Читать книгу Das magische Armband - Janine Zachariae - Страница 20

13. Unerwartet

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Wir spielten gerade Ball, als Frau Bertel aus dem Gebäude kam. Sie wirkte verärgert. Als sie mich sah, kam sie direkt zu mir.

»Wie konntest du es wagen!«

»Sie haben ein Problem, nicht ich.«

»Doch, hast du! Du bist gestört!«

»Hören Sie, Frau Bertel, Sie haben eine wirkliche tolle Tochter. Sie sollten sie nicht nach dem Beurteilen, was sie ist.«

»Sag mir nicht, wie ich meine Tochter zu behandeln habe.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wir sollen einen Elternkurs belegen und zusammen zu einem Psychologen.«

»Das ist eine tolle Idee.« Sie sah aus, als würde sie mich jeden Augenblick erwürgen. »Ihre Tochter ist durcheinander. Sie sollten sie für einige Tage in Ruhe lassen. Und dann mit ihr Reden.«

»Den Teufel werde ich ...«

»Lassen Sie ihn doch da raus, der kann nichts dafür«, meinte ich genervt. »In einigen Tagen wird sich die Stimmung beruhigt haben und Sie können in Ruhe über alles reden, da Sie genug Zeit hatten, um darüber nachzudenken.«

»Bist du mit meiner Tochter zusammen?«

»Nein. Ich bin nicht lesbisch. Es gibt allerdings eine Menge Mädchen, die gerne mit jemanden wie Marie zusammen sein würden.«

»Treib es nicht zu weit.« Ihre Augen funkelten mich an.

»Sie sollten zu Ihrem Mann gehen und ein paar Tage all das machen, was Sie seit Jahren schon machen wollten, es aber nicht konnten. Gehen Sie und amüsieren Sie sich. Marie geht es gut. Sie wird sich schon wieder fangen. Da bin ich mir sicher. Denn, auch wenn Sie es nicht hören wollen, sie ist ein tolles Mädchen. Seien Sie für sie da, wenn sie Sie braucht.«

»Warum trug sie eigentlich deine Klamotten?«, erkundigte sie sich schroff.

»Weil ich sie ihr gab. Herr Traum hat Ihnen hoffentlich erzählt, wie wir sie heute Morgen fanden. Marie würde alles machen, nur um Ihren Erwartungen gerecht zu bleiben. Aber Sie sollten es nicht von ihr verlangen.« Damit wandte ich mich wieder Molly zu. »Eins noch, Frau Bertel, seien Sie stolz auf Ihre Tochter. Sie hatte sich getraut, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«

Ich sah sie nicht an und wusste nicht, wie sie darauf reagieren würde. Alles, was ich hörte, waren ihre Absätze, die sich entfernten. Irgendwann setzte ich mich auf eine Mauer, vor dem Gebäude. Molly lag neben mir auf dem Boden. Sie hatte genug getobt. Und ich musste mit meinen Gedanken zurechtkommen. Ich merkte nicht mal, wie es anfing zu regnen. Erst als jemand mich an meiner Schulter berührte, schaute ich auf.

»Oh, Hallo, Herr Traum.« Er lächelte. Wir waren immer noch auf dem Schulhof, also nannte ich ihn Herrn Traum.

»Hallo, Maja.« Er beugte sich runter und begrüßte seine Hündin. »Alles klar?« Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich würde Sie gerne zum Essen einladen.«

Er wirkte überrascht. »Sehr gerne.«

»Wir sollten uns umziehen«, schlug ich vor. Er nickte und wir fuhren zurück. Molly ließ die Zunge aus dem Fenster hängen, wahrscheinlich um die Regentropfen aufzufangen.

Ich ging in mein Zimmer und zog mich um, meine Tür hatte ich leicht angelehnt. Jacob stand davor und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er stieß die Tür auf, ich war mit dem Rücken zu ihm gedreht und streifte gerade eine Bluse über und knöpfte sie zu.

»Tut mir leid«, stammelte er. Ich drehte mich um.

»Nicht nötig.« Ich schlich mich an ihm vorbei ins Badezimmer und öffnete die Tür, als ich gerade meine Haare machte. Zaghaft lächelte ich ihn an, weil er nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.

»Nein, keine Sorge. Es wird kein Date, oder so was«, erklärte ich, als ich seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Aber ich würde gerne einen netten Abend in einem Restaurant verbringen.« Dann sah ich ihn an und fragte zögernd: »Es sei denn, Sie haben etwas vor?«

»Ja«, sagte er und fügte lachend hinzu: »Mit dir Essen zu gehen.« Ich hatte gerade mit meinem Lipgloss Farbe auf die Lippen gezaubert und stockte für den Bruchteil einer Sekunde.

»Okay, ich wäre dann soweit.« Er huschte noch einmal in sein Zimmer und kam kurz darauf zurück, während ich dabei war, meine Schuhe anzuziehen. Ich blickte hinauf und konnte kaum glauben, was ich da sah.

»Mmh?«

»Sie sehen gut aus«, stellte ich fest.

