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1. Auslöschung und Utopie. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard

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Die Bachmann ist verbrannt.

Thomas Bernhard ist sein Leben lang erstickt.1

Elfriede Jelinek

Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard haben sich in den sechziger Jahren kennengelernt. In Bernhards nachrufartiger Skizze In Rom, die 1978 in der Sammlung Der Stimmenimitator erscheint, spricht er von Bachmann »als dem ersten Gast in meinem noch völlig leeren Hause« (Bernhard, St 167) – das wäre also 1965 gewesen. Dokumentiert sind spätere Treffen. Hilde Spiel berichtet von einem Schriftstellerempfang in der Wiener Hofburg im Jahre 1969, bei welchem Bernhard neben Bachmann gesessen habe.2 Im Jahre 1972 hatte Bachmann die Absicht, sich in der Nähe von Bernhard ein Haus über den Realitätenvermittler Hennetmair zu kaufen. Bernhard vereitelte diesen Plan in letzter Minute, indem er das für Bachmann ausgewählte Objekt selbst erwarb.3

Die Beziehung zwischen den Schriftstellern schlug sich literarisch nieder: Im Jahre 1969 verfaßt Bachmann die Skizze Thomas Bernhard: Ein Versuch, in der sie das Neue an seinen Texten lobt, für das noch keine Zeit gekommen sei. »Es ist nicht brauchbar, noch nicht brauchbar, integrierbar auch nicht, es steht ja alles darin.« (Bachmann 4, 363) Bernhard antwortet kurz nach der Erstpublikation dieses Entwurfes in der Gesamtausgabe 1978 mit dem kurzen Text In Rom, in welchem er sie als »intelligenteste und bedeutendste Dichterin, die unser Land in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat« (Bachmann, St 167), bezeichnet. Die literarische Wertschätzung der zwei bedeutendsten österreichischen Nachkriegsautoren ist damit belegt, das persönliche Verhältnis war anscheinend ein wenig kompliziert, vielleicht aus Angst vor zu großer Nähe, vielleicht aus Angst vor der künstlerischen Größe des anderen.

Zehn Jahre nach Bachmanns Tod schreibt Bernhard Auslöschung. Ein Zerfall. Der Roman liegt als literarisches Testament einige Jahre im Tresor, um 1986 als längster und letzter Prosatext veröffentlicht zu werden – und um die eher unauffällige Verbindung Bachmann-Bernhard unversehens bedeutungsvoll werden zu lassen. Die Figur der Maria in Auslöschung wird bereits in den Rezensionen als Portrait der Bachmann erkannt, ebenso wie Marias gepriesenes böhmisches Gedicht als Bachmanns Böhmen liegt am Meer gedeutet wird. Daß Bernhard ausgerechnet in seinem Hauptwerk – als welches sich die Auslöschung mittlerweile, wohl auch von Bernhard intendiert, etabliert hat – diese überraschend positive Frauenfigur schafft, läßt eine tragende Bedeutung der Maria/Bachmann vermuten. Die Forschung hat die Fährte aufgenommen und verschiedene Erklärungsmuster für diese Reverenz gegeben: Als »überhöhte, verklärte Weiblichkeit«4 bezeichnet Mireille Tabah die Figur der Maria, »ein Zusammenhang im Denken« und »eine Differenz im Schreiben«5 zwischen Bachmann und Bernhard wird von Holger Gehle konstatiert, und Bettina Bannasch liest Muraus Gelächter über Marias Heimatbegriff als Kritik an Bachmanns idealisiertem Österreichbild in Drei Wege zum See.6 An dieser Stelle sollen Böhmen liegt am Meer und Auslöschung als dialektisches Prinzip von Auslöschung und Utopie dargestellt werden; Bernhard schreibt die geistige ›Heimat‹ des Bachmannschen Gedichtes auf diese Weise in seinen Roman ein.7

Thomas Bernhard wählt in Auslöschung wie immer einen Ich-Erzähler als Alter ego: den achtundvierzigjährigen Österreicher Murau, wohnhaft in Rom und dort als Deutschlehrer tätig. Ausgangspunkt ist die Auslöschung von Muraus Familie bei einem Autounfall, und der programmatische Titel seiner Lebensbeichte lautet entsprechend Auslöschung. Er komponiert allerdings nicht nur die Totenmesse seiner Familie, sondern auch die seiner gehaßten ›Heimat‹ Österreich und die Europas und der ganzen Welt gleich mit. Am Ende teilt ein ungenannter Herausgeber den Tod Muraus mit.

