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1. Zeitliche Einordnung der Auslöschung

Da in dieser Arbeit einerseits die Lektüreerfahrungen Bernhards und andererseits dessen eigenes Werk komparatistisch zur Auslöschung betrachtet werden, soll eine chronologische Bestimmung innerhalb der Werkgeschichte den Standort des Romans klarstellen.

Die Auslöschung ist in den Jahren 1981/82 begonnen worden, wie Kommentare Bernhards vermuten ließen und mittlerweile von seinem Nachlaßverwalter bestätigt wurde. Damit scheint die exakte Einordnung des Romans in die Werkgeschichte eindeutig, denn größere Eingriffe soll Bernhard vor der Veröffentlichung im Jahre 1986 nicht vorgenommen haben.2 Warum Bernhard das Manuskript solange unter Verschluß hielt – Horaz’ empfiehlt, aus ästhetischen Gründen, "die Blätter des Konzepts sollen in den Pult gelegt werden und dort bis zum neunten Jahr verschlossen liegenbleiben"3 -, ist ungeklärt. Eine biographische Spekulation über die Hintergründe, ein inhaltlicher Vergleich zu den 1982 erschienenen Texten Beton und Ein Kind und eine thematische Einordnung des Romans in die Werkgeschichte sollen der Betrachtung der »Liegenschaften« im Hauptteil hilfreich zur Seite stehen.

Biographische Situation

Die Auslöschung. Ein Zerfall weist im Titel auf den destruierenden Gestus des Verfassers hin, der auch seinen eigenen Schwanengesang anstimmt, weil ihm sein nahes Ende bevorsteht. Bernhards Krankheitszustand verschlechterte sich seit Ende der siebziger Jahre zunehmend4, und dieser existentielle Überlebenskampf spiegelt sich in seinen literarischen Bemühungen des letzten Dezenniums wider. Bernhard rückt seit Ja (1978) seine eigene Todeskrankheit ins Zentrum seiner Schriften, die latent in Wittgensteins Neffe (1982), Beton (1982), Der Untergeher (1983), Holzfällen. Eine Erregung (1984), Der Theatermacher (1985) und Heldenplatz (1988) durchscheint; in Auslöschung werden in einer tour de force alle Hindernisse umgestoßen, entzweigeschlagen, ausgelöscht.

Die Auslöschung scheint als Bernhards literarisches Testament konzipiert zu sein, das die Kardinalthemen wie Kindheit, Austrofaschismus, Katholizismus, Anarchie und Poetikreflexion vereinigt und in einer voluminösen "Haßarie"5 Bilanz zieht. Ästhetische Kommentare, z.B. zur Kunst der Übertreibung, runden den Eindruck ab, Bernhard habe die Veröffentlichung des Romans zurückgestellt, um mit diesem einen Schlußpunkt zu setzen. Die ungeheure Produktivität Bernhards seit Korrektur (1975) versiegt 1986 nach dem Erscheinen der Auslöschung, es entstehen noch die Auftragswerke fürs Theater und die bereits 1959 verfaßten Prosaskizzen In der Höhe. Rettungsversuch. Unsinn werden 1989 veröffentlicht.

Auslöschung – Beton und Ein Kind

In Beton sind die Österreichbeschimpfungen Rudolfs vergleichbar mit denen Muraus und dessen Schwester erinnert, bis hin zur Beschenkung des katholischen Liebhabers, an Muraus Mutter. Die Wirkungslosigkeit der Literatur, der verheißungsvolle Süden, die Verschenkung eines Erbes und die Identität des Erzähler-Ich, das durch Brechung eines Herausgebers der Verfasser der vorliegenden Schrift ist, sind allesamt Variationen der Auslöschung.6

Für das frühe Datum sprechen auch Korrelationen zu dem letzten Band der autobiographischen Tetralogie Ein Kind. Die in der Auslöschung stattfindende Abrechnung mit der Kindheit gleicht in der Schilderung einzelner Episoden, z.B. den Beschimpfungen und Züchtigungen durch die Mutter (A 88/98), der Abtreibung des ungeliebten Kindes (A 290f.) und der Friedhofsbesuche (A 450f.) diesem Kindheits-Werk, wobei die allegro-Töne in Ein Kind den adagio molto-Tönen in der Auslöschung gegenüberstehen; aber es handelt sich eben um die neue Fassung von Onkel Georgs verschollener "Antiautobiografie" (A 198).

Für eine Überarbeitung kurz vor Erscheinen spräche lediglich die politische Dimension der Auslöschung, die zu der in dieser Zeit heftig diskutierten Waldheim-Kontroverse paßte, welche schon in Alte Meister (1985) von Reger erwähnt wird (s. AM 213ff.), aber in der Auslöschung einen der Angelegenheit und dem Zeitpunkt angemesseneren, bitteren Ton anschlägt; dies mag jedoch eine Bernhardsche Prophezeiung gewesen sein.

Die Wendemarke

In Bernhards Prosa der 60er Jahre ist der Dualismus zwischen einem Künstler und einem (Natur-)Wissenschaftler gegeben, die Protagonisten der 70er Jahre (bis Beton, 1982) sind ausnahmslos Wissenschaftler, in den letzten Romanen, Der Untergeher (1983), Holzfällen (1984) und Alte Meister (1985) sind es Künstler.7 Die Auslöschung steht an der Schwelle der Werkentwicklung, denn der Protagonist Murau bezeichnet sich nicht nur als "Geistesmensch" (A 47/149) und als "Verstandesmensch" (A 288), sondern wird in seiner Tätigkeit als Lehrer, Schriftsteller und Verfasser von Aufsätzen über "Leos Janácek" (A 20), Pascal, Bohuslav Martinu, Marias Gedichten (A 517) als "Wissenschaftler" (A 406) und Künstler ausgewiesen. Zudem ist er der einzige Protagonist in Bernhards Prosa, der sich explizit mit Literatur beschäftigt – und zwar als Autor und als Kritiker.

Dieser Absolutheitsanspruch Muraus unterscheidet ihn von den Künstlergestalten in Untergeher, Holzfällen und Alte Meister, die mit Humor und Komik gegen ihre Umwelt vorgehen, um letzten Endes so "die Existenz auszuhalten" (A 612).

Der literarische Realitätenvermittler

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