»Du auch.«

›Es ist kein Date, es ist kein Date, es ist kein Date, es ist kein Date. Es ist kein Date, es ist kein Date, es ist kein Date‹, sagte ich mir immer wieder.

Glaubte es aber nicht mehr. Ich musste tierisch errötet sein, denn er zwinkerte mir zu. Oje. Das war keine so gute Idee. Aber ich brauchte das. Und ich wusste, es würde ihm auch guttun. Wir gingen nach draußen und sogen die frische Luft ein. Er hielt mir seinen Arm hin und ich hakte mich unter.

»Danke.«

»Für was, Maja?«

»Hierfür. Ich weiß, es ist unangebracht.«

»Schon okay.«

Wir fuhren in eine andere Stadt. Und bekamen einen schönen Tisch am Fenster mit einem tollen Blick auf die Skyline. Wir saßen in einem asiatischen Restaurant und bestellten eine Sushi-Platte für zwei, dazu alkoholfreie Cocktails. Wir sagten nichts, bis das Essen da war. Jacob wirkte etwas irritiert und ich selbst musste auch meine Gedanken sortieren.

»Marie hat mich geküsst«, gestand ich, als Jacob gerade etwas mit den Stäbchen packen wollte. Er hätte sich fast verschluckt. »Ich wich zurück. Vielleicht nicht sofort, aber ich tat es. Als ich ihren Gesichtsausdruck sah, war ich von mir selbst enttäuscht.«

»Wie meinst du das?«

»Da rede ich so viel über Toleranz und reagiere dann so. Als sie mir sagte, dass dies ihr erster Kuss war, kam ich mir wirklich blöd vor.« Ich beobachtete Jacob. Er nahm sich erneut ein Stück Sushi und dieses Mal wartete ich. »Ich wollte sie nicht verletzen. Das wäre das Letzte, was sie gebraucht hätte. Ich sagte ihr, ich sei nicht lesbisch und das ich definitiv auf Jungs bzw. Männern stehe. Nichtsdestotrotz sollte sie ihren ersten Kuss nicht so in Erinnerung behalten. Es wäre nicht schön. Und so küsste ich sie.« Jacob wäre fast vom Stuhl gefallen.

»Was?«

»Ich vergewisserte mich, das niemand in der Nähe war. Und nun frage ich mich, ob es richtig war.«

»Bist du denn jetzt irgendwie verwirrt?« Ich lächelte.

»Nein. Im Gegenteil. Mir sind mehrere Sachen durch den Kopf geschossen. Ich weiß schon sehr lange was ich will und in wen ich mich verlieben würde. Ich hatte es schon vor einer Weile gespürt. Ich dachte, ich würde ihr damit einen Gefallen tun. Dabei glaube ich, es nur noch schlimmer gemacht zu haben. Als ich sie küsste, kam eine Welle der Traurigkeit zu mir. Traurigkeit, die so überwältigend war, dass ich erst einmal mit Molly toben musste, um wieder klar denken zu können. Es war wie eine Last. So viele Emotionen, die plötzlich ans Licht traten. Sie kamen nicht von mir, dessen bin ich mir bewusst. Ich glaube, sie waren von Marie. Als ob sich irgendwas von ihr löste. Glauben Sie, sie wird verstehen, warum ich es tat? Warum ich nicht wollte, dass sie sich so mies fühlte?«

»Wow.« Ich schaute in seine unglaublich, unglaublich goldenen Augen. »Was genau hast du gespürt, als du sie geküsst hast?«

»Neben dieser Traurigkeit? Ich fühlte mich glücklich. Weil mir klar wurde, meine Gefühle, zu dieser Person, sind aufrichtig. Ohne Wenn und Aber. Ich spürte, wieso ich sie glücklich sehen wollte. Sie wirkte selbst erleichtert. Fast so, als ob sie die Bestätigung brauchte. Die Anerkennung. Ich wollte nicht, dass sie sich falsche Hoffnungen macht. Das sagte ich ihr auch. Ich bot ihr meine Freundschaft an.

Eins kann ich allerdings mit Gewissheit sagen, wenn ich auf Frauen stünde, hätte ich sie nicht in den Bus steigen lassen. Jede Frau kann sich glücklich schätzen sie zu haben.« Ich hielt inne, um seine Reaktion zu studieren. Sie waren offen und herzlich. »War das falsch von mir?« Ich brauchte seinen Rat. Es war verwirrend.

»Damit ich das richtig verstehe: Sie küsst dich, du weichst zurück. Fühlst dich schlecht deshalb, weil es ihr erster Kuss war. Du stehst auf Männer, bist in jemanden verliebt und hast ein schlechtes Gewissen, weil du so reagiert hast. Du küsst sie, stellst aber sicher, es war nur eine Art Gefälligkeit?«

»Sie würden es als Gefälligkeit bezeichnen?« Das machte mich traurig.

»Als was denn sonst?« Ich zuckte mit den Schultern und lehnte mich auf meinen Stuhl zurück.

»Ich hab ihr meine Handynummer gegeben. Sie soll sich melden, wenn sie ankommt und sie weiß, wie es weiter geht.« Er nickte.

»Sie hatte heute deine Bluse an«, stellte er fest.

