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3.3. Die Quellen der Narrative

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Die Komplexität der Ester-Erzählung kann den Eindruck erwecken, dass mehrere voneinander unabhängige Handlungsstränge vorliegen. So versucht Haman einerseits, das jüdische Volk per Erlass zu eliminieren, und andererseits, Mordechai hängen zu lassen. Er sieht sich mit zwei unterschiedlichen Gegnern konfrontiert, die ihn auf unterschiedliche Weise besiegen: mit Ester während des Gastmahls und mit Mordechai, als sich der König daran erinnert, dass dieser ihm von einer Verschwörung berichtet hatte. Die Erzählung von Waschtis Vertreibung scheint nur lose mit dem Erzählstrang der folgenden Kapitel verbunden und ist für deren Logik jedenfalls nicht nötig. Diese Beobachtungen überzeugten mehrere Exegeten davon, dass das Buch Ester eine Mischung aus ursprünglich unabhängigen Erzählungen sei.

Henri Cazelles58 unterscheidet zwischen einer liturgischen Quelle, die mit dem Purimfest in Verbindung steht, und einer Erzählung über politische Konflikte, die Mordechais Sieg über Haman zum Thema hat. Jürgen-Christian Lebram59 geht davon aus, dass in der Makkabäerzeit eine alte persische Legende über eine Jüdin, die ihr Volk rettet, mit einer in Palästina entstandenen Erzählung über Mordechai und Haman verschmolzen wurde. Elias Bickerman60 sieht im Buch Ester eine Kombination von zwei höfischen Erzählungen, wobei die eine von der Konfrontation der Königin mit einem Höfling erzählt und die andere den Konflikt zweier Höflinge schildert. Hans Bardtke61 macht drei vorausgehende Traditionen aus: eine, die die Erzählung von Waschti enthält; eine, die den Konflikt zwischen dem Juden Mordechai und dem persischen Beamten Haman darstellt; und eine letzte, die von Esters Kampf für ihr verfolgtes Volk handelt.

Die Debatte über die Textgeschichte des Esterbuchs überschneidet sich zwangsläufig mit der Debatte über ältere Ausgangstexte. Wenn der MT das Resultat einer redaktionellen Umarbeitung ist, die auf Proto-Ester fußt, dann muss die Identifizierung der verschiedenen vorherigen Erzählungen ebenso auf der Grundlage des Proto-Ester-Texts erfolgen. Logischerweise greift Clines deshalb Cazelles’ Vorschlag modifiziert auf, denn dieser hat Bedeutung für den Proto-A.-T. (= Proto-Ester), den er rekonstruiert.62

Kossmann geht hier noch weiter.63 Nachdem sie, wie Clines, für die Existenz eines vormasoretischen Proto-A.-T. eintritt, nimmt sie an, dass dieser Text ebenfalls das Ergebnis der Umarbeitung einer „Prä-Ester“ ist. Kossmann zufolge wäre diese Prä-Ester auf der Grundlage dreier früherer Erzählungen entstanden: einer Geschichte von Waschti (dem Kern der Kap. 1–2 im A.-T.), einer Erzählung über Haman und Mordechai (dem Kern von Zusatz A und Kap. 6 im A.-T.) und einer Erzählung über Haman, Mordechai und die Königin (dem Kern der Kap. 3, 4, 5 und 7 des A.-T.). Diese hypothetische Prä-Ester, die in keinerlei Verbindung zum Judentum stünde, wäre dann von einem Redaktor mit dem Ziel umgearbeitet worden, diese alte Erzählung innerhalb der jüdischen Diaspora zu verorten.64

Auch wenn die Identifizierung älterer Quellen der Handlung hypothetisch bleibt, lässt sich zusammenfassend sagen, dass in allen für Ester bezeugten Textfassungen die Erzählstränge von Ester, Mordechai und sogar Waschti sich auf kohärente Weise verbinden. Es ist die Mischung dieser Erzählstränge und der neuen Entwicklungen, die sie erzeugen, die dem Buch eine reizvolle und gut erzählte Geschichte bescheren.

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