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Оглавление2. Realitätenvermittler
Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. (Novalis)8
Der des Österreichischen nicht mächtige Leser vermeint in dem Begriff des Realitätenvermittlers einen in Bernhards Werk üblichen Neologismus zu erkennen.9 Der Fremdwörter-Duden jedoch führt den Begriff der Realität als das österreichische Synonym für Grundstück und weist den Begriff des Realitätenvermittlers als Grundstücksmakler aus.10
Deswegen bleibt der Sinn des Wortes Realität, welches seinem lateinischen Ursprung nach Wirklichkeit, Gegebenheit und Tatsache bedeutet, trotzdem bestehen. Daß dem Wort »Realitäten« auch dieser Sinngehalt im Bernhardschen Gebrauch zukommt, wird im folgenden ersichtlich werden.
Ein drittes Bedeutungsfeld ergibt sich aus der Philosophie. Im Kontext zu Muraus »literarischer Realitätenvermittlung« wird klar, daß Bernhard unmittelbar an die Philosophie der romantisch-idealistischen Epoche anknüpft. Die Einsicht, daß der absoluten Erkenntnis in der Philosophie Grenzen gesetzt sind, leitet zu einer Verabsolutierung der Kunst. "Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie anfangen"11, fordert Friedrich Schlegel, und Novalis formt die ausführlichste Begründung der Kunst als Realität aus, z.B.: "Die Kunst ist das Selbstbewußtsein des Universums" (Novalis 2, 647), "Alle dichterische Natur ist Natur […]. Sie ist allein Realität" (Novalis 3, 693) oder "Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. […] Je poëtischer, je wahrer" (Novalis 2, 647).
Dieser in die Romantik zurückweisende Begriff des »literarischen Realitätenvermittlers« wird in der Untersuchung der »Liegenschaften« noch vertieft werden; Autoren wie Jean Paul, Musil, Kafka, Pavese und Bachmann haben ihr Leben wie ihr Schreiben in einen kompatiblen Realitätsbegriff zu fassen versucht, und variieren den romantischen Gedanken einer Universalpoesie.
Bernhard wählt eine Vokabel, die in ihrer dialektalen, ihrer etymologischen wie in ihrer philosophischen Bedeutung verstanden werden kann und muß.
Der Realitätenvermittler in Bernhards Prosa
Meine Grundstücke sind meine Themen. […] Die Welt ist, wie Sie wissen, eine Möglichkeitswelt, meine Grundstücke sind Möglichkeitsgrundstücke, wie die Philosophien Möglichkeitsphilosophien sind. (Bernhard Er 98)12
Im Sinne des österreichischen Sprachgebrauchs, also als Grundstücksmakler, trat der Realitätenvermittler schon in mehreren Schriften vor der Auslöschung in Erscheinung.
In Verstörung (1967) statten Vater und Sohn "einem gewissen Bloch, Realitätenbürobesitzer" (V 22), einen Besuch ab. Dieser "Jude" Bloch "lebe seinem Geschäftsvergnügen", pflege jedoch mit dem Vater des Erzählers eine Freundschaft, die "»ihr Philosophisches in sich hat«" (V 22). Bloch ist Besitzer einer Bibliothek, in welcher "man »vergleichende politische Wissenschaften, angewandte Naturgeschichte, Literaturgeschichte«" betreibe, wobei die "Künste [...] die meiste Zeit zu kurz [kämen], aber Blochs Frau zuliebe öffne man sich auch ihnen zeitweilig." (V23) Die philosophischen Werke, die Bloch dem Vater ausleiht, sind Bücher von Kant, Marx, Nietzsche, Pascal und Diderot. Die Begründung für diese Auswahl gibt der Vater seinem Sohn, dem Erzähler, nach Verlassen des Blochschen Hauses:
Er wende sich jetzt mehr und mehr den französischen Schriftstellern zu und von den deutschen ab. Im Grunde aber habe er nie ein echtes Bedürfnis nach einer unwissenschaftlichen, nach der poetischen Literatur gehabt, und diese seine Eigenschaft verstärke sich offensichtlich. Für die sogenannte Schöne Literatur sei er in dem Grade, in welchem er sich Klarheit und Folgerichtigkeit verschaffen könne, immer weniger aufgeschlossen, er schaue sie als eine in jedem Fall peinliche, ja in großen Zügen lächerliche Verfälschung der Natur an. (V 26)
Dies erscheint wie eine Selbsteinordnung Thomas Bernhards, der sich in der zweiten Phase seiner Prosa dem (natur-)wissenschaftlichen Ideal zuwandte, um in der dritten Phase sich wieder der "Schönen Literatur" und den Künsten zuzuwenden.