»Ihre Kleidung war zerrissen, schmutzig. Sie verbrachte die ganze Nacht in diesem komischen Raum. Unheimlich. Sie war fertig.«

»Sie sah frisch aus.«

»Ich hab sie etwas bearbeitet. Ich gab ihr meine Bluse, die ein wenig eng saß, und hab ihr T-Shirt irgendwie so drapiert, dass es einigermaßen passend wirkte. Ich hatte Make-up dabei und das half. Wir sind dann in unsere«, ich stockte und fragte, ob ich ›unsere Wohnung‹ sagen darf. »Klingt das nicht aufdringlich oder seltsam?«

»Du wohnst bei mir. Also ist es unsere Wohnung.«

»Wir sind also in unsere Wohnung gegangen. Sie sollte erst einmal duschen. Sie stank nicht oder so. Aber - so geht es mir jedenfalls - man fühlt sich hinterher immer besser. Ich suchte ihr ein paar Jeans und ein T-Shirt raus und gab es ihr. Zufällig hatte ich noch was in ihrer Größe da gehabt. Anschließend sind wir in ein Café gegangen.« Ich erzählte Jacob, wie es weiter ging und er hörte zu. »Ihre Mutter war bei Ihnen, oder?«, fragte ich, nachdem ich alles losgeworden bin.

»Ja, war sie und sie zog über dich her.« Ich lächelte und schnappte mir das letzte Stück Sushi.

»Oh ja, ich weiß. Ich bin ein unglaublich schlechter Umgang.« Er nickte. »Und«, fügte ich hinzu und beugte mich über den Tisch und flüsterte: »Sie betitelte mich als Schlampe.«

»Im Ernst?«

»Ja, wegen meiner Kleidung und weil ich mich so für Marie einsetze.«

»So etwas sagte sie auch. Ich empfahl ihnen, einen Elternkurs zu absolvieren und zum Familientherapeuten zu gehen.«

»Noch Nachtisch?«, fragte ich Jacob und wechselte das Thema, für den Moment.

»Such du was aus.« Die Kellnerin nahm meine Bestellung entgegen und verschwand wieder.

»Interessant.«

»Sie werden es mögen«, sagte ich vielversprechend.

»Wieso glaubst du das?«

»Vertrauen Sie mir.«

»Das tue ich.« Eigentlich war es auf das Essen gerichtet, aber so wie er es sagte, verallgemeinerte er es. »Verrätst du mir, in wen du verliebt bist?«

»Das muss ich nicht.« Er zog seine Augenbrauen hoch, schwieg aber. Als wir unseren Nachtisch hatten, sah er skeptisch auf seinen Teller. »Sie werden es mögen.« Er nahm einen Löffel voll und es schien ihm wirklich zu schmecken.

»Wieso kannst du so gut die Menschen einschätzen?«

»Ich beobachte«, sagte ich und musste an Jack denken, der genau dasselbe gesagt hatte.

»Faszinierend«, murmelte er.

»Wissen Sie, die meisten sind sehr leicht zu durchschauen. Ich wusste, Marie ist lesbisch, noch bevor sie es mir sagte. Und doch übersah ich dieses entscheidende Detail. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, sie würde mich küssen wollen. Nie.«

»Das ist interessant. Du kannst alle und jeden einschätzen, nur wenn es um dich geht, kannst du es nicht.«

»Scheint so.« So hab ich das noch nie gesehen. Erneut sahen wir einander in die Augen.

»Warum willst du dir nicht eingestehen, was du selbst empfindest?«

»Das geht nicht.« Jacob Traum hakte nach. »Es geht einfach nicht.« Sein Blick ruhte weiterhin auf mir. Schüchtern sah ich weg. Mein Herz raste. Meine Hand lag auf dem Tisch und er berührte sie. Dabei durchströmten eine Million Blitze durch mich hindurch. »Wir sollten langsam aufbrechen«, schlug ich vor. Er nickte und war gerade im Begriff seine Brieftasche zu holen, als ich meine Hand hob. »Ich habe Sie eingeladen, schon vergessen?!« Dieser Ausdruck auf seinen Lippen, in seinem Gesicht war unbeschreiblich. Ich zahlte und gab großzügig Trinkgeld. Wir fuhren gedankenverloren zurück. Als wir in die Wohnung kamen, begrüßte uns eine müde Molly.

Ich selbst war noch weit entfernt müde zu sein. Und ich glaubte, Jacob ging es ähnlich.

»Magst du vielleicht noch einen Film sehen?«

»Klar, warum nicht?! Aber ich würde mich gerne umziehen.«

»Dito.« Wir schwirrten also in unsere Zimmer und zogen uns um. Wir kamen etwa zeitgleich ins Wohnzimmer. »Willst du einen Film aussuchen?«, schlug er vor. Ich trug bereits mein Nachtzeug, aber es war auch schon nach 22 Uhr. Ich holte eine DVD hinter meinem Rücken hervor und legte sie in den Player.

»Geliebte Jane«, erklärte ich ihm. Irgendwann mitten im Film drückte er plötzlich Pause.

»War das ein Date?«, wollte er wissen.

