit Nachdruck und funkelte mich an.

»Ja, ich hatte eh vor Marie zum Bus zu bringen.«

»Bus?« Sie wurde blass.

»Sie wird für eine Weile zu ihrer Schwester fahren. Sie sollten in die Schule gehen und besonders mit Herrn Traum reden.« Ich ließ sie nicht antworten, sondern öffnete die Tür. »Bist du soweit?« Sie nickte. »Ah, warte kurz.« Ich hatte bei ihr ein Buch gesehen, welches sie mitnehmen sollte.

»Oh, danke. Hätte ich fast vergessen.«

»Marie, was hat das zu bedeuten?«

»Ich besuche Tanja ein paar Tage.«

»Das erlaube ich nicht«, sagte Frau Bertel stinkig.

»Ist mir aber egal.«

»Du solltest so nicht rausgehen«, sagte ihre Mutter. »Du siehst aus wie eine ...«, sie brach ab, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.

»Tja, die Sachen hat sie von mir«, sagte ich und ging die Treppen hinunter.

»Du kannst nicht mit diesem Mädchen befreundet sein.«

»Warum nicht? Wenigstens hält sie zu mir.«

»Sie ist ein schlechter Umgang und ruinierst dir dein Leben!« Ich musste laut lachen. Marie kam hinuntergelaufen und wir verließen das Haus, ihre Tasche in der Hand.

»Wir haben noch über eine Stunde Zeit. Wollen wir noch etwas spazieren gehen? Ich würde Molly abholen.« Marie nickte.

Wir gingen mit Molly durch den Park.

»Danke«, brach sie das Schweigen.

»Nein, nicht dafür. Du bist stärker, als du glaubst. Du kannst deinen Eltern widersprechen. Du musst nicht immer das machen, was sie von dir wollen. Du darfst Fehler begehen und daraus lernen. Du bist keine Marionette und wenn du Hunger hast, dann iss bitte auch etwas.« Sie ließ sich auf eine Bank nieder und ich setzte mich zu ihr. Molly an der Leine. Sie sah zufrieden aus. Ich hatte in einer Tasche ein paar Leckerlis und etwas Flüssigkeit eingepackt und eine kleine Schüssel. »Und die Klamotten stehen dir.« Sie sah mich an.

»Du hast so unglaubliche Augen, Maja«, sagte sie und beugte sich zu mir. Sie küsste mich. Ich wollte sie nicht verletzen, musste aber zurückweichen. »Ach du scheiße«, stammelte sie. »Du bist nicht ...?« Ich schüttelte meinen Kopf. Sie stand auf und wollte weglaufen.

»Warte.« Molly und ich liefen ihr nach. Ich packte ihren Arm und drehte sie rum. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Es tut mir leid.«

»Muss es nicht.« Sie drehte sich weg. »Es ist okay, wirklich.«

»Ich dachte nur, ...« Oh, nein. Sie wirkte noch verlorener.

»Ich weiß und ich muss mich bei dir entschuldigen.«

»Wieso?«

»Ich muss dir irgendwas signalisiert haben. Es tut mir leid, falls ich einen falschen Eindruck hinterließ.«

»Du hast dich so dafür eingesetzt«, sagte sie verzweifelt.

»Wenn es so wäre, würde ich es dir sagen. Wirklich. Du bist ein hübsches Mädchen. Aber ich stehe nun mal auf Jungs. Und ich kann meine Gefühle genauso wenig ignorieren, wie du deine. Darf ich dir eine Frage stellen?« Sie nickte. »Hattest du schon einmal eine Freundin oder jemanden geküsst?« Sie schüttelte ihren Kopf. Oh, nein. Das war ihr erster Kuss. »Es tut mir leid. Wenn das dein erster Kuss war, dann hab ich ihn dir vermasselt. Du wirst dich auf ewig an diesen Moment erinnern, ob du es willst oder nicht.«

»Wurdest du schon geküsst?«

»Letztes Schuljahr. Von einem Jungen namens Toby, er war süß und der Bruder einer Freundin von mir. Ich übernachtete bei ihr und er war auch da. Wir hatten uns schon oft unterhalten und ich war ein wenig in ihn verknallt. Meine Freundin war gerade nicht da und er kam zu mir und wir küssten uns einfach. Wir kamen danach nicht zusammen. Wir entschieden es beide. Es war aber ein schöner Kuss.« Ich erzählte ihr nicht, dass Toby etwas später starb. Das musste sie nicht wissen.

