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11. Kapitel Elenor Hensen und die Tagebücher eines Toten ...
ОглавлениеEs war genau 18:00 Uhr, als Joshua die Handynummer anwählte, die die Frau auf der Rückseite der Cookieverpackung hinterlassen hatte. Eine Frauenstimme meldete sich; Joshua war sich in diesem Moment allerdings nicht sicher, ob es dieselbe Frau war, die sie in der Kantine bedient hatte. Er war noch nie mit Telefonstimmen klargekommen. Die Frau nannte keinen Namen. Sie gab eine Adresse durch, dann war die Verbindung tot. Joshua gab die Adresse ins Navi ein und nickte dann.
„Ein Nachbarort, nicht weit von hier. In einer Viertelstunde wissen wir mehr ...“ Er startete den Motor, und sie fuhren los.
Elenor Hensen war nervös. Sie war die Mutter eines der verstorbenen Soldaten. Das kleine Haus war gemütlich, doch vieles sah alt und abgenutzt aus. Aber es roch sauber. Elenor hatte Essen und Trinken angeboten, doch Joshua und Jack hatten dankend abgelehnt. Das Essen in der Kantine auf der Air Base lag noch nicht weit zurück.
Sie saßen sich in einem kleinen Wohnzimmer gegenüber. Das einzige große hier war der Flachbildfernseher an der Wand.
Elenor spielte nervös mit den Fingern. Sie war kurz zuvor in ein anderes Zimmer gegangen und hatte zwei USB-Sticks geholt, die sie schweigend vor sich auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte.
„Die gehörten meinem Sohn“, sagte sie leise. „Er hat von seinen Einsätzen immer Zusammenfassungen geschrieben, die er irgendwann später verwenden wollte, als Roman oder so. Harry wusste, dass Interna seiner Einsätze nicht öffentlich gemacht werden durften; aber er wollte das Material ja auch erst verwenden, wenn er nicht mehr aktiv im Dienst gewesen wäre. Als Job danach sozusagen ... Er hatte immer Schriftsteller werden wollen. Und es gibt ja genügend ehemalige Agenten und so, die ihre Erlebnisse in Buchform herausgebracht haben.“
Sie schluckte und fuhr leise fort: „Aber dazu wird es wohl nicht mehr kommen, und es spielt auch keine Rolle mehr.“
Geht es hier nur um ein Buch?, fragte sich Joshua. Er warf Jack, der wohl einen ähnlichen Gedanken hatte, einen schnellen Blick zu.
„Mrs Hensen, haben Sie die Aufnahmen der Fotos gemacht?“
Sie nickte. „Ich mag eine einfache Bedienung sein, aber ich bin nicht blöd. Ich hatte den Männern im Aufzeichnungsraum Kaffee gebracht. Sie wussten nicht, dass ich Harrys Mutter bin. Ich bin weiß - er war schwarz, wie sein Vater. Seit Harry in die Quarantäne-Zelle gesteckt worden war, wusste ich, dass da etwas Schlimmes vor sich ging. Aber man wollte mir nichts sagen und hat mich immer wieder vertröstet. Ich habe so getan, als wäre mein Handyakku leer und habe den Bildschirm währenddessen abfotografiert. Die Männer haben mich überhaupt nicht wahrgenommen, und ihnen war es egal, ob ich das Video sehe. Es waren widerliche Kerle, die das Ganze wohl für komisch befanden, als Harry und sein Kumpel durchgedreht sind. Na ja, nur zu anfangs, denn es wurde sehr schnell klar, dass die Sache ernst ist. Und es da gab da noch jemand, der mir geholfen hat, doch das tut nichts zur Sache. Kein Geheimnis ist 100-prozentig sicher. Man will uns das glauben machen, aber dem ist nicht so ...“ Sie machte eine kurze Pause. „Die Schlussszene mit den Kopfschüssen habe nicht ich abfotografiert. Ich hätte es nicht ertragen, und ...“
Elenor schluchzte und sah kurz unter sich. „Wir hatten kaum Geld zu Hause, aber ich habe immer sehr viel Wert auf Bildung gelegt. Und die Neuen Medien sind faszinierend ... Und wenn kein Mann mehr im Haus ist, muss man sich in technischen Dingen halt selber helfen, nicht wahr ...?“ Sie sagte es fast entschuldigend.
„Wurde ihr Handy denn nicht kontrolliert? Es ist doch verboten, auf dem Stützpunkt Fotos zu machen?,“ fragte Jack.
Elenor schüttelte den Kopf. „Natürlich. Aber an diesem Nachmittag herrschte das Chaos auf der Base. So einen Vorfall gab es noch nie. Zwei eigene Leute von unzähligen Schüssen durchsiebt. Zwei Specialists, die wild um sich beißen ... Nein, an diesem Nachmittag hatten alle, die von dem Vorfall wussten, anderes im Kopf. Und Sie können sicher sein, dass die Nachricht sehr schnell die Runde gemacht hat. Die Offiziere haben alle Soldaten mehr als einmal extrem ins Gebet genommen ... Aber ich will jetzt nicht davon reden. Es ist zu schrecklich.“
Sie wischte sich über die Augen und redete kurz darauf mit fester Stimme weiter.
Ihr Mann war Bürgerrechtler gewesen und vor einigen Jahren in St. Louis erschossen worden. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn sei angespannt gewesen, weil Harry - ihr Sohn - Probleme beim Militär befürchtet hatte.