»Keine Ahnung. Sie haben mehr Erfahrung darin, als ich.«

»Es fühlte sich so an.«

»Tut mir leid«, sagte ich verlegen und spürte die Röte in mir aufsteigen.

»Ist schon okay. Es fühlte sich gut an.«

»Das geht nicht«, flüsterte ich.

»Warum nicht?«

»Sie sind mein Lehrer. Sie sind meine einzige Bezugsperson. Sie sind alles, was ich hier habe.«

»Vielleicht ist es ein Zeichen?«

»Lassen Sie uns den Film weiter gucken.« Er nickte und ich spürte, wie er sich bekloppt vorkam. Es war ihm unangenehm. Fast, als glaubte er, mich bedrängt zu haben. »Jacob, Sie brauchen sich nicht schlecht fühlen. Sie haben mich nicht bedrängt.«

»Bin ich es?«

»Sind Sie was?« Er schaute mir in die Augen. Sie wirkten plötzlich so verloren. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich wusste, er würde mir nie etwas antun.

»Sie brauchen keine Bedenken zu haben, ich könnte einen auf Lolita machen. Ich mochte nicht mal ›American Beauty‹.«

»Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich hoffe, du hast jetzt keine Angst vor mir.«

»Ganz und gar nicht. Noch nie habe ich jemandem so vertraut, wie Ihnen. Ich weiß, Sie würden es niemals ausnutzen.«

»Bin ich es, in den du verliebt bist?«

»Ja. Und es tut mir unglaublich leid. Ich hoffe, das wissen Sie. Schmeißen Sie mich bitte nicht raus«, es war schon fast ein Flehen. Ein Kloß breitete sich in mir aus und ich musste die Tränen unterdrücken, auch wenn sich welche davon schlichen. Ich wollte ihn nicht verlieren. Niemals. Aber ich wusste auch, dass die Grenze sehr schmal war.

»Natürlich nicht.« Er zog mich an sich und für einen Augenblick vergasen wir alles.

»Lassen Sie uns einfach den Film gucken.« Wortlos drückte er auf Play und für die restliche Zeit schwiegen wir.

»Maja?«

»Gute Nacht, Jacob.« Ich wusste, was er fragen wollte. Wie lange war ich schon in ihn verliebt? Ich wusste es ja selber nicht. Nein, ich wusste es. Natürlich. Seitdem ich ihn das erste Mal sah.

»Schlaf gut, Maja«, hörte ich ihn noch sagen. Als ich im Bett lag, fühlte ich mich komisch. Ich las die letzten zwei Kapitel von ›Julia‹ durch und war gerade am Einschlummern, als ich irgendetwas hörte.

Es war wie ein poltern. Ich hatte Angst, aus dem Fenster zu blicken. ›Einbildung‹, rief ich mir ins Gedächtnis.

Lernte ich denn gar nicht? Ich stieg aus meinem Bett und klopfte an Jacobs Zimmertür.

»Ich weiß wie das aussieht«, sagte ich durch die Tür hindurch, »aber ich glaube, es ist wieder irgendwas am Fenster.« Er öffnete sie und stand nur in Boxershorts da. Mir wurde schwindlig. Er hielt mich und wir gingen hinein. Er half mir, mich auf sein Bett zu setzen, und zog sich sein T-Shirt wieder an.

»Ich gehe schnell nachsehen.«

»Nein, nicht«, flüsterte ich. Wir hörten Molly bellen. Es wirkte verwirrt, als ob wirklich jemand da war.

»Soll ich die Polizei anrufen?«

»Wer auch immer es ist, er würde nicht in die Wohnung eindringen.«

»Wie kommst du darauf?« Jacob sah mich fragend an und öffnete die Tür, um Molly hineinzulassen.

»Ich habe mich ein wenig mit diesem Unbekannten beschäftigt«, erklärte ich. Er setzte sich zu mir, aufmerksam beobachtete er mich. »Zwei Sachen sind mir aufgefallen. Zum einen will er unerkannt bleiben. Offensichtlich. Er scheut Menschen und bleibt für sich. Doch auf der anderen Seite ist er einsam. Er glaubt, durch diese Vorgehensweise zur Familie zugehören, oder wenigstens zum Leben von jemanden. Er will am Leben von mir beteiligt sein. Ich weiß nicht, wieso ich. Und eigentlich ist es egal. Es macht mir höllische Angst. Auch wenn er nicht herkommt, wenn Sie da sind. So ist er in der Nähe.«

Jacob hatte danach die Polizei gerufen. Sie versprachen Wache zu halten und notfalls einzuspringen, wenn ihnen was Ungewöhnliches auffallen würde. Als sie sich mein Fenster ansahen, fanden sie wirklich von außen und innen (nur sehr schwach zu sehen) einen Handabdruck.

Unheimlich! Wir verabschiedeten uns und überprüften, ob sie wirklich inkognito vorm Haus parkten. Jacob nahm mich in den Arm. Er hatte sich natürlich auch eine Hose angezogen und ich fühlte mich nicht mehr ganz so schwach in seiner Gegenwart. Der Gedanke, jetzt in mein Zimmer zurückzukehren, jagte mir einen Schauer durch den Körper und Jacob bemerkte es.

