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2. Kapitel Welcome to Billings
ОглавлениеRoland Pfeiffer hatte das, was er seinen persönlichen Blues nannte. Fast dreißig Jahre war es her, dass sich der harte Kern der Clique von damals wieder zusammengefunden hatte. Dreißig Jahre, in denen jeder von ihnen seinen eigenen Weg gegangen war, seine eigene Karriere - oder auch nichts - verfolgt hatte. Alles war anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht lag darin das Problem: zu große Erwartungen, die einen zu großen Zeitraum überbrücken sollten. Der Peter von heute war nicht mehr der Kumpel von damals. Peter Marstaller hatte einfach keinen Pepp mehr. Er war nur noch ein braver, langweiliger Mann Mitte fünfzig, dem es finanziell sehr gut ging, der allerdings keine Träume mehr hatte - oder nicht bereit war, über sie zu reden oder sie gar zu leben.
Und Sonja ... Viermal geschieden, glücklicher denn je - nach eigenen Worten. Auch bei ihr spielte der Faktor Zeit die entscheidende Rolle. Vor fast dreißig Jahren, als sie sich im Studium befanden, war Sonja originell gewesen. War sie das? Eine Type, mit der man durch dick und dünn gehen und sprichwörtlich Pferde stehlen konnte. Sonja hatte sich von jeher nie um Konventionen gekümmert. Lebe dein Leben, und vergiss, was die anderen sagen - oder denken ... Damals. Mittlerweile empfand er Sonja nur noch als peinlich. Ein Plappermaul, das unentwegt irgendeinen Müll von sich gab. Das Leben war groß und großartig, und wir alle sind ja so cool. Und finanzielle Sorgen - die haben die anderen. Also machen wir einen drauf. Nun, mit Anfang zwanzig mag so etwas noch cool erscheinen, doch ihre Zwanziger waren lange vorbei, und irgendwie war es nur noch öde, den Verbalergüssen der eher unhübschen Mittfünfzigerin zuhören zu müssen.
Roland seufzte. Er starrte nach vorne durch die Windschutzscheibe des Campers. Sie hatten die nur teilweise befestigte Seitenstraße, die aus den Wäldern zurück in die Zivilisation führte, seit einer halben Stunde hinter sich gelassen und befanden sich auf einer Landstraße nach Billings. Nicht ein anderes Auto war ihnen begegnet, auch keine Wohnmobile, aber Charlotte hatte nur darauf hingewiesen, dass diese Landstraße wohl eher selten frequentiert wurde. Hier, das waren die USA, alles war weiter, größer und nicht so beengt wie in Deutschland oder sonst wo in Europa.
Charlotte ..., sinnierte Roland weiter. Er war entsetzt gewesen, als sie sich nach all den Jahren wieder gegenübergestanden hatten. Er hatte sie schlichtweg nicht erkannt. Vor ihm stand eine zierliche Person, die gut und gerne einem Horror-Film hätte entsprungen sein können: Von zu vielen Zigaretten bräunlich verfärbte Zähne, eine unreine, fahle Gesichtshaut. Dazu schulterlange Haare, die eher zu einem Hippie oder einem Teenager gepasst hätten. Vor allem ihr Untergewicht hatte ihn erschreckt. Charlotte wirkte wie eine Magersüchtige, was sie aber nach eigenem Bekunden allerdings nicht war. Krebs war ihre lapidare Reaktion auf seinen offensichtlich entsetzten Blick gewesen. „Das haut jeden aus den Schuhen.“
Roland ahnte eher, als dass er es wissen konnte, dass es mit der Ehe von Charlotte und Sam nicht gerade zum Besten stand. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, hätte er sowieso niemals damit gerechnet, dass die beiden es fast dreißig Jahre miteinander aushalten würden. Charlotte verhielt sich sehr schmallippig, wenn es um ihre Familie ging. Sam war im Manöver, nun ja, und die Kinder sind schon lange außer Haus. Der eine ist im Knast, der andere bei den Barmherzigen Schwestern - und der andere hängt irgendwo bekifft bei einer Prostituierten ab ... Ähnlich zynisch hatte sie am Lagerfeuer ein kurzes Resümee ihrer Ehe nebst Familienentwicklung von sich gegeben. Sonja hatte dabei herzhaft gelacht und Charlotte auf die schmalen Schultern geklopft, dass Roland glaubte, sie hätte Charlotte ein paar Rippen gebrochen. Nein, gestand sich Roland ein. Charlottes Verbalfäkalien und ihr beißender Zynismus waren nie seine Sache gewesen, vielleicht früher einmal, als sie sehr viel jünger waren. Es musste eine Ewigkeit her sein.