Jérôme, ihr Mann, hatte irgendwann Big Bobby Bartley auf einer Veranstaltung kennengelernt. Bald hatten sie sich angefreundet. Elenor hatte die Unterlagen eigentlich Bartley geben wollen, doch er hatte abgelehnt. Die Repressionen ihm gegenüber waren in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Perfide Anfeindungen, üble Nachreden und Unterstellungen. Beruflich war Bartley mittlerweile kaltgestellt. Mehr als einmal waren sein Büro und seine Rechner konfisziert worden. Er wollte nicht riskieren, dass das Material, das Elenors Sohn gesammelt hatte, in die falschen Hände geraten würde.
„Nun“, schloss sie. „Schauen Sie sich die Unterlagen an und urteilen Sie selbst ...“ Sie schluckte. „Das Ding, das war nicht mehr mein Sohn. Die haben irgendetwas mit ihm gemacht. Drogen vielleicht, ich weiß es nicht.“ Sie sah nervös zum Fenster. „Würden Sie jetzt bitte gehen. Ich möchte nicht, dass man uns zusammen sieht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht doch observiert werde.“ Sie lächelte ironisch. „Obwohl - wer interessiert sich für so eine alte Schachtel, wie ich es bin? Die denken doch, dass ich kaum meinen Namen schreiben kann. Sei´s drum, ich war mit einem Schwarzen verheiratet, das ist für manche noch immer Grund genug ...“ Ihre Stimme hatte einen bitteren Tonfall angenommen.
Schweigend saßen sie sich gegenüber, bis Elenor die Stille durchbrach und seufzte.
„Harry hatte eine blühende Fantasie, aber er war kein Spinner. Ich habe die Tagebucheinträge auf den USB-Sticks gelesen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch denken soll. Harry hat immer davon geträumt, Romane zu schreiben. Horror, das Fantastische ... Und ich kann nicht ausschließen, dass die Einträge möglicherweise lediglich seiner Fantasie entsprungen sind. Aber ich kann sein Gesicht nicht vergessen, dieses wutverzerrte Gesicht, nicht diese Aggression, das ... das war nicht mehr mein Sohn. Irgendetwas Schreckliches muss passiert sein ...“
Sie sah Joshua in die Augen und schwieg.
„Gut“, sagte Joshua schließlich. „Wir schauen uns das Material an. Sind die USB-Sticks eventuell codiert? Ein Passwort?“
Elenor schüttelte den Kopf. „Nein, was ich ihnen gegeben habe, sind Kopien ohne Passwortschutz. Die Originale liegen in einem Bankschließfach, für den Fall der Fälle.“
„Noch eine letzte Frage. Harry hat nicht bei Ihnen gewohnt. Wie sind sie an die USB-Sticks herangekommen? Ich gehe davon aus, dass das Militär in seinem Fall alles penibel kontrolliert hat. Das Militär oder die Sicherheitsbeamten vom Geheimdienst hätten die USB-Sticks doch sicher zurückbehalten ...“
Elenor lächelte müde. „Das haben sie ..., das haben sie. Nein, Harry hat immer Kopien angefertigt, die er zur Sicherheit hier im Safe hinterlegt hat. Er hat die Daten über ein Fernwartungssystem überspielt, noch bevor er in endgültige Quarantäne ging. Und ich sagte ja bereits, dass mir noch jemand geholfen hat, doch das tut nichts zur Sache ... Wissen Sie, mein Mann hatte zwei Safes einbauen lassen. Einen, der offensichtlich war und sofort ins Auge fiel ...“ Sie sah kurz zu einem Stillleben an der Wand. „Dieser Safe wurde nach Harrys Tod von irgendjemand durchsucht. Jemand war hier im Haus. Ja, während ich auf der Arbeit war, war jemand hier. Aber sie haben nichts gefunden. Jérôme, mein Mann, war ein sehr vorsichtiger Mensch. Es gibt noch einen zweiten Safe, und da habe ich die USB-Sticks aufbewahrt. Und dann eben noch die Originale im Bankschließfach.“ Sie sah kurz unter sich und dann Joshua in die Augen. Und ich wurde auch von Lieutenant Barrows und zwei anderen Beamten so ganz nebenbei danach befragt, ob es da noch Unterlagen gäbe. USB-Sticks, CD-ROMs ... Aber - ich bin halt nur eine einfache Frau, und man traut mir nicht viel zu, glücklicherweise ...“
Joshua und Jack erhoben sich. „Wir melden uns bei Ihnen. Aber - versprechen kann ich nichts.“
„Das erwarte ich auch nicht. Wenn Sie mich anrufen wollen, bitte erst nach 18:00 Uhr, niemals während ich auf der Arbeit bin.“
Joshua und Jack verließen das Haus und gingen zurück zu ihrem Leihwagen.
„Am besten nehmen wir ein Motel“, sagte Jack. Er wies durch die Frontscheibe zu den Wolkenbänken. „Den Spätflug von Columbia Airport schaffen wir heute nicht mehr. „Ich denke, wir sollten Mary-Ann informieren, die sitzt bestimmt schon auf glühenden Kohlen.“
Joshua nickte.
Eine halbe Stunde später checkten sie in einem Motel an der Interstate 70 ein. Joshua erledigte den Anruf bei Mary-Ann, dann wendeten sie sich den USB-Sticks zu. Mary-Ann wollte benachrichtigt werden, wenn sie mit den Sticks durch wären. Sie hatte nervös geklungen, was bei ihr eher selten vorkam. Die seltsamen Vorfälle in den Krankenhäusern und Altenheimen rissen offenbar nicht ab. Doch keiner konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass es erst die Spitze des Eisberges sein sollte ...