»Willst du bei mir bleiben?«, fragte er zögernd und biss sich dabei nervös auf die Lippe. Ich nickte zaghaft und legte mich in sein Bett.

»Würden Sie sich zu mir legen?« Schweigend gesellte er sich zu mir. Ich lag vorne und fühlte mich sicher. Er legte seinen Arm um mich.

»Ist das okay?« Ich nahm seine Hand und hielt sie fest. Danach schlief ich ein.

›Hallo, Liebling.‹

›Oma.‹ Sie lächelte. ›Wer ist das, der mich verfolgt?‹

›Das wüsste ich auch gerne.‹

›Du kannst es nicht sehen?‹ , erkundigte ich mich.

›Nein, so funktioniert das nicht.‹

›Wie dann?‹

›Schwer zu erklären.‹

›Ich habe Angst‹, gestand ich und blickte ihr in die Augen.

›Verständlich. Ich auch.‹

›Na, super. Ich dachte, du würdest mir sagen, dass alles Gut wird.‹

›Mit Jacob wird alles gut werden.‹

›Ich weiß‹, seufzte ich.

›Vertrau darauf und konzentriere dich auf ihn.‹

›Ja, ist gut. Mach ich.‹

›Er empfindet das Gleiche wie du.‹ Ich nickte.

›Kann ich mich deshalb so gut in andere versetzen? Wegen dir?‹, wollte ich wissen. Dieser Gedanke nagte schon sehr lange an mir.

›Nein, Liebling. Das bist ganz alleine du. Du musst auf dein Inneres vertrauen.‹

›Mache ich.‹ Doch das würde ich nicht zulassen.

›Du liebst ihn, oder?‹, erkundigte sie sich plötzlich. Diese Frage hatte ich nicht erwartet und sie hat mich ziemlich getroffen. War ich so leicht zu durchschauen? War sie einfach nur meine innere Stimme, getarnt als meine Großmutter? Wenn das so war, wäre es ein eigenartiger Streich meines Unterbewusstseins.

›Sehr. Dabei kenne ich ihn noch gar nicht lange.‹

›Das spielt keine Rolle. Du kennst ihn lange genug.‹

Da hatte sie recht. Länger, als uns bewusst war.

›Jetzt verstehe ich, warum du dich so schnell in Jack verliebt hattest. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nicht, dass die Liebe einen so unerwartet trifft. Das ist ein unglaubliches Gefühl.‹ Sie lächelte.

›Was du heute für deine Freundin gemacht hast, wird sie nie vergessen. Sie wird dir auf ewig dankbar sein.‹

›Wirklich? Aber sie hasst mich.‹

›Nein, tut sie nicht. Sie weiß es heute noch nicht. Aber bald wird sie es spüren. Sie wird wissen, was sie dir zu verdanken hat. Und du auch.‹

Langsam spürte ich den Sog des Erwachens. Sie verblasste allmählich und doch konnte ich mich noch schnell bei ihr bedanken. Sie lächelte und ich erwachte. Vorsichtig blinzelte ich, als ich eine Stimme vernahm. Langsam versuchte ich mich, zu orientieren.

Diese Träume schmerzen im Herzen, aber sie waren wichtig.

»Maja?«

»Mmh?«

»Du hast geredet im Schlaf«, erklärte er mir. Verstohlen blickte ich zu einem Wecker, der auf dem Nachtisch stand und spürte, wie mich eine Müdigkeit umhüllte, der ich nicht widerstehen konnte.

»Könnten wir in einigen Stunden darüber reden?«

»Klar«, hörte ich ihn murmeln. Er hatte alles mitangehört. Warum konnte ich nicht stumm träumen? Mir war das peinlich, aber mein Gehirn wollte nicht hinterherkommen, weshalb ich nur ein »danke, Jacob« flüsterte. Noch immer spürte ich seinen Arm um mich und ich, auch wenn es nicht sein dürfte, genoss diese zarte und doch kräftige Berührung. Es tat gut, sicher in seinen Armen zu sein. Sicher und beschützt.

Wenige Stunden später wurden wir durch eine nervöse Molly geweckt.

»Sie muss raus«, stellte Jacob fest.

»Guten Morgen«, sagte ich und schaute ihn an. Er lächelte.

»Morgen, Molly.« Er ließ mich los und ich warf einen Blick auf die Uhr. »In fünf Minuten?« Er wusste, ich meinte Joggen. Langsam stand ich auf, doch als ich die Türklinke erreichte, zögerte ich.

»Du traust dich nicht ins Zimmer.« Keine Frage, eine Feststellung. Er stand auf und wir gingen gemeinsam. »Das ist doch lächerlich«, meinte ich. Als ich aber die Tür aufmachte, war ich mir der Lächerlichkeit gar nicht mehr so sicher.

»Maja?« Kurz schüttelte ich mich und lachte über meine Feigheit. Ich schnappte meine Sachen.

»Darf ich Ihr Bad benutzen?« Er nickte. »Das ist lächerlich«, meinte ich zu mir selbst. »Er wird wohl kaum dort auf mich lauern.«

Jacob ging mit in den Raum.