Aber an ihren Äußerungen war mehr dran, das wusste Roland. Charlotte hatte kurz vor der Abfahrt heute Morgen angedeutet, dass sie ebenfalls nach Deutschland zurückkehren würde. Nach all den Jahren, in denen sie keinen oder nur noch sporadischen Kontakt zu ihrer Familie gehabt hatte. Es würde, so hatte Charlotte angedeutet, für sie den endgültigen Abschied von den Staaten bedeuten, und auch von Sam. Ihnen war klar gewesen, was für ein einschneidender Schritt dies für Charlotte bedeutete, immerhin hatte die adlige Charlotte von Hohefeldt damals mit ihrer Familie gebrochen, um ihren geliebten Amerikaner heiraten zu können, den sie in ihrer Zeit an der Frankfurter Goethe-Uni kennen- und lieben gelernt hatte. Peter oder Sonja - Roland erinnerte sich nicht mehr so genau daran - hatte dann gefragt, ob es nur ein Versöhnungsbesuch bei ihrer Mutter und ihrer Schwester wäre, doch Charlotte hatte nicht weiter darauf eingehen wollen. „Ich bin fertig mit Sam“, war alles, was sie gesagt hatte.
Roland schüttelte den Kopf und drängte die Gedanken zurück, die ihm Reminiszenzen seines eigenen Lebens zurückbringen wollten. Immerhin hatte er nur zwei Ehen in den Sand gesetzt, weil er seinen gottverdammten Schwanz nicht unter Kontrolle hatte halten können. Sibylle war weg, die Kinder auch - und er konnte es ihnen nicht verdenken. Wenigstens war er finanziell aus dem Schneider. Sibylle hatte noch nicht einmal Geld gewollt, nicht, nachdem sie ihn mit der billigen Nutte von der Kaiserstraße auf dem Sofa erwischt hatte. Ekel war alles, was ihr Gesichtsausdruck gezeigt hatte. Ekel, den ihn seine Kinder noch immer spüren ließen.
„Hier stimmt etwas nicht“, riss ihn Charlottes Stimme aus den trüben Gedanken. Das Wohnmobil hatte den Ortseingang von Billings erreicht. Roland ließ den Camper ausrollen und hielt am Straßenrand an.
„Ist was?“, fragte Sonja, die wohl kurz eingenickt war, doch jetzt wieder hellwach schien.
„Sieht ziemlich verlassen aus, was?“, murmelte Peter, der herzhaft in ein Schinkensandwich biss und genüsslich vor sich hin kaute.
Roland warf Charlotte einen schnellen Blick zu. „Billings ist bestimmt nicht der Nabel der Welt, aber ...“ Er stockte und wies dann durch die Frontscheibe zu einigen verlassenen Autos, die offensichtlich einfach auf der Straße abgestellt worden waren, als hätten die Fahrer vor irgendetwas die Flucht ergriffen. Einige der Wagentüren standen offen. „Neun Uhr morgens, keine Passanten, keine Busse, nichts ...“
„Fahr langsam im Schritttempo weiter“, sagte Charlotte leise. Das, was sie da draußen sah, gefiel ihr nicht. Ein ganz komisches Gefühl war ihr in den Nacken gekrochen. Sie fröstelte. „Billings besteht im Grunde genommen nur aus der Main Street, einigen Läden und dann den Crescents mit den neuen Apartments. Viele Pendler, die in Baxter´s Creek arbeiten, wohnen hier in Billings, weil die Apartments damals günstig zu haben waren. Und die fünfzig Meilen bis Baxter sind über die neue Schnellstraße nur ein Katzensprung ... Fahr einfach die Main Street entlang, und ...“
„Sollten wir nicht mal aussteigen und uns umsehen?“, unterbrach sie Peter. „Dass man die Autos einfach so stehen gelassen hat, ist wirklich komisch. Vielleicht finden wir doch jemand, den wir ...“
„Hört doch auf, hört auf ...!“, stieß Sonja erbost hervor. „Mein Gott, leidet ihr unter Paranoia oder was? Das ist einfach nur ein verschlafenes Nest im nirgendwo. Hört mit diesen Gruselgeschichten auf, und ...“
„Halt die Klappe! Wer lässt sein Auto denn mit offener Tür so einfach auf der Straße stehen, kreuz und quer geparkt ...?“, fuhr ihr Roland in die Parade. Er legte den Zeigefinger an die Lippen und ließ die Seitenscheibe herunterfahren. Alle schwiegen, bis Charlotte plötzlich nickte.
