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Einleitung

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Im Judentum ist die Ester-Rolle ausgesprochen populär und wird jedes Jahr zum karnevalesken Purimfest gelesen. Christliche Kreise sind indessen mit diesem Werk weniger vertraut.

Auf den ersten Blick tritt uns das Buch als kurzer historischer Roman entgegen – mit einer wohldurchdachten Handlung, die Gut und Böse klar unterscheidet. Die Charaktere haben eine „psychologische“ Funktion, die manchmal auf köstliche Weise zum Ausdruck kommt. Es mangelt nicht an Spannung, Humor und Ironie, und ebenso wenig an Sex und Gewalt.

Doch nach diesem schlichten ersten Eindruck konfrontiert uns das Werk mit interessanten und anspruchsvollen Fragen: Warum existieren so unterschiedliche Fassungen davon? In welchem historischen Kontext wurde es verfasst und was verrät es von den Vorstellungen, die zu jener Zeit im Umlauf waren? Was sagen uns die angesprochenen Themen, die trotz ihrer fiktionalen Aufbereitung bitterernst sind und Fragen aufwerfen, die noch immer sehr aktuell erscheinen?

Der TextDas Buch Ester ist, wie die meisten biblischen Bücher, nicht das Werk einer einzelnen Person, sondern das Ergebnis der Arbeit mehrerer Autoren und nacheinander arbeitender Redaktoren im Verlauf eines längeren Zeitraums. Ihnen ging es darum, die Traditionen und grundlegenden Narrative ihrer Gemeinschaft zu überliefern, indem sie sie umarbeiteten, verbesserten und aktualisierten.

Wir kennen verschiedene Fassungen des Buchs Ester: den hebräischen masoretischen Text (MT), den die jüdischen und protestantischen Bibeln benutzen, sowie zwei antike griechische Übersetzungen, die deutlich länger sind. Die eine der beiden, die zur Septuaginta (LXX) gehört, hat für die katholischen und orthodoxen Bibeln kanonischen Rang.

Der vorliegende Kommentar berücksichtigt die textliche Diversität des Werks und zeigt auf, wie sie entstand. Er diskutiert zunächst den Redaktionsprozess bis hin zur masoretischen Fassung des Werks. Nach der Hypothese, die hier vorgestellt wird, ist eine der griechischen Textfassungen – der Alpha-Text (A.-T.) – die Übersetzung einer hebräischen Textversion Proto-Ester, die schließlich, hauptsächlich von protomasoretischen Redaktoren umgearbeitet, zum MT wurde. Nach der Kommentierung des hebräischen Texts werden die ergänzenden Zusätze vorgestellt, die allein in den griechischen Textversionen vorkommen.

Ideen­geschichteDas Buch Ester bietet uns einen faszinierenden Einblick in das Denken des antiken Judentums. Es entstand in jüdischen Kreisen, die zutiefst von der herrschenden Kultur der hellenistischen Welt geprägt waren.

Nach unserer Hypothese stammt die älteste literarische Schicht von Diasporajuden, die im dritten Jahrhundert v. u. Z. in einem urbanen hellenistischen Kontext im ptolemäischen Ägypten lebten. Im zweiten Jahrhundert, nach den makkabäischen Auseinandersetzungen zwischen traditionellen jüdischen Kreisen und den hellenistischen Tyrannen, erfuhr dieser Text eine bedeutende Umarbeitung durch die protomasoretische Redaktion.

Das Buch Ester nimmt die hellenistische Kultur intensiv wahr und steht im Dialog mit ihr. Die Autoren und Redaktoren beteiligen sich an dieser Auseinandersetzung mittels einer romanhaften Handlung, die im alten Perserreich spielt. Sie beschreiben dieses Reich auf ähnliche Weise, wie die Griechen dieses ferne und mächtige orientalische Reich darstellten. Zu einer Zeit, da die Griechen Vergnügen daran hatten, Erzählungen zu verfassen, die in Persien spielen – seien es „Persika“ oder große Geschichtswerke –, schrieben die Juden ihr Buch Ester, in dem sie dieselben Codes verwendeten, wie man sie in der griechischen Literatur über Persien findet.