»Das klingt gut.« Als wir so dastanden, wurde mir bewusst, dass ich es ihr schuldig war. Ich vergewisserte mich, dass keiner in der Nähe war. Wir standen etwas abseits, hinter einigen Bäumen. Sie wirkte irritiert, als sie mir in die Augen sah. Mein Kopf fühlte sich plötzlich so leer an, aber ich wollte nicht, dass sie sich von mir abwendet. Ich atmete tief durch, leckte kurz über meine Lippen und küsste sie.

»Dein erster Kuss sollte nicht mit Schuldgefühlen in Verbindung stehen.«

»Aber, ...«

»Nach wie vor stehe ich auf Jungs. Interpretiere also nichts hinein. Du sollst nicht traurig daran denken. Behalte dies als deinen ersten Kuss in Erinnerung.«

»Wieso hast du das gemacht?«, wollte sie wissen und fasste sich an ihre roten Lippen. Auch meine pochten etwas.

»Weil ich weiß, wie es ist, wenn die Gefühle nicht erwidert werden. Es war meine Art, dir zu sagen: Geh hinaus, dort wirst du dein Glück finden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Doch, tust du.«

»Du bist nicht lesbisch«, stellte sie fest. »Wolltest aber, dass ich an meinen ersten Kuss nicht mit einem schlechten Gewissen denke?« Sie sah verständnisvoll aus.

»Sollte ich dir versehentlich Hoffnungen gemach haben, entschuldige ich mich bei dir. Das wollte ich nicht.«

»Und deshalb hast du mich geküsst?«

»Ich würde gerne weiterhin mit dir befreundet sein. Nicht mehr und auch nicht weniger.«

»Du bist in jemanden verliebt«, entschied sie.

»Ja«, sagte ich traurig und konnte es nicht länger verleugnen. Die Gefühle überrannten mich.

»Mein Bus kommt gleich.« Erneut kamen die Tränen.

»Weine nicht, bitte. Es ist okay. Wirklich. Nur sollte der erste Kuss etwas ganz Besonderes sein. Meiner war es. Ich hätte ihn mir nicht schöner vorstellen können.«

»Wirklich?«

»Ja. Weil wir beide Gefühle für einander hatten. Auch wenn wir hinterher nicht zusammen waren, waren wir weiterhin Freunde.«

»Und das geht?« Nickend bestätigte ich es. Nein, sie musste nicht die ganze Wahrheit erfahren. Wir standen nun an der Bushaltestelle.

»Wirst du wieder zurückkommen?«, fragte ich sie.

»Kann ich nicht sagen«, gestand sie.

»Ich würde mich sehr freuen.« Sie lächelte. Dann zog ich ein kleines Kuscheltier aus der Tasche und reichte es ihr, zusammen mit einem Ernährungsplan, den ich während des Unterrichts anfertigte. »Du bist nicht alleine. Wir alle kämpfen gegen etwas an. Wenn du am Montag wieder im Klassenraum sein solltest, dann würde ich mich freuen. Ich würde deine Eltern anzeigen. Vielleicht mache ich es auch.«

»Nein, tue es nicht« , flehte sie.

»Pass auf dich auf, Marie.« Sie stieg in den Bus, als dieser anhielt, lächelte und winkte. Ich wartete solange, bis er wegfuhr. Dann ging ich, mit einem seltsamen Gefühl, zum Schulhof. Molly und ich warteten auf Jacob.

Das magische Armband

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