»Ich lass dich nicht mehr alleine.« Wir kehrten einander den Rücken zu, als wir uns anzogen.

»Fertig?«

»Fertig.« Zeitgleich drehten wir uns um. »Ich muss pinkeln«, gab ich zu. Er drehte den Wasserhahn auf und zeigte mir erneut seinen Rücken. »Okay.« Ich setzte mich hin. »Das ist echt peinlich und erniedrigend.«

»Wir werden gleich die Polizei die Wohnung durchsuchen lassen. Danach wissen wir, ob du sicher bist, oder nicht.« Ich benutzte gleich das Wasser und wusch meine Hände. Anschließend tauschten wir die Plätze.

»So viel Intimität hab ich nie mit jemanden getauscht«, gestand ich.

»Geht mir ähnlich.« In seiner Stimme schwang eine Unsicherheit mit, die ich nicht richtig deuten konnte.

»Ich vertraue Ihnen«, sagte ich in die Stille, die plötzlich komisch wirkte, und hörte ihn überrascht aufatmen. Trotzdem musste ich noch mein Bad aufsuchen, da ich etwas daraus brauchte. Auch hier begleitete er mich und während ich mich zurechtmachte, inspizierte er den Raum. Ich beobachtete ihn durch den Spiegel.

Wir ließen die Polizei eintreten und besprachen alles. Kurz darauf konnten wir joggen. Molly lief neben uns her.

»Was geht dir durch den Kopf, Maja?«

»Wie verrückt das alles ist.« Er sagte nichts, aber ich wusste, er stimmte mit mir überein. Molly jagte einen Schmetterling und war vollkommen zufrieden.

»Wenn Sie darüber reden wollen, was Sie gehört haben, könnten wir auch irgendwo einen Kaffee trinken. Die Polizei wird die Wohnung für einige Stunden in Beschlag nehmen und uns anrufen, wenn sie fertig sind.«

»Gerne«, antwortete er hörbar erleichtert. Wir liefen noch eine halbe Stunde und gingen in einen Bäcker, um zu frühstücken.

»Was möchten Sie essen?«

»Entscheide du.«

»Suchen Sie uns schon mal einen Platz, ich bin gleich da.« Er lächelte. Draußen konnten wir mit Molly sitzen. Es war schon warm und wirklich schön. Einige Minuten später kam ich mit einem Tablett zum Tisch.

»Der Kaffee hier schmeckt nicht so, daher Milchcafé. Ein paar Schokoladentaler, Nussecken und jeweils einen Obstsalat. Oder hätten Sie lieber Kuchen gewollt? Ich mag Kuchen nicht, der ist mir zu üppig, besonders in der Früh.«

»Nein, ist perfekt.« Aus einer Tasche holte ich eine Wasserflasche und goss Molly was in eine Schale. Dazu gab ich ihr etwas zum Knabbern. »Ich hatte gar nicht gemerkt, das du was eingepackt hast«, bemerkte er anerkennend. Ich zuckte mit den Schultern.

»Was genau haben Sie gehört?«

»Du hast dich mit jemandem unterhalten, klang jedenfalls danach. Wobei ich nur deines hörte.«

»Ja, mit meiner Oma. Sie ist so was wie mein Traumengel. Schon seltsam. Ich verstehe nicht mal, wie das möglich ist. Es ist mehr als nur ein Traum. Aber egal. Möchten Sie was dazu sagen?« Während ich das sprach, hielt ich die Tasse mit dem Milchcafé in der Hand und konnte zwar Herrn Traum sehen, aber er bemerkte nicht, wie unglaublich rot ich wurde. Nahm einen Schluck und stellte sie wieder ab.

»Du hast mit deiner Oma über Gefühle geredet.«

»Nur fürs Protokoll, diese Unterhaltung wird das zweit Peinlichste, seitdem wir uns kennen.« ›Und solange kennen wir uns nicht!‹, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Das Peinlichste war der Toilettengang?« Ich nickte beschämt. »Dein Kuss mit Marie?«, bohrte er nach. Warum? Weil ich jemanden geküsst habe? Weil es ein Mädchen war?

»Nicht annähernd.« Er lachte.

»Du hast gesagt: Du kennst ›ihn‹ noch nicht lange und es dich vollkommen unerwartet getroffen hat. Und dass die Liebe unglaublich sei.« Ich nickte und sah auf mein Essen. »Du hast nun verstanden, warum sich deine Oma in diesen Jack verliebt hat. So schnell, so plötzlich«, fasste er ziemlich gut meinen Traum zusammen.

»Das stimmt. Ich kannte mich damit nicht aus, nicht persönlich. Ich war geschockt, als ich erfuhr, dass sie in ihrer Ehe in jemand anderes verliebt war. Mittlerweile aber kann ich sie verstehen. Manchmal trifft es einen einfach unerwartet.

Aus heiterem Himmel. Ich hätte mir einfach nur Glück für sie gewünscht. Und bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt glücklich war.«

»Das war sie ... bestimmt. Sie hatte dich und sie konnte vielleicht durch dich wieder jung werden«, stammelte er. Ich blickte hoch und sah in seine Augen. So vollkommen, so rein. »Verrätst du mir, über wen ihr geredet habt?«

»Sie sollten vielleicht erfahren, was sie sagte.« Er nickte und ich erzählte es ihm. »Sie wissen, um wen es geht«, endete ich.

