Читать книгу Der literarische Realitätenvermittler - Joachim Hoell - Страница 6
I. Einleitung
ОглавлениеAber wir sind eingeschlossen in eine fortwährend alles zitierende Welt, in ein fortwährendes Zitieren, das die Welt ist ... (Thomas Bernhard Verstörung)
Die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seines Bruders führt für den Österreicher Franz-Josef Murau zu einer Reflexion seines Lebens in Rom und seiner Kindheit in Wolfsegg. Der dem Leser vorliegende Bericht ist Muraus literarische Bewältigung seines "Herkunftskomplex[es]" (A 201), der Auslöschung, die bis auf die Einschübe eines ungenannten Herausgebers identisch mit der Auslöschung1 ist. Obwohl Murau der Verfasser der Schrift ist, behauptet er, daß er nie ein Schriftsteller habe sein wollen, er wollte lediglich "etwas aufschreiben, nur für mich" (A 617):
Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, habe ich zu Gambetti gesagt, nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, habe ich zu Gambetti gesagt, ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen. (A 615)
Diese Selbsteinschätzung erhellt aus seiner Tätigkeit in Rom: er ist der Deutschlehrer Gambettis, der diesem die deutsche Literatur nahezubringen versucht. So wird auf den ersten zwei Seiten des Romans ein Kanon zu lesender Werke aufgestellt, die Gambetti "auf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen Langsamkeit" (A 7) studieren soll. Im Verlauf des Romans wird diese Literaturliste ständig erweitert, um am Ende mit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser "Bibliothek […] des bösen Geistes" (A 149) gefüllt zu haben. Der geistesgeschichtliche Horizont, den Murau in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Ingeborg Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart.
Dieses name-dropping scheint gewissermaßen die einzelnen Autoren und Werke einzuebnen, so daß in der Forschungsliteratur zur Auslöschung zumeist der Brückenschlag zwischen der bedeutungslosen Geste des Hofmeisters und der totalen Auslöschung Muraus konstatiert wird, der den Sinn der Lektüreempfehlungen für den Roman negiert.
In dieser Arbeit soll entgegen dieser mittlerweile tief verwurzelten Meinung eine Recherche nach den von Murau vermittelten »Liegenschaften« durchgeführt werden; die Bedeutungen für die eigene Schrift des »literarischen Realitätenvermittlers« wie für Thomas Bernhards Auslöschung müssen dabei eruiert werden. Bernhard als realer Autor des vorliegenden Textes schiebt einen fiktiven Autor vor, um sein eigenes Ich hinter diesem verstecken zu können, ein Kunstgriff, der ihm ein gewaltiges Artikulationsfeld eröffnet. Wie Bernhard diese Möglichkeiten auszuschöpfen trachtet, soll im folgenden ersichtlich werden, denn die Lektüreerfahrungen Muraus sind auch die seinigen, allerdings mit dem qualitativen Unterschied, daß Bernhard diese »Realitäten« im Gegensatz zu Murau zu differenzieren weiß.
Muraus Empfehlung an Gambetti, auch "Amras von Thomas Bernhard" (A 7) zu studieren, ist ein deutliches Signal, daß Bernhard diese frühe Erzählung aus dem Jahre 1964 in Bezug zur Auslöschung setzt, um den Kreis zu seinen literarischen Anfängen zu schließen. Darüber hinaus weist der Umstand, daß die Auslöschung die zuletzt veröffentlichte und die umfangreichste Prosaschrift Bernhards ist, in der seine bevorzugten Literaten und Philosophen vereinigt werden, darauf hin, die Auslöschung könnte sein literarisches Vermächtnis darstellen, sein opus summum, in dem er Bilanz zieht.
Die möglichen Bedeutungsfelder dieser »Liegenschaften« sollen im Hauptteil gezeigt werden. Einerseits unter dem Aspekt, daß es Bernhards wichtigste Autoren sind, die ihn thematisch, weltanschaulich und ästhetisch geprägt haben, andererseits, daß es die die Auslöschung konstituierenden Autoren sind, die der fiktive Autor Murau einbringt. Dieser auf zwei Ebenen geführte Dialog mit den sogenannten Prätexten bedarf eines theoretischen Instrumentariums, das im Kapitel »Intertextualität« erarbeitet werden wird. Zuvor soll eine »Zeitliche Einordnung« der Auslöschung in Bernhards Werkgeschichte die intertextuellen Bezüge innerhalb des eigenen Schaffens umreißen und ein Überblick zur Geschichte des »Realitätenvermittlers« die Konnotationen dieses Berufs in Bernhards Werk darstellen.