„Sirenen“, sagte sie. „Irgendwo in der Ferne.“
Roland nickte. Auch Peter und Sonja hörten es mittlerweile.
„Vielleicht gab es einen Unfall auf der Militärbasis, wo dein Mann arbeitet ...“, setzte Sonja an, doch Charlotte winkte ab. „Die Sirenen kommen nicht aus einer Richtung, achtet mal darauf. Das ist das ganze Umland. Wenn hier etwas passiert ist, muss es eine größere Sache sein.“
Roland wartete einen Moment, dann öffnete er die Tür, erhob sich vom Fahrersitz und stieg aus. Als er draußen vor dem Camper stand, drehte er sich langsam um die eigene Achse, blieb dann stehen und sah zu den anderen, die ebenfalls ausgestiegen waren. Er nickte. „Das Sirenengeheul kommt von überall her.“
Sonja wirkte verängstigt, was bei ihr nicht oft der Fall war. Sie wandte sich an Charlotte. „Gibt es hier Chemiewerke oder so was? Sprengstoff, der hochgegangen sein könnte?“
Charlotte schenkte Sonja einen nachdenklichen Blick: „Hier gibt es nur Whitehawk Air Force Base, wo Sam stationiert ist. Und der Stützpunkt liegt auch nicht gerade hier um die Ecke. Das sind schon noch ein paar Meilen bis dorthin. Keine Chemieunternehmen, keine Sprengstofffabriken, nur Farmen, Weideland und einige neue Ökoplantagen, wo man Gemüse unter Treibhausbedingungen anbaut. Wir befinden uns hier mehr oder weniger im Niemandsland zwischen Kansas City und Columbia.
„Und wenn es auf der Air Force Base einen Zwischenfall gegeben hat? Vielleicht sind dort auch Atomraketen stationiert?“, fragte Sonja, die nervös am rechten Daumennagel kaute.
Charlotte verdrehte die Augen. „Siehst du irgendwo einen Atompilz, Sunny?“
„Nenn mich nicht Sunny!“, wehrte sich Sonja. Das mochte sie überhaupt nicht. „Aber wie ist das nun mit der Air Force Base? Was machen die denn da - du hast doch irgendwann einmal gesagt, dass es ein Riesenstützpunkt wäre?“
Roland und Peter verdrehten die Augen, und auch Charlotte kämpfte mit sich, um Sonja nicht einfach anzubrüllen. Am liebsten hätte sie ihr eine runtergehauen. So viel Blödheit war wirklich nur schwer zu ertragen. Sonja konnte unglaublich nerven. Ja, darin war sie wirklich gut. Wenigstens etwas, das sie beherrschte.
Charlotte atmete kräftig durch. Sie zuckte kurz die Achseln. „Um so was habe ich mich nie gekümmert, wozu auch? Der ganze Militärscheiß hat mich nie interessiert, und abgesehen davon, durfte Sam darüber auch nicht reden. Was dachtest du denn, dass er mir etwa Rapport erstattet? Schätzchen! Sam doch nicht!“
Nichts hat Sonja gedacht, fuhr es Peter durch den Kopf. Wie meistens. Sie war und blieb ein naives Plappermaul, das noch nie im Leben richtige Probleme hatte. Ein unhübsches Partygirl, das mittlerweile in die Jahre gekommen war, mehr war sie nicht - nun, vermutlich musste es auch so etwas geben. Sie hatte immerhin Geld - und davon nicht zu wenig.
