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4.1.1. Die Rekonstruktion von Proto-Ester und die Identifizierung der protomasoretischen redaktionellen Abschnitte

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Ein Vergleich der Kapitel 1–7 von A.-T. und MT ermöglicht die Rekonstruktion der hebräischen Inhalte von Proto-Ester und die Identifizierung der Abschnitte, die die protomasoretische Redaktion zu verantworten hat. In den meisten Fällen kann der griechische A.-T. als Übersetzung einer hebräischen Quelle verstanden werden, die – bis auf das Fehlen einiger „Extras“ – dem konsonantischen Inhalt des MT entspricht. Proto-Ester entspricht somit den Abschnitten des MT, von denen der A.-T. die Übersetzung zu sein scheint, während der von den protomasoretischen Redaktoren eingefügte Inhalt den im MT vorhandenen „Extras“ entspricht, welcher jedoch nicht im A.-T. enthalten ist. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Ester 1,4Der griechische Vers des A.-T. εἰς τὸ ἐπιδειχθῆναι τὸν πλοῦτον τῆς δόξης τοῦ βασιλέως καὶ τὴν τιμὴν τῆς καυχήσεως αὐτοῦ ἐπὶ ὀγδοήκοντα καὶ ἑκατὸν ἡμέρας (= sodass des Königs herrlicher Reichtum und die Ehre seiner Verherrlichung gezeigt werden konnten für die Dauer von 180 Tagen) ist eine Übersetzung aus dem hebräischen Proto-Ester-Text: בהראתו את־עשׁר כבוד מלכותו ואת־יקר תפארת שׁמונים ומאת יום (= Er stellte den herrlichen Reichtum seines Königreiches und die glänzende Pracht 180 Tage zur Schau), ein Satz, der dem masoretischen Konsonantentext dieses Verses entspricht, allerdings ohne die Worte גדולתו ימים רבים (= seiner Hoheit für viele Tage). Folglich stammt der MT von Ester 1,4 בהראתו את־עשׁר כבוד מלכותו ואת־יקר תפארת גדולתו ימים רבים שׁמונים ומאת יום, der hier übersetzt wurde als „Er stellte den herrlichen Reichtum seines Königreiches und die glänzende Pracht seiner Hoheit für viele Tage, 180 Tage, zur Schau“, aus der Wiederaufnahme der hebräischen Proto-Ester, von den protomasoretischen Redaktoren ergänzt um die Erwähnung von „seiner Hoheit“ und später mit der Glosse „für viele Tage“ versehen, was in der LXX fehlt. Zuletzt sollten wir daran denken, dass der Text im Mittelalter vokalisiert wurde.

Ester 2,18Der griechische Vers des A.-T. καὶ ἤγαγεν ὁ βασιλεὺς τὸν γάμον τῆς Εσθηρ ἐπιφανῶς καὶ ἐποίησεν ἀφέσεις πάσαις ταῖς χώραις (= und der König feierte Esters Hochzeit auf prachtvolle Weise, und er gewährte allen Provinzen eine Amnestie) kann eine Übersetzung aus dem hebräischen Proto-Ester-Text sein: ויעשׂ המלך משׁתה גדול לאסתר והנחה למדינות עשׂה (= Der König hielt ein großes Festmahl für Ester, und er gewährte den Provinzen eine Amnestie). Diese Übersetzung ist eine etwas freie Wiedergabe, denn sie interpretiert „Esters Festmahl“ als eine „Hochzeit“. Der Satz entspricht dem masoretischen Konsonantentext dieses Verses, jedoch ohne die unterstrichenen Hinzufügungen: ויעשׂ המלך משׁתה גדול לכל־שׂריו ועבדיו את משׁתה אסתר והנחה למדינות עשׂה ויתן משׂאת כיד המלך (= Der König hielt ein großes Festmahl für alle seine Fürsten und Diener, Esters Festmahl. Er gewährte den Provinzen eine Amnestie und bewilligte eine Schenkung, wie es sich für den König geziemt). Diese redaktionellen Hinzufügungen heben den Prunk am persischen Hof hervor, den die protomasoretischen redaktionellen Abschnitte 2,12–14MT ebenfalls bezeugen.

