Читать книгу Der literarische Realitätenvermittler - Joachim Hoell - Страница 10
Geschichte
ОглавлениеJeder einzelne Text hat Vorgänger- und Folge-Texte, d.h. er repräsentiert einen Zwischen-Text in der Diachronie der poetischen Evolution.24
Julia Kristeva prägte den Terminus in den sechziger Jahren mit explizitem Rückgriff auf Michail Bachtins Begriff der »Dialogizität«. Bachtin kritisierte die Erstarrung der postrevolutionären Kulturpolitik in der Sowjetunion und setzte dieser »Monologizität« seine Theorie der »Dialogizität« entgegen. Bachtins Konzept bezieht sich auf den Dialog der Stimmen innerhalb der Sprache, der Kunst und der Gesellschaft:
Außer der vom Wortkünstler vorgefundenen Wirklichkeit von Erkennen und Handeln wird von ihm auch die Literatur vorgefunden: es gilt, gegen oder für alte literarische Formen zu kämpfen, sie sind zu benutzen oder zu kombinieren, ihr Widerstand ist zu überwinden oder in ihnen ist Unterstützung zu suchen. Doch all dieser Bewegung und diesem Kampf im Rahmen des rein literarischen Kontextes liegt der wesentlichere, bestimmende primäre Kampf mit der Wirklichkeit von Erkennen und Handeln zugrunde […].25
Die Polarität von Affirmation und Destruktion ist in der Theorie der Intertextualität oftmals die Achse, um die sich die Diskussion dreht. Die Sprengkraft gegen die bürgerliche Ideologie war eines der faszinierendsten Momente der Bachtinschen »Dialogizität« für Kristeva, die den Begriff der Intertextualität folgendermaßen in die Literaturdebatte einführte:
[…] tout texte se construit comme mosaique de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double. 26
Dieser "andere Text" ist jedoch ein Universum von Texten, wobei der Textbegriff selbst so entgrenzt wird, daß jedes kulturelle System, also auch Geschichte und Gesellschaft, Text sein soll. Die Tötung des Subjekts, das hinter dem Text verschwindet, ist die Antwort des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus auf den bürgerlichen Begriff eines autonomen und intentionalen Individuums. Diese Zuspitzung der Bachtinschen Gedanken markiert zwar in der Literaturtheorie eine neue Dimension der Rezeptionsästhetik, ist aber nur die bereitgestellte Terminologie für früher gewonnene Einsichten. Jorge Luis Borges, der »Vater der Postmoderne«, formulierte bereits in den dreißiger Jahren in seinen Fiktionen wiederholt die Vormacht des Textes über seinen Autor. In der Erzählung »Die Bibliothek von Babel« setzt er die Bibliothek und das Universum gleich und gelangt zu folgender Konklusion:
Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen.
[…]
Die Bibliothek ist unbegrenzt und zyklisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmäße, so würde er nach Jahrhunderten feststellen, daß dieselben Bände in derselben Ordnung wiederkehren (die, wiederholt, eine Ordnung wäre: Die Ordnung).27
Dieser entgrenzte, unendliche Begriff des Textes zeichnete den Intertextualitäts-Diskurs der späten sechziger und siebziger Jahre aus, in dem jeder Text dem Universaltext angehört, der mit der Wirklichkeit und der Geschichte zusammenfällt. In der Folge wurde versucht, den Begriff enger zu fassen, unter den sich nicht jeder Text in einem regressus ad infinitum subsumieren läßt.
Wie weit Bernhards Auslöschung von einer nicht geglückten Subjektwerdung erzählt und dies poetologisch mit der Form des Romans verknüpft, wird im konkreten Textvergleich im Hauptteil überlegt werden.
Nach diesem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Intertextualität soll im folgenden das theoretische Instrumentarium bereitgestellt werden, das zur Dechiffrierung der Beziehung der Auslöschung zu dem genannten Kanon an Prätexten beitragen soll.