Die Juden, die das Esterbuch verfassten, zeigen einerseits eine große kulturelle Nähe zu den Griechen, machen aber andererseits auch die Spannungen sichtbar, die zwischen Juden und Griechen bestehen. Dieser „Dialog“ mit der hellenistischen Kultur ist oft wohlwollend, insbesondere wenn das Buch zeigt, dass Juden und Griechen die Ideale der Freiheit, des Muts und der Treue zu ihren Göttern bzw. zu ihrem Gott gemeinsam haben. Manchmal aber ist der Ton recht schroff, vor allem wo – mittels ironischer Bemerkungen über das Funktionieren des Persischen Reichs – die Erzählung die tyrannischen Abwege hellenistischer Herrscher anprangert, deren Archetyp Antiochos IV. ist.

ThemenDas Buch Ester thematisiert Identitätsfragen, die manchen Einwanderern und ihren Nachkommen, marginalisierten Gruppen und wohl auch jenen vertraut sein dürften, die sich in ihren Überzeugungen von einer „Mehrheit“ unterscheiden, der gegenüber sie sich fremd fühlen. Die Figuren der Erzählung treten in einer Welt auf, die nicht von deren eigener Kultur geprägt ist; und so sind diese zunächst versucht, ihre Identität zu verbergen, bevor sie sich gezwungen sehen, sie zu offenbaren und zu verteidigen.

Die Unterdrückung von Minderheiten im Allgemeinen und von Juden und Jüdinnen im Besonderen dürfte das zentrale Thema dieses Werks sein, was im Blick auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts prophetisch anmutet. In nur wenigen Versen, die dem niederträchtigen Haman in den Mund gelegt werden (3,8–9), brandmarkt die Erzählung eine diskriminierende und erschreckende Rhetorik, die sich gegen angeblich verhängnisvolle Lebensgewohnheiten von Menschen richtet und diese als Unmenschen und gefährliche „Ausländer“ abgestempelt. Sodann werden die langfristigen Konsequenzen dieser ausgrenzenden Rede aufgezeigt, der die königliche Macht fast umstandslos und naiv zugestimmt hat. Es wird gezeigt, wie schwer es ist, den Mechanismen des genozidalen Schreckens Einhalt zu gebieten, wenn sie einmal in Gang gesetzt wurden. Zweifellos war es, ist es und wird es immer dringend geboten sein, jeden Ausgrenzungsdiskurs von seinen Anfängen an zu bekämpfen.

Am Beispiel der Einstellung ihrer Helden und Heldinnen führt die Erzählung verschiedene Strategien des Widerstands vor Augen. Zuerst tritt Mordechai seinem Feind würdevoll und friedfertig entgegen: Er greift ihn nicht an, hat aber den Mut, sich selbst treu zu bleiben, indem er sich unnachgiebig weigert, sich vor ihm niederzuwerfen. Sodann nutzt Ester mit List, Mut und Intelligenz die wenigen Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen, um den Herrscher zu überzeugen, Gerechtigkeit walten und den Schrecken nicht länger andauern zu lassen. Zuletzt, als Gerechtigkeit und gerichtliches Vorgehen dem Grauen nicht Einhalt gebieten können, hat es den Anschein – und dieser Aspekt des Werks erregt bei manchen Leserinnen und Lesern Anstoß –, dass es zum Krieg kommen muss. Die Autoren des Werks wussten mit Sicherheit sehr gut, dass Krieg immer schrecklich ist. Jenen Krieg am Ende des Buchs legitimieren sie nur, weil es sich um eine Sache der Selbstverteidigung gegen Angreifer handelt, die einen Völkermord planen, und weil es keine anderen Lösungen gibt.

Auch wenn es im Buch Ester Anspielungen auf göttliches Handeln und Hinweise auf jüdische Rituale gibt, wird Gott nicht direkt erwähnt. Die Redaktoren wollen damit eine theologische Aussage machen. Allem Anschein nach möchten sie die Leserinnen und Leser animieren, darüber nachzudenken, ob göttliches Eingreifen hinter diesem oder jenem Ereignis auszumachen ist und, vor allem, ob Gott durch die Taten von Frauen und Männern handelt.

Ester

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