Die Wiederaufnahme von Inhalten aus Proto-Ester, die Vervollständigung durch die redaktionellen Abschnitte (1,17–18.22; 2,10–16.19–23; 3,12–14; 4,5–8a; 5,9.11; 7,7; und die Kapitel 8–10) sowie zahlreiche Ergänzungen in fast jedem Vers sind das Markenzeichen der protomasoretischen Redaktoren. Es kommt auch vor, dass die Inhalte der Quelle nicht vollständig erhalten bleiben. Bestimmte Hinzufügungen verlangen Korrekturen am Originaltext und die Entfernung bestimmter Elemente. Das zeigt das folgende Beispiel:

Ester 5,10–12Der A.-T. ist hier viel kürzer als der MT. Der griechische A.-T. ὁ δὲ Αμαν εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον αὐτοῦ καὶ συνήγαγε τοὺς φίλους αὐτοῦ καὶ τοὺς υἱοὺς αὐτοῦ καὶ Ζωσάραν τὴν γυναῖκα αὐτοῦ καὶ ἐκαυχᾶτο λέγων ὡς οὐδένα κέκληκεν ἡ βασίλισσα ἐν ἐπισήμῳ ἡμέρᾳ αὐτῆς εἰ μὴ τὸν βασιλέα καὶ ἐμὲ μόνον καὶ αὔριον κέκλημαι ist die Übersetzung aus dem hebräischen Proto-Ester-Text, der aus dem MT 5,10.12 rekonstruiert werden kann: ויבוא המן אל־ביתו וישׁלח ויבא את־אהביו ואת־בניו ואת־זרשׁ אשׁתו ויתגדל המן ויאמר אף לא־הביאה אסתר המלכה עם־המלך אל־המשׁתה אשׁר־עשׂתה כי אם־אותי וגם־למחר אני קרוא (= Haman ging in sein Haus. Er sandte hin und ließ seine Freunde, seine Söhne und Seresch, seine Frau, zu sich kommen. Haman prahlte und sagte: Zudem ließ die Königin Ester außer mir niemanden mit dem König zum Mahl kommen, das sie hielt. Auch für morgen bin ich eingeladen). Obwohl fast der ganze Abschnitt aus Proto-Ester sich im MT wiederfindet, fehlen doch die Wendungen ואת־בניו („seine Söhne“) und ויתגדל („er prahlte“). Sie wurden wahrscheinlich von den Redaktoren entfernt, als sie 5,11 einfügten: „Haman erzählte ihnen aufs Neue von seinem herrlichen Reichtum und der Anzahl seiner Söhne, davon, wie der König ihn gefördert und wie er ihn über die Minister und Diener des Königs erhöht hatte.“ Tatsächlich kommentiert dieser Satz die Aussage, dass Haman „prahlte“, die im Moment der Einfügung logischerweise wegfallen kann. „Seine Söhne“ fallen aus ebenso logischen Gründen weg, denn wenn sie anwesend waren, wäre die Erwähnung ihrer Zahl in Hamans Rede in 5,11 sinnlos gewesen, da alle Anwesenden sie hätten sehen können.

Auch in ein paar weiteren Fällen wurden Passagen aus dem A.-T. und seiner Vorlage Proto-Ester von den protomasoretischen Redaktoren nicht aufgenommen, weil sie nicht dem entsprachen, was ihrer Erwartung nach hätte geschehen sollen. Die wichtigsten Fälle befinden sich in den Kapiteln 6 und 7 (5,23a; 6,4–6a.13–18; 7,2.4b–7.14). Auch in kürzeren Passagen kommen einige redaktionelle Auslassungen vor, beispielsweise in den folgenden:

Ester 6,6.9.11In den Parallelen zum MT 6,6.9.11 werden im A.-T. (6,9.11.19) folgende Worte zu Ehren von Mordechai geäußert: Κατὰ τάδε ποιηθήσεται τῷ ἀνδρὶ τῷ τὸν βασιλέα τιμῶντι, ὃν ὁ βασιλεὺς βούλεται δοξάσαι (= So soll dem Mann getan werden, der den König ehrt und den der König verherrlichen möchte 6,19A.-T.). Der MT ist kürzer: ככה יעשׂה לאישׁ אשׁר המלך חפץ ביקרו (= So wird dem Mann getan, den der König zu ehren wünscht). Das hebräische Äquivalent der griechischen Formel τὸν βασιλέα τιμῶντι (der den König ehrt) wurde zweifellos von den protomasoretischen Redaktoren entfernt, denn sie schreckten zurück vor der Aussage, dass Mordechai einen ausländischen König geehrt habe, der in ihren Augen bemitleidenswert und unfähig ist.

Die Frage des ursprünglichen Schlusses von Proto-Ester und der Abschnitte von Kapitel 7,15–52 am Ende des A.-T. wird im Kommentarteil ausführlich diskutiert. Ein wichtiger Teil dieser Passage des A.-T. scheint direkt von der LXX abhängig zu sein und wurde entsprechend spät eingeführt.

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