„Wir fahren weiter“, sagte Roland bestimmt. Er zog den Kragen seiner Jacke etwas höher, als ein eisiger Wind durch die Straße fegte. Die anderen nickten und wollten gerade einsteigen, als etwa fünfzig oder sechzig Meter die Straße runter jemand auf dem Bürgersteig erschien.
„Da ist also doch jemand“, stellte Sonja lapidar fest, als hätte sie nichts anderes erwartet.
„Ist der besoffen?“, fragte Peter. „Der Kerl schwankt, als hätte er einige Bierchen zu viel im Blut.“
„Wie höflich du bist“, kicherte Sonja albern. „Ich würde eher sagen: sternhagelvoll, aber ...“
„Ins Wohnmobil!“, kommandierte Roland, der Charlotte einen schnellen Blick zuwarf. Sie stiegen wieder ein. Sonja schüttelte missmutig den Kopf, als sie wieder an der Essnische Platz genommen hatte. Die haben überhaupt keinen Humor mehr!, dachte sie verstimmt. Sie war froh, dass die Trekking-Tour zu Ende war. Die Stimmung früherer Zeiten hatte sich einfach nicht mehr einstellen wollen.
„Fahr ganz langsam an den Wagen vorbei weiter Richtung Ortsausgang. Billings besteht per se nur aus der Main Street, die Seitenstraßen kannst du vergessen, die enden alle in Sackgassen“, sagte Charlotte, als Roland den Motor gestartet hatte und das Wohnmobil langsam anrollen ließ. Der Unbekannte auf dem Bürgersteig war noch immer nur eine dunkle Silhouette, die aus gut fünfzig Metern Entfernung langsam näher kam.
„Der sieht verletzt aus“, murmelte Peter. Er stand mittlerweile zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und starrte durch die Frontscheibe zu der torkelnden Gestalt. „Das Einzige, was an mir noch gut funktioniert, sind meine Augen“, bemerkte er kurz halblaut, ging aber nicht weiter auf die Aussage ein. Peter hatte in den letzten Jahren etliche Probleme mit dem Rücken gehabt, doch die empfohlene Bandscheibenoperation hatte er niemals durchführen lassen. Ihm waren die Erfolgsaussichten einfach zu gering erschienen, also probierte er es stattdessen mit Kraftsport und Gymnastik.
„Jetzt sehe ich es auch“, bestätigte Roland.
Der schwankende Mann - oder war es eine Frau? - schien blutüberströmt zu sein. Er hinkte und zog ein Bein hinter sich her. Der rechte Arm hing irgendwie verdreht an der Schulter, als wäre er mehrfach gebrochen und zusätzlich aus dem Gelenk gedreht worden.
„Wir müssen ihm helfen“, stellte Sonja mit heiserer Stimme fest. Sie hatte ihre Brille aufgesetzt, die sie auch nicht intelligenter aussehen ließ, und war nach vorne gekommen, wo sie dicht neben Peter stehen geblieben war. Peter hasste es, wenn ihm Sonja derart auf die Pelle rückte, aber er sagte nichts. Es würde doch nur wieder Streit geben. Darauf konnte er verzichten. Roland fuhr langsam weiter und manövrierte den Camper um zwei Autos herum, die schief auf der Straße abgestellt waren. Der Fremde war schwankend stehen geblieben. Offensichtlich hatte er das Wohnmobil entdeckt. Fast sah es aus, als würde er auf etwas herumkauen. Sein Kiefer bewegte sich unentwegt. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er war noch 35 oder 40 Meter entfernt.
„Mein Gott, schaut euch sein Gesicht an,“ stieß Peter plötzlich hervor. „Ein Auge fehlt, und die Schädeldecke ist aufgerissen, und ...“
„Halt an!“, sagte Charlotte schnell zu Roland, der diese Aufforderung nicht brauchte.
„Wir müssen ihm helfen, ich gehe zu ihm hin und ...“, setzte Sonja an, doch Roland fuhr ihr in die Parade.