Was hat Ingeborg Bachmann alias Maria in diesem Österreich-Nekrolog zu suchen? Sie verkörpert die Gegenwelt des Grauens. Sie lebt wie Murau in der ›ewigen Stadt‹, sie hat wie Murau ein gespanntes Verhältnis zu dem kleinen Alpenland, sie diskutiert wie Murau leidenschaftlich über Literatur und lebt wie er für die Dichtkunst. Denn die lichte Seite des Romans spielt im Süden, in klassischen Hoheitsgewässern der Musen. Ach, die Kunst! Um die geht es auch. Murau hat sich nämlich »der Literatur verschrieben« (Bernhard, A 609) und ist Verfasser der Auslöschung, obwohl er behauptet: »Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, nur ein Vermittler von Literatur, und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, ich vermittle literarische Liegenschaften« (Bernhard, A 615). Die phantastische Berufung erfährt nach und nach an Bedeutung. Murau unterrichtet seinen italienischen Schüler eigentlich in deutscher Sprache, doziert aber lieber über deutschsprachige Literatur. Gleich zu Anfang des Romans trägt er dem Adlatus – und damit dem Leser – mehrere Klassiker der Weltliteratur zum Studium auf. Im Verlauf des Berichts erweitert er diese Literaturliste ständig, bis er am Ende mit einer imposanten Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser »Bibliothek des bösen Geistes« (Bernhard, A 149) gefüllt hat. Der geistesgeschichtliche Horizont, den er in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart. Die zitierte Literatur stellt nicht nur Muraus ›Liegenschaften‹, sondern auch Bernhards präferierte Autoren dar.

So verweist auch die Biographie von Muraus Freundin Maria unzweideutig auf das Vorbild Bachmann. Sie kommt aus Klagenfurt, »der kleinen südösterreichischen lächerlichen Provinzstadt, in der Musil geboren worden ist«, dann sei es ihr gelungen, »nach Rom auszubrechen« (Bernhard, A 232f.), wo sie nahe der Via Condotti wohnt. Ferner finden das Gedicht Böhmen liegt am Meer, der Bachmannsche Opernenthusiasmus, ihre Dissertation über Heidegger und die Übersetzungen, die sie von Ungaretti-Gedichten gemacht hat, Erwähnung. Ingeborg Bachmann ist als Maria die einzige Frau, mit welcher Murau einen Kontakt pflegt, darüber hinaus wird ihr Werk von Murau reflektiert und des weiteren setzt sich Bernhard mit ihrer Ästhetik auseinander.

Hinter den beiden Romanfiguren verbergen sich, wenn auch notwendigerweise gebrochen, die Autoren Bachmann und Bernhard. Tatsächlich sind die beiden Österreicher nie in Rom zusammengetroffen, dafür in Wien. Bei dem Festbankett in der Hofburg saß Bernhard »am Prominententisch in nächster Nähe des Staatsoberhauptes, neben Ingeborg Bachmann, die sich in einem Pagenkostüm, mit schwarzen Kniehosen und Cherubino-Wams, eingefunden hatte, und Christine Lavant, die in ihrem üblichen Bauerndrillich mit Kopftuch gekommen war.«8 Dieses »opernhaften Aufzuges« sollte sich Bernhard in der Auslöschung erinnern: Maria tritt in einem (Alp-)Traum Muraus in einem Hochgebirgstal auf, bekleidet in »schwarzer Samthose […], die mit großen Seidenmaschen unterhalb ihrer Knie befestigt war, dazu eine kardinalrote Jacke mit türkisfarbenem Kragen« (Bernhard, A 215). Der Anlaß dieses Treffens mit Murau und zwei römischen Freunden ist der Vergleich ihren eigenen Gedichte mit der Philosophie Schopenhauers. Dieses Traum-Unterfangen gestaltet sich jedoch zum Horrortrip, denn der Wirt des Gasthauses entreißt ihnen die Bücher und beschimpft sie als Gesindel, das ausgerottet gehöre; im dichten Schneetreiben flüchten sie aus dem Tal, und der literarisch-philosophische Vergleich scheitert. Muraus Traum zeigt Parallelen zum Traumkapitel in Malina, indem die Figurenkonstellation von weiblichem Ich, dem Fremden in seinem »schwarzen siderischen Mantel« (Bachmann 3, 194) und der destruktiven Vater-Figur an Maria, Eisenberg, mit seinem »langen schwarzen Mantel« (Bernhard, A 226), und den destruktiven Wirt in Auslöschung erinnert.9 Bernhard setzt sich in dem wichtigsten Traum seines Œuvres mit dem zentralen Traumkapitel in Bachmanns Werk auseinander, womit Muraus, die Bachmann-Legende der ›gefallenen Lyrikerin‹ fortspinnende Bemerkung durch den Autor Bernhard in Frage gestellt wird: »Prosa Schreiben sei übrigens immer ihr Traum gewesen, alle ihre Versuche in dieser Richtung aber seien gescheitert, sie hat immer gleich aufgegeben und wenn nicht, eingesehen, daß sie kein Kunstwerk geschaffen, sondern nur eine staunenswerte Arbeit zustande gebracht habe, so sie selbst.« (Bernhard, A 230)