»Und warum sagst du immer noch ›Sie‹ zu mir?«

»Ganz einfach: Sie haben mir das ›Du‹ noch nicht angeboten.« Da musste er lachen.

»Wir haben die Nacht in einem Bett geschlafen«, stellte er fest.

»Mir wurde beigebracht, Lehrer zu siezen und auch ältere Personen.« Oh, ich glaube, das kam falsch rüber.

»Autsch«, sagte er und griff sich theatralisch ans Herz.

»Nein, tut mir leid. So alt sind Sie nicht. Unter anderen Umständen hätte ich wahrscheinlich direkt ›Du‹ gesagt, ohne darauf zu warten. Aber Sie sind immer noch mein Lehrer und ich möchte Sie auf keinen Fall als solchen missen wollen. Sie sind der beste Lehrer, den ich mir vorstellen kann.«

»Das schmeichelt, auch wenn es zu viel des Guten ist.«

»Nicht im Geringsten.«

»Du musst mich nicht in der Schule ›duzen‹, aber außerhalb wäre es doch okay«, bot er mir an.

»Das ich Sie Jacob nenne, ist schon eine Überschreitung dessen, was vernünftig wäre.«

»Möchtest du dann wenigstens über deine Gefühle reden?«

»Sie wissen es und das reicht mir«, versuchte ich, dem ein Ende zu setzen. Das Gespräch war unangebracht. Und doch - dessen war ich mir unglaublich sicher - tat er es mir zuliebe, nicht weil er irgendetwas von mir wollte. Es mag naiv klingen und andere Mädchen, in meiner Situation, würde ich raten, schnellstmöglich abzuhauen, aber es war etwas anderes. Ich fühlte und spürte einfach, dass er niemals unangebrachte Gedanken hegte. Er war ein guter Mann, durch und durch. Und doch sollte sich niemand von dem Schein dessen, was jemand vorgibt zu sein, beeindrucken lassen.

»Möchtest du nicht wissen, was ich darüber denke?«

»Natürlich. Sehr gerne sogar. Aber es würde keinen Unterschied machen.«

»Deine Oma hatte jedenfalls Recht«, sagte er ohne Umschweife und sah mir dabei in die Augen. Er blinzelte nicht einmal, sondern schien einfach nur abzuwarten. Abwarten und hoffen, dass ich nicht Reißaus nehme.

»Ich weiß«, seufzte ich. »Sie hat immer recht.« Er lächelte und trank seinen Milchkaffee.

»Beunruhigt es dich?«, hakte er nun doch vorsichtig nach.

»Das sie immer recht hat? Und wie! Aber das sie in Bezug auf Ihnen recht hat, nein. Tief im Inneren wusste ich es.« Er nickte. Ich lächelte in meine Tasse hinein. »Es ist schön, die Gewissheit zu haben. Und doch frage ich mich, wie es nun weitergeht.« Er sah mich an und ich fügte hinzu: »Werden Sie mich jetzt vor die Tür setzen oder meiden?«

»Warum sollte ich?«

»Weil es ein Spiel mit dem Feuer werden könnte. Wenn wir nicht aufpassen.«

»Du hast zu viel Angst.« Er meinte es nicht so, wie es klang, dachte ich. Eher: Als ob ich doch zu viel Angst vor ihm hätte und nicht, als würde ich übertreiben mit dem, was ich sagte.

»Nicht vor Ihnen«, meinte ich ehrlich. Er wirkte ein wenig erleichtert.

»Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?« Er nickte. »Marie hatte ich von meinem ersten Kuss erzählt. Aber ich verschwieg das Wichtigste.« Er hörte aufmerksam zu. »Nein, es blieb beim Kuss. Er war etwas älter als ich. Nicht viel, nur anderthalb Jahre.« Irgendwas an seinem Blick verriet mir, dass meine Wortwahl falsch war. »‹tschuldigung. So war es nicht gemeint.« Ein Lächeln zierte seine Lippen, wunderschön. »Wie dem auch sei. Wir waren befreundet, da er der Bruder einer Freundin war. Wir fanden uns beide toll. Wir waren nicht wirklich verliebt. Aber irgendwas war. Wir beschlossen, uns zu küssen, um festzustellen, ob wir unsere Freundschaft vielleicht vertiefen sollten. Es war, wie gesagt, mein erster Kuss. Und er war schön. Wir waren uns einig, Freunde zubleiben. Es war okay, vollkommen. Wir waren ja nicht in einander verliebt. Zudem Zeitpunkt konnte ich mich noch nicht so in meine Mitmenschen hineinversetzen. Ich wusste nicht, was er fühlte. Ich wusste nichts über die Probleme, die er hatte. Hätte ich es doch nur gewusst ...« Ich sah, wie Jacob versuchte zu folgen. »Ich dachte, wir seien Freunde. Wissen Sie, Freunde, die sich alles erzählen können. Aber scheinbar irrte ich mich. Er hatte noch ein zweites Leben, sozusagen. Er war mit den falschen Menschen zusammen. Ich glaube, sie nahmen alle irgendwelche Drogen. Er tauchte unter und verbrachte nur noch Zeit mit ihnen. Später erfuhr ich, dass er monatelang in ihrer Clique war und sie jedes Wochenende einen drauf machten. Drogen, Alkohol. Was er nahm, weiß ich nicht. Spielt wohl auch keine Rolle. In seinem Rausch rief er mich an. Wir trafen uns und er wollte mich bedrängen. Es war nichts. Wirklich. Er war obszön und launisch. Er war nicht der Junge, den ich mochte und kannte. Mit so jemanden wäre ich nie befreundet gewesen. Als ich seinen - nennen wir es - Avancen nicht nachkam, wurde er wütend. Was als Nächstes passierte, weiß ich nicht mehr. Ich wachte erst im Krankenhaus auf und erfuhr, das Toby sich das Leben genommen hatte.«

