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Autor-Autoreflexivität

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Wie bereits im Kapitel »Zeitliche Einordnung« gezeigt wurde, gibt es einige Parallelen zwischen der Auslöschung und Bernhards letztem Band seiner Autobiographie Ein Kind. Daß Bernhards Kindheits-Tetralogie biographische Ungenauigkeiten und bewußte fiktionale Ausschmückungen enthält, ist mittlerweile evident55. Bernhard leugnete dies nie, denn "[l]etzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an" (Ke 33), bekennt er in Der Keller (1976). Bernhard läßt seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen oftmals unverdeckt in seine Schriften einfließen, so daß viele der wesentlichen Figuren in seinem Werk zwar nicht Selbstcharakterisierungen Bernhards sind, aber dennoch solche enthalten. Diese Ich-Konstruktionen sind zwar nie Bernhard – selbst in den Autobiographien nicht -, aber sprechen, denken und reflektieren die »Realität« in verwandter Weise wie er.56 Dieser Sachverhalt illustriert, wie autobiographisch selbst Bernhards fiktionale Literaturprodukte sind, also seine Erzählungen, Romane und Stücke. Eine Identität von Bernhard und seinen Figuren dahinter zu vermuten, entspräche nicht dem fiktionalen und künstlichen Eigenwert seines Werkes, jedoch besitzen die Protagonisten im Bernhardschen Œuvre viele Züge ihres Schöpfers. Die Bernhard-Kritikerin Sigrid Löffler insistiert nachdrücklich auf der Relation zwischen dem Autor Thomas Bernhard und der Figur Franz-Josef Murau:

Jedenfalls sollte man, wenn man Bernhard schon liest, hinter all dem Gefasel, Geschwätz und Gefuchtel nach dem wahren Thomas Bernhard suchen – das ist ein vor Selbstekel und Selbstmitleid heulender, ganz kleinlauter Wicht, der mitten im Buch hockt, dort wo alle Aufplusterungen nichts mehr helfen.57

Diese vehemente Äußerung – Murau selbst erklärt, daß der "Übertreibungsfanatismus nämlich zur Übertreibungskunst" (A 611) wird – trifft in ihrem Kern den Roman in seinem tiefsten Inneren, denn Bernhard sitzt tatsächlich mitten in seinem Buch.

Wenn Murau Gambetti auch "Amras von Thomas Bernhard" (A 7) zur Lektüre gibt, ist dies nicht nur ein eitler und ironischer Verweis Bernhards, in das Pantheon der Weltliteratur eingeschlossen zu sein, sondern auch der Hinweis, den intertextuellen Zusammenhang zwischen dem frühen Amras und der späten Auslöschung zu dechiffrieren. Pointiert bedeutete dies, daß er sein Erzählwerk auch in Bezug zu der Auslöschung setzt. Die Autoreflexivität Bernhards scheint nicht nur in der Wiederkehr thematischer, sondern auch formaler und stilistischer Merkmale auf. Den ständigen, topoihaften Wiederholungen in Bernhards Werk spricht Huntemann "selbstparodistische Züge" zu, woraus er folgert:

Für die Rezeption und Beurteilung eines späten Textes wie »Auslöschung« ist es daher nicht unerheblich, ob er für sich allein oder vor dem Hintergrund des bisherigen Erzählwerks gelesen wird, was ihn weitgehend als Ansammlung von Selbstzitaten erscheinen ließe.58

Murau, der sich der Literatur "verschrieben" (A 609) hat – und dies ist einmalig in Bernhards Werk, daß der Protagonist sich primär mit Literatur beschäftigt -, erweist auch dem Schriftsteller Thomas Bernhard Reverenz. Die Genese der Auslöschung aus Bernhards literarischem Vorleben, die Murau als einen in dieser Bernhardschen Erzähltradition stehenden und sich dessen bewußten Protagonisten wählt, vermag nicht nur die Auslöschung, sondern das gesamte Bernhardsche Œuvre zu reflektieren. Ulrich Suerbaum stellt die Hypothese einer Reihe auf – in Bezug auf Poes Murders of the Rue Morgue zu Conan Doyles Sherlock Holmes -, die sich auch auf eigene Texte beziehen kann:

Bei der linearen Intertextualität spielen die Bezüge auf andere Werke der eigenen, dem Autor zugehörigen Reihe eine wichtige Rolle, mitunter eine wichtigere als übergreifende Bezugsnahmen. »Genre begins at home«.59

Bernhards Romane und Erzählungen als eine Reihe oder gar als ein eigenes Genre zu bezeichnen, würde die Entwicklung innerhalb seiner Prosa verleugnen, jedoch ist gerade die Auslöschung so strukturiert, daß sie die heterogenen Elemente als linearen Schlußpunkt zusammenzufassen versucht. Diese intertextuelle Autor-Autoreflexivität ermöglicht am Ende seines Prosa-Schaffens dessen Spiegelung in Form einer literarischen Lebensbilanz durch Bezugnahme, Relativierung bis hin zur Konterkarierung vormals erschienener Schriften. Daher wird die Untersuchung von Thomas Bernhards früher Erzählung Amras (1963) – als paradigmatischem und in der Auslöschung erwähnten (Prä-)Text des Autors – immer wieder durch das Bernhardsche »Palimpsest« transparent werden.

Ob Bernhard diese intertextuelle Untersuchung für gut befunden hätte, soll dahingestellt bleiben; Murau z.B. fordert einen vollkommen "unverschämten" Umgang mit seinen »Liegenschaften«, denen er "die philosophischen Eingeweide bei lebendigem Leib herausreißen" (A 154) will.

Bernhards oftmals formulierte Feindlichkeit jedweder Literaturkritik, insbesondere der Germanistik, hat seine Schriften nicht vor dem Zugriff durch Analysen und Exegesen psychoanalytischer, strukturalistischer, feministischer, philosophischer, politischer und sonstiger Provenienz bewahrt. Der intertextuelle Zugriff ist nun eine weitere Form der Usurpation, die Bernhard allerdings durch die inflationäre Nennung von Werken und Autoren provoziert. Daß er diesem Versteckspiel des Autors mit dem Rezipienten selbst als Leser gefrönt hat, belegen seine in den fünfziger und sechziger Jahren bevorzugt gelesenen Werke der Moderne. Er bekennt in einer Notiz zu seinen 1981 wiederaufgelegten Gesammelten Gedichten, daß ihn "vor allem die Schriften Eliots (The Waste Land), Pounds, Eluards" (G 277) beschäftigten. Insbesondere Eliots Gedichtopus The Waste Land (1922), das neben dem im gleichen Jahr erschienenen Ulysses von James Joyce als einer der kanonisierten Texte der Moderne und als der Schlüsseltext der Intertextualität gilt, ist intratextuell unentzifferbar.60 Thomas Bernhard schien das intertextuelle Spiel zu akzeptieren, das nun vielleicht einen neuen Schlüssel zu seinem verriegelten Werk bildet, denn: "ein Buch soll ja sein wie ein Kreuzworträtsel".

Der literarische Realitätenvermittler

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