Die Freundschaft zwischen den Figuren ist vor allem literarischer Natur, Murau bespricht mit Maria, »der Unbestechlichen«, das Projekt der ›Auslöschung‹, und der Titel »ist von Maria, die mich ja auch einmal einen Auslöscher genannt hat. Ich bin ihr Auslöscher, hat sie behauptet. Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte« (Bernhard, A 542). Die an Kafka erinnernde Verbrennung der Manuskripte »in ihrem Ofen« – gemeinsam mit Maria – führt zum »Höhepunkt«, berichtet er. Ihre Titulierung Muraus als Auslöscher hat also seine Schrift initiiert, Maria hat seine prosaische Vernichtungsmaschine in Gang gesetzt. Sie wird das Manuskript »mit mir durchsprechen, es zerlegen, daraufhin werde ich es wegwerfen, wie alles von mir, was ich ihr jemals zum Lesen gegeben habe« (Bernhard, A 541). Maria ist seine schärfste Kritikerin, womit Bachmanns einzige Auseinandersetzung mit Bernhards Werk evoziert wird. In dem Versuch über Bernhard attestiert sie dessen Prosa »eine Radikalität, die im Denken liegt und bis zum Äußersten geht« (Bachmann 4, 361) und lobt an Bernhard »die gläserne Ruhe im Umgang mit einer zerbröckelnden Welt, […] das Zwingende, das Unausweichliche und die Härte […] seiner Bücher über die letzten Dinge« (Bachmann 4, 362f.). Bernhard hat die kurze Lobeshymne gut studiert beim Entwurf der Auslöschung.

Diese kritische Haltung gegenüber dem Schreiben, den (Un)Möglichkeiten von Literatur und Sprache, führt geradewegs in die zentralen Themenkomplexe von Bachmann und Bernhard. Mit Rückbezug auf Hofmannsthals Chandos-Brief formuliert Bachmann 1959 in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung zur Poetik, daß »das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding schwer erschüttert« (Bachmann 4, 188) sei. Dieses Verstummen des Lord Chandos findet sich bei den unzähligen Studienschreibern in Bernhards Werk wieder, wie auch Bachmanns Figuren von den »Stürze[n] ins Schweigen« (Bachmann 4, 188) bedroht sind. Diese Skepsis gehe über Hofmannsthals erstes Dokument einer profunden Sprach-Verzweiflung hinaus, denn die Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz stehe nun der Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber, so Bachmann. Die geschichtliche Situation kann nicht außer acht gelassen werden: Kunst muß gesellschaftskritisch sein.

Ein zentraler Gedanke des unvollendet gebliebenen Todesarten-Zyklus ist das Aufdecken des Gemetzels »innerhalb des Erlaubten und der Sitten […], denn die wirklichen Schauplätze, die inwendigen« (Bachmann 3, 342) werden von den äußeren überdeckt. Diese Verbrechen in der Gesellschaft gilt es aufzudecken, wie der 1971 veröffentlichte Roman Malina zeigt. In der Auslöschung wird deutlich, wie wichtig für Bernhard die gesellschaftspolitische Komponente im Vergleich zum Frühwerk geworden ist. Mißstände werden nun benannt und offen dargelegt, die in den sechziger Jahren lediglich als Metaphern für ein finsteres Weltbild dienten. Der Roman ist eine konsequente Abrechnung mit politischem Unrecht, vor allem der unbewältigten Nazivergangenheit in Österreich. Es ist das politisch zornigste Prosastück des Moralisten Bernhard – eine Kriegserklärung an alle Ewiggestrigen.