„Niemand geht nirgendwohin! Türen verriegeln. Da stimmt was nicht! So, wie der Mann oder das ... Ding da aussieht, kann kein Mensch sich mehr bewegen. Der müsste tot sein!“
„Ihr seid ja nicht ganz bei Trost“, giftete Sonja. „So ein Blödsinn! Der Mann wurde wahrscheinlich zusammengeschlagen und niemand hilft ihm! Ich ...“
„Sonja ...“, setzte Charlotte an, doch da hatte ihre Freundin aus Studienzeiten schon die Seitentür des Campers geöffnet und war aus dem zum Stillstand gekommenen Wohnmobil hinausgesprungen. Sonja, die noch nie die Schnellste auf den Beinen war, watschelte in dem ihr eigenen Gang auf den Fremden zu und rief etwas, das man halbwegs als Do you need help! identifizieren konnte. Der Mann - wenn es ein Mann war - schwankte langsam auf sie zu. Es sah aus, als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten. Sein Kiefer bewegte sich unentwegt, so, als würde er auf einem zähen Stück Fleisch herumkauen.
„Nicht verdammt!“, fluchte Roland, als Charlotte Sonja hinterher wollte. „Ich fahre noch ein Stück näher ran.“ Er beschleunigte etwas, um Sonja einzuholen, die den Fremden mittlerweile erreicht hatte und wild gestikulierend auf ihn einzureden schien. Plötzlich sah es aus, als würde der Fremde Sonja in die Arme fallen oder sie umarmen. Dann ereigneten sich verschiedene Dinge gleichzeitig. An einem der Häuser entlang der Main Street öffnete sich im zweiten Stock ein Fenster. Irgendjemand mit einem Gewehr zielte auf Sonja und den Fremden. Aber es fiel kein Schuss.
„No, no, away, don´t touch, run ...“, rief jemand vom Fenster her. Die Stimme hallte durch die Straße.
Charlotte hielt es nicht mehr auf dem Sitz. Sie warf Roland einen schnellen Blick zu, der das Wohnmobil keine zehn Meter vor Sonja und dem Fremden zum Halten gebracht hatte, und eilte aus dem Camper. Peter und Roland folgten ihr Augenblicke später. Sie blieben vor dem Camper stehen und warfen sich einen schnellen Blick zu, doch noch bevor sie zu Sonja hingehen konnten, schrie ihre Freundin plötzlich entsetzt auf. Charlotte glaubte, gesehen zu haben, dass der Fremde Sonja in den Nacken gebissen hatte, und wollte zu ihr hinlaufen, doch Roland hielt sie am Arm fest. Sonja und der Mann rangelten miteinander. Immer wieder versuchte Sonja, ihn von sich zu stoßen. Dann fiel der Fremde hin und blieb grunzend am Boden liegen. Sonja wandte sich schnell um und taumelte mit schmerzverzehrtem Gesicht zu den Freunden zurück. Charlotte nahm Sonja in die Arme.
Der Fremde versuchte, sich gerade wieder aufzurappeln, als ein Schuss die morgendliche Stille in Billings zerriss.
Wo eben noch der Kopf des Fremden gewesen war, breitete sich eine blutige Masse über den Bürgersteig aus.
Peter und Roland sahen sich gehetzt um und zogen Charlotte und Sonja zum Camper zurück, um dort halbwegs Deckung zu finden.
Das Stöhnen ist weg!, fuhr es Charlotte durch den Kopf. Das war es, was sie die ganze Zeit über irritiert hatte. Sie hatte den Laut nicht zuordnen können. Es war nicht das Stöhnen eines Verwundeten gewesen, es klang - wilder, animalischer. Sie meinte die Laute, die der Unbekannte von sich gegeben hatte.
„Das Schwein hat mich gebissen, gebissen, ist das zu glauben, ich glaub´s einfach nicht, ich ...“, jammerte Sonja, die sich mit dem Rücken gegen den Camper fallen ließ und den Kopf senkte. Ihr war schwindlig, und sie glaubte, umkippen zu müssen. „Das hat man jetzt davon, wenn man zu hilfsbereit ist. Lasst nur, mir geht es schon wieder besser. Muss nur kurz durchschnaufen“, stöhnte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, lächelte aber dabei.