Dieser philosophische Makler handelt nicht nur mit Grundstücken, sondern auch mit Büchern, die sich der Vater des Studenten ausleiht. Bloch ist zwar primär Vermittler von Liegenschaften, sekundär jedoch Vermittler von Literatur und von Büchern und weist in dieser Doppelfunktion schon auf den "literarischen Realitätenvermittler" Franz-Josef Murau hin.
In der Erzählung Der Wetterfleck (1969) spekuliert der Anwalt Enderer darüber, ob der bei ihm eintretende Klient "Realitätenvermittler, Liegenschaftskäufer" sei, da "diese Leute [...] solche Wetterflecke in solcher Körperhaltung [tragen] und [...] derartige Gesichter" (Er 138) haben. Der Verdacht des Anwalts ist, daß er "Realitätenvermittler [sei], einer von diesen Männern, die in ihren Wetterflecken herumgehen und wie die Ärmsten der Armen ausschauen, und doch den ganzen Liegenschaftsmarkt der inneren Alpen beherrschen" (Er 138f.), wobei Enderer dann erfährt, daß es sich bei Humer um den "Besitzer des Bestattungswäschegeschäft[es]" (Er 142) handle. Dieser stürzt sich nach dem Gespräch in der Anwaltskanzlei "aus einem Dachbodenfenster seines Hauses" (Er 168), weil er von seinem Sohn und dessen Frau genötigt wurde, im eigenen Haus ständig umzuziehen und letztlich völlig isoliert im Dachgeschoß verkümmere, was ihn umbringe (Er 167).
Humer, dessen Name die Assoziation an den schottischen Philosophen David Hume evoziert, ähnlich wie Bloch in Verstörung natürlich an den gleichnamigen deutschen Philosophen erinnert, scheint lediglich auf diese namentliche Korrespondenz zu einem "geistigen Vermittler" reduziert worden zu sein; schließlich ist er auch nicht der vermeintliche "Realitätenvermittler".
Der "Realitätenvermittler Moritz" aus Ja (1978) bedeutet anfangs für den Ich-Erzähler die erhoffte, "Rettung" (J 8), die dann indirekt durch dessen Vermittlung an die Perserin eintritt. Die Liegenschaften, die dem Schweizer und seiner Frau, der Perserin, von Moritz vermittelt werden, besiegeln das Schicksal des "verlorene[n], letztenendes vernichtete[n] Mensch[en]" (J 144f.) Der Erzähler verdankt der Perserin als Spiegel seiner selbst die Rettung: "War es nicht mein eigener Zustand, den mir die Perserin jetzt so auf dem Baumstumpf sitzend, vorgeführt hatte?"(J 134). Moritz’ doppelte "Realitätenvermittlung", nämlich der Perserin "das abstoßendste Grundstück" (J 134) verkauft zu haben und dem Ich die Bekanntschaft mit ihr vermittelt zu haben,
[welche] aus Hunderten und Aberhunderten von für mich lebensrettenden Gründen, welche in der Person der Perserin konzentriert für mich sichtbar und in hohem Maße sofort nützlich gewesen waren, [bestand] (J 76),
ist seine Funktion. Das lebensbejahend konnotierte Ja des Romans, welches nach dem Suizid der Perserin einen bitteren Geschmack zurückläßt, ist ein solches lebensrettendes zumindest für den Erzähler. Dieser quälte sich mit Selbstmordgedanken (J 76), wird aber von der Perserin davor bewahrt, die ihr Ja auf die Frage , ob "sie selbst sich eines Tages umbringen werde" (J 148), einlöst und an seiner Stelle ihre Existenz auslöscht. Der "Realitätenvermittler Moritz" hat in Ja nicht nur die Rolle der Grundstücksvermittlung inne, sondern auch die der "Existenzvermittlung".13
In Beton (1982) ist die in Haß-Liebe des Erzählers geschilderte Schwester Elisabeth Inhaberin eines "Realitätenvermittlungsgeschäft[es]" (Be 16). Dies erwarb sie durch Heirat mit einem Realitätenvermittler, den sie "nach Peru" vertrieb, um das Geschäft "zur Gänze an sich zu reißen" (Be 16). "Sie ist ein Geschäftsmensch" (Be 16f.) und steht dem Bruder darin diametral gegenüber: "Ich rede nie von Geld und habe es, sagte sie einmal, du redest nie von Philosophie und hast sie" (Be 68).