Das wütende Auslöschen Muraus ist seine Reaktion auf die Auslöschungsmechanismen der Gesellschaft. Obwohl die totale Auslöschung auch den Protagonisten ereilt, haben 651 Seiten Auslöschung Bestand. Dies ist die Pointe Bernhards, denn der Roman Auslöschung bleibt zurück und bewahrt das Ausgelöschte vor dem Vergessen. Das Reale muß ausgelöscht werden, das Kunstwerk bleibt bestehen. Die Aufforderung zur Erinnerung hat zum Ziel, Geschichte zu bewältigen. Dazu bedarf es unzerstörbarer Gegenkräfte, nämlich der Werke Großer Geister und Alter Meister. All’ die genannten literarischen Werke von höchstem Rang sensibilisieren und schärfen das Kulturgedächtnis des Lesers. Die Utopie der Kunst wird zur Kunst der Utopie.

Diese Utopie in Auslöschung veranschaulicht der Vergleich zu Böhmen liegt am Meer. Murau bezeichnet es wiederholt als »das schönste und beste Gedicht, das jemals eine Dichterin in unserer Sprache geschrieben hat« (Bernhard, A 511). Seit Shakespeares Wintermärchen befindet sich im Reich der Kunst und der Phantasie Böhmen am Meer – als Wunsch einer märchenhaften Erfüllung des Unmöglichen. Diese Hoffnung wird im Gedicht jedoch erst – aus dem Moment der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit heraus – durch das Zugrundegehen eingelöst: »Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen./ Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder./ Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf./ Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.« (Bachmann 1, 167f.) Die geistige Heimkehr in das Land der Hoffnung, in das von Shakespeare »ans Meer begnadigte« Böhmen, ist erst durch die willentliche Selbstzerstörung des Ich möglich. Die Einsicht in die zerstörerischen Strukturen der Gesellschaft, »von Grund auf«, ermöglicht den Neuanfang als Aufbruch in eine neue Zeit.

In einem nur teilweise veröffentlichten Kommentar aus dem Jahre 1973 bezeichnet Bachmann es als das Gedicht ihrer Heimkehr, »nicht einer geographischen, sondern einer geistigen Heimkehr.«10 Hans Höller zeigt in der Edition des Gedichts, daß die »Varianten des Entstehungsprozesses als literarische Arbeit an ihrem Begriff von ›Heimat‹«11 verstanden werden können. Mit der im Böhmen-Sujet enthaltenen Mitteleuropa-Utopie greift die Dichterin das ihr biographisch vertraute Angrenzen an viele Sprachen und Länder auf. Die im Grenzbereich Kärntens zu Slowenien und Italien aufgewachsene Bachmann hat wiederholt die Idee vom ›Haus Österreich‹ in ihrem Werk formuliert, denn dieser Ausdruck »hat mir besser erklärt, was mich bindet, als alle Ausdrücke, die man mir anzubieten hatte. Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus, […] ohne die geringste Lust, es noch einmal zu bewohnen, in seinen Besitz zu gelangen, einen Anspruch zu erheben« (Bachmann 3, 99). Diese Aussage des Ich in Malina veranschaulicht den Charakter von geistiger ›Heimat‹ als Gegensatz zu geographischer in ihrem Werk.12 In der Interpretation der Fortschreibung von Roths ›Trotta-Romanen in Simultan wird diese kritisch-distanzierte Haltung gegenüber ›Heimat‹ verdeutlicht werden.

Murau in Auslöschung quittiert jedoch gerade an Maria deren Sehnsucht nach ›Heimat‹ mit einem Lachen, weil »Maria immer wieder in diesem Wort Zuflucht suchte, sie sagte auch immer von dem Wort Heimat, es sei das verführerischste.« (Bernhard, A 235) Ob diese Ablehnung sich auf die geistige ›Heimat‹ im Gedicht bezieht, die als idealisierte Habsburger-Romantik verstanden werden könnte, auf das ähnlich utopisch aufgeladene ›Ungargassenland‹ in Malina, auf die in Drei Wege zum See unternommene Reise an den Ursprungsort13 oder auf andere Texte, verrät diese Passage nicht. Im Kontext dieser Erinnerung an Maria zählt Murau die Stationen in Bachmanns Biographie auf, die sie von Klagenfurt über Wien und Paris nach Rom führten, und daß nun der – allerdings unschlüssige – Wunsch der Remigration nach Wien bestehe, »das ihre Heimat sei« (Bernhard, A 235). Diese geographische Heimkehr Marias wird in Bernhards Roman jedoch nur als Überlegung angedeutet, denn die Dichterin Maria lebt weiterhin in Rom und nicht in Österreich.14 Da Erwägungen Bachmanns, nach Österreich zurückzukehren, bekannt sind – wie auch der geplante Hauskauf in der Nähe von Bernhards Obernathaler Refugium verdeutlicht –, kann dieser Diskurs sich auch auf persönliche Gespräche Bernhards mit Bachmann beziehen.