„Zurück ins Wohnmobil! Los, bevor die uns auch noch abknallen!“, sagte Roland schnell. Er wollte gerade einsteigen, als Charlotte und Peter Sonja festhalten mussten, der es offensichtlich doch schlechter ging, als sie hatte zugeben wollen.
Roland sah schnell die Straße entlang, hoch zu den Fenstern, von wo aus der Schuss gekommen war. Das Fenster war wieder geschlossen worden.
„Lass mal sehen“, sagte Charlotte, die sich die Verletzung ansehen wollte, zu Sonja.
„Schlimm?“, fragte Sonja schluchzend.
„Na ja, schön sieht es nicht aus“, murmelte Charlotte kopfschüttelnd.
Plötzlich standen zwei Männer vor der Clique. Bewaffnete Männer. Keiner hatte sie kommen hören. Sie hielten den Lauf der Gewehre nach unten.
„Wurde sie gebissen“, brachte einer der Männer heiser zwischen den Lippen hervor. Offensichtlich hatten Roland und Peter Verständnisprobleme. Sonja sah Charlotte fragend an, die die beiden Fremden stumm musterte.
„Ja“, sagte Charlotte.
„Wo?“, fragte der größere der Männer.
„Oberer Schulterbereich, das muss genäht werden. Habt ihr hier einen Arzt?“, fragte Charlotte zurück. Sie ignorierte die Waffen. Sehen nicht wie Freaks aus!, schoss es ihr durch den Kopf. „Sonst müssen wir nach Baxter. Mit Bissen von Menschen ist nicht zu spaßen, da ...“
„Weg von ihr!“, forderte der kleinere der beiden Männer sie auf. Der größere richtete die Waffe auf Sonja und sagte: „Move.“
Sonja, deren Englisch praktisch nicht vorhanden war, sah ihre Freunde fragend an. „Krankenhaus? Was will der mit der Waffe, ich habe doch nur ...“, flüsterte sie, bewegte sich dann aber vom Camper weg. Sie hatte Angst, hielt den Blick auf die Waffe des Fremden gerichtet. Blitze traten ihr vor die Augen, der Schwindel war schlimmer geworden. Und ihr war schrecklich übel. Sie stolperte weiter rückwärts auf den Bürgersteig zu, wo der Erschossene in seinem Blut lag. „Bitte, nicht schießen, bitte nicht.“
„Was soll das?“, fragte Roland, doch der kleinere der Männer warf ihm nur einen schnellen Blick zu und hob den Lauf des Gewehres etwas an. „Nicht!“, sagte Peter leise, als Roland sich dem Mann nähern wollte. Roland blieb mit wütender Miene stehen.
„Noch weiter“, forderte der größere der Männer Sonja auf, die mit verzerrtem Gesichtsausdruck zurückwich. Tränen standen ihr in den Augen. Hilfe suchend blickte sie an dem Mann vorbei zu ihren Freunden, die beim Camper stehen geblieben waren.
Charlotte sah schnell zu Peter und Roland. Keiner von ihnen wagte es, sich zu regen. Die ganze Situation ergab keinen Sinn: Sonja hatte einem Unbekannten helfen wollen und war gebissen worden. Warum legte der Mann jetzt die Waffe auf sie an?
„Sorry“, sagte der größere der Männer.
Er schien sehr geübt mit der Waffe. Der Schuss traf Sonja direkt zwischen die Augen, trat hinten wieder aus und riss etliches an Gehirnmasse mit sich. Das war noch, bevor die kleine, rundliche Frau rückwärts auf dem Bürgersteig aufschlug und ihrem mehrfach glücklich geschiedenen Leben ein schnelles Ende bereitet worden war.
Der kleinere der Männer nickte den Freunden zu und trat dann neben den größeren Mann, der mittlerweile die Waffe gesenkt hatte. Sonja lag irgendwo hinter den beiden, nah bei dem Fremden, der sie kurz zuvor gebissen hatte. Erst jetzt fiel Charlotte auf, dass der größere der Männer einen Cowboyhut trug, den er kurz antippte.
Er sah Charlotte in die Augen. „Du hast Glück gehabt, dass wir dich nicht auch erschossen haben, so, wie du aussiehst. Aber die Untoten können nicht reden. Trotzdem - sorry und willkommen in Billings ...“