Die realitätenvermittelnde Schwester ist dies für den Bruder im engsten Sinne des Wortes, nämlich als Vermittlerin von Wirklichkeit, denn sie ist "bei klarem Verstand, der ihr niemals abzusprechen gewesen ist" (Be 52), und liebt ihn, "weil [er] so phantastisch" (Be 52) ist. Die immer wieder durch sie erhoffte Beruhigung tritt nicht direkt ein, jedoch motiviert sie ihn, nach Palma zu reisen, wo er der Anna Härdtl begegnet, die dann seine vorläufige Rettung bedeutet, denn "[t]atsächlich richten wir uns an einem noch unglücklicheren Menschen sofort auf" (Be 210).
Das letzte Mal wird ein Realitätenvermittler in Der Untergeher (1983) genannt, wobei dies nur en passant, wenn das Philosophen-Ich über den etwaigen Verkauf seines Hauses räsoniert: "Ohne Realitätenvermittler ist kein Verkauf möglich, und vor den Realitätenvermittlern graust es mich, dachte ich" (U 189). Dies könnte eine werkinterne Anspielung Bernhards sein, der sich auf diese Weise von der zuvor geschaffenen Figur des Realitätenvermittlers Murau abwendet.
Die Wiederkunft des Realitätenvermittlers als literarischer ist bereits antizipiert. Seine Bedeutung umfaßt jeweils mehr als die eines Grundstücksmaklers, die Vermittlung von "Literatur-Realitäten" (Bloch in Verstörung), von "Existenz-Realitäten" (Moritz in Ja), von "Verstandes-Realitäten" (Schwester in Beton) belegt dies.
Letztendlich repräsentiert Murau, wie jede dieser Figuren, den klassischen »Geistesmenschen« aus der Bernhardschen Literaturfabrik, den Josef Quack folgendermaßen charakterisiert:
[…] das Ideal des ‘Geistesmenschen’, ein wahrhaft unzeitgemäßer Begriff, eine fast rührend altmodische Vorstellung. […] Ein Geistesmensch ist nach Bernhard dadurch gekennzeichnet, daß er nicht in der normalen Geschäftigkeit des Alltags aufgeht, sondern sich ganz allgemein für künstlerische oder philosophische Dinge interessiert.14
Daß dieser Geistesmensch nicht in der normalen Geschäftigkeit des Alltags aufgeht, ist zwar richtig, vermag hingegen nicht die politische Dimension seiner Beobachtungen schmälern, wie in dieser Arbeit noch deutlich werden wird, denn die so eindringlichen und quälenden Reize, die er dabei der Welt zu geben vermag, sind in höchstem Maße modern und aktuell. Eine Wendung Adornos rehabilitiert diesen Bernhardschen Typus, der sich immerhin gegen die ungeistigen Menschen und deren Verbrechen richtet: „Das Wort ‘geistiger Mensch’ mag abscheulich sein, aber daß es so etwas gibt, merkt man an dem Abscheulicheren, daß einer kein geistiger Mensch ist.“15
Muraus Bezeichnung »literarischer Realitätenvermittler« und »Geistesmensch« verrät bereits ein wichtiges Charakteristikum seiner Person, nämlich seiner Beschwörung der romantisch-idealistischen Epoche, als der schöpferische Geist über den bloßen Verstand dominierte. Dies verdeutlichen Muraus Invektiven gegen die Photographie als "Teufelskunst unserer Zeit" (A 243) und als "das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts" (A 30). Die kreative Phantasie des Künstlers wird gegen die einfache, realistische Abbildung der Photographie gesetzt. Gößling bezeichnet dies als als "ein Symbol der großen Kontroverse, die im Neunzehnten Jahrhundert gewissermaßen zwischen dem ‘Geist’ und seinem abtrünnigen Sohn, dem ‘Verstand’, ausgefochten wurde"16, als letzten Feldzug Muraus gegen den unausweichlichen "Siegeszug des Positivismus, der metaphysisch-spekulatives Denken idealistischer und romantischer Herkunft verdrängte"17.