»Ach herrje. Heilige Scheiße«, stieß er hervor.

»Das können Sie laut sagen.«

»Hast du daher die Narbe?«, erkundigte sich Jacob.

»Ich glaube schon. Mir fehlen etwa sechs Stunden.« Er wurde blass.

»Hat er ...?«

»Mmh? Oh, weiß ich nicht.«

»Was?« Er saß stocksteif da und wirkte blass und erschüttert.

»Ja, ich wurde untersucht«, stammelte ich.

»Und?«

Schulterzuckend meinte ich, dass er es wohl versucht habe, aber dass ich mich wehren konnte. »Mehr weiß ich nicht. Es ist, als wäre an dieser Stelle ein großes, schwarzes Loch. Fast, als wollte mein Unterbewusstsein vermeiden, dass ich die Wahrheit erfahre. Möglicherweise ist es besser so. Nicht zu wissen, was Toby mir wirklich angetan hatte, ist vielleicht erträglicher, als zu wissen, zu was er im Stande gewesen wäre ... Sorry, ich weiß, es klingt seltsam ...«

»Das tut mir schrecklich leid.«

»Muss es nicht. Mir geht es gut.« Wir sahen einander in die Augen. »Es hört sich schlimm an, so wie ich es erzähle, in meiner Passivität, das ist mir vollkommen bewusst. Ich weiß nicht, was passiert ist. Und das ist okay. Der Toby, den ich kannte und mochte, hätte mich niemals so behandelt. Niemals. Doch dieser Typ stand unter Drogen. Er war nicht mehr er selbst. In anderen Fällen würde ich das definitiv nicht so sehen. Drogen hin oder her. Aber als ich diesen Jungen da sah, dessen Augen aussahen, als seien sie schon Tage wach gewesen. Der sich selbst hasste, für das, wie er war und der sich das Leben nahm, als ihm klar wurde, was er getan hatte ... Ich wusste nicht, ob ich weinen durfte. Sie wissen schon, trauern durfte. Also weinte ich alleine. Ich hab damit abgeschlossen. Seitdem versuche ich, meinen Mitmenschen zu helfen.« Ich aß etwas von meinem Obst. »Ich habe Ihnen das nicht einfach so erzählt«, gestand ich. »Sie sollen verstehen, wieso ich nicht auf etwas Derartiges eingehen kann.«

»Ich würde nie so reagieren«, sprach er leise, so als würde er Angst haben, ich traue ihm doch nicht.

»Das weiß ich. Ich weiß, Sie würden mir oder einer anderen Person, niemals leid zu fügen. Sie haben ein gutes Herz. Dennoch kann es gefährlich werden. Auf eine andere Art und Weise. Sie würden mich nicht bedrängen und ich würde nicht auf ›American Beauty‹ machen. Trotzdem können Sie Ihre Arbeit gefährden und mich würde man als Lolita abstempeln.«

»Was sagt deine Oma dazu?« Es beruhigte mich, wie er dies fragte. Weil sie ihm wichtig erschien. Weil es nicht nach Vergangenheit anfühlte, sondern so, als wären wir auf dem Sprung zu ihr.

»Ich soll auf mein Herz hören. Ja, das stimmt. Sonst hätte ich es Ihnen gar nicht erst gesagt. Aber es spricht zu viel dagegen.«

»Ich kann warten«, schlug er vor. Ich lächelte.

»Sie dürfen Ihr Leben nicht auf Eis legen.«

»Ich kann warten«, wiederholte er sich. Ich blickte zu Molly, die seelenruhig dalag und die Sonne genoss und blickte wieder Jacob an.

»Sie fragten mich gestern, warum ich ›die Gefühle anderer‹ gut einschätzen kann. Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig.« Er schwieg. »Durch Toby habe ich gelernt, nicht nur meinen Augen trauen zu dürfen, sondern das große Ganze betrachte. Hinterfragen und beobachten. Irgendwas hat er bewirkt.«

Nein, eigentlich ist das nicht korrekt. Aber das sollte fürs Erste reichen. Wir saßen noch eine Weile da, bis das Telefon klingelte.

Das magische Armband

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