Die Bewegung des Gedichtes, das eine Dialektik von Auslöschung und Utopie beschreibt, zeigt deutliche strukturale Parallelen zu Bernhards Auslöschung. Zunächst erstellt Murau das definitive österreichische Handbuch der Auslöschung: Städte, Landschaft, Menschen, Leben – alles fällt den Auslöschern zum Opfer. Der Grundgedanke dieser Schreckensliste ist, die »Welt zu studieren und sie in diesem Studium nach und nach aufzuschlüsseln und aufzulösen« (Bernhard, A 231). Dieses Zersetzen hat allerdings die »Struktur des Selbstmordes«15, wie Roland Barthes bemerkt, denn der Ort des Zersetzens kann nur im Zentrum liegen, aus dem man die Auflösung begleitet. Murau betreibt daher wissentlich auch seine »Selbstzersetzung und Selbstauslöschung« (Bernhard, A 296): Er geht zu den Gründen und geht daran zugrunde. Die Zerstörung der alten Ordnung bedeutet in beiden Texten zuerst die zergliedernde Analyse und anschließend die Selbstzersetzung, denn darauf kann erst etwas Neues errichtet werden: »Nach und nach müssen wir alles ablehnen, […] um ganz einfach an der allgemeinen Vernichtung, die wir im Auge haben, mitzuwirken, das Alte aufzulösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen zu können für das Neue« (Bernhard, A 211). Dieses Neue kann Murau nicht klar bestimmen, »aber daß es sein muß, wissen wir« (Bernhard, A 212), und auch Bachmann meint, »es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran« (Bachmann, GuI 145). Beide haben keine konkrete Vorstellung einer anderen Welt, »Zerstören sei Schöpfung« (Bernhard, Er 118f.), denn im Anfang war die Anarchie.

Literarisch wird ›das Neue‹ hingegen konkretisiert. Bachmann sah ihre Frage, wie wohl das Neue aussehen mag, bereits 1969 in Bernhards Prosa beantwortet: »Hier ist das Neue.« (Bachmann 4, 363) Der erste Schritt dorthin führt wiederum über die Auslöschung. Bernhard bezeichnete sich als »Geschichtenzerstörer« (Bernhard, DT 83), und auch Bachmann leistet eine »destruktiv-produktive Arbeit am Vorgefundenen […], die erzählt und im Erzählen die Strukturen des Erzählens zerstört«16. So wie die äußeren Gegebenheiten erst einmal erfaßt werden müssen, um neue Wege beschreiten zu können, muß auch das literarische Kunstwerk im Prozeß der Niederschrift überprüft werden. In Böhmen liegt am Meer reflektiert das Ich über das Gedicht – »grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen« – und in Auslöschung räsoniert Murau unzählige Male über den zu schreibenden Bericht. Beide stöbern durch die ständige Reflexion von Sprache und Schreiben, ohne die »ein Drittes« (Bachmann 4, 186) nicht möglich ist, eine neue Ästhetik zwischen littérature engagée und littérature pure auf. Die Fürchterlichkeit ihrer Umwelt fordert die ständige Kritik und verbietet das Versteck im Elfenbeinturm. Beide bewahrten dabei konsequent ihre Unabhängigkeit und ließen sich niemals von einer Partei, von einer Institution oder gar vom Staat vereinnahmen. Das kontinuierliche Kreisen um das Verhältnis von Sprache und Ordnung blieb bestimmend für beider Werk. Bachmann zerlegt auch die patriarchalischen Macht- und Denkstrukturen und gilt als eine der Ikonen weiblicher Schreibweise, Bernhard entblößt in seinen scheiternden Geistespatriarchen ebenso Strukturen männlichen Allmachtdenkens.

Die Hoffnung in beiden Texten gründet letztlich auf der Kunst. In Böhmen liegt am Meer ist es Shakespeare und »die Komödien, die lachen machen/ Und die zum Weinen sind.« (Bachmann 1, 167) In Auslöschung sind es die »literarischen Realitäten«, die an die Stelle tatsächlicher Realitäten treten; wie zum Beispiel Bachmanns Gedicht. Der Sonderweg von Bachmann und Bernhard besteht in der Verbindung von offenem Einmischen und idealistischem l’art pour l’art. Damit räumten sie der Literatur einen unabhängigen, erhöhten Platz ein, von welchem sie der Welt eindringliche und quälende Reize zu geben vermögen und gleichzeitig ein utopisches Reich der Kunst gründen. Der Begriff der literarischen Realitäten – zu denen Bachmanns Böhmen liegt am Meer gehört – verweist überdeutlich auf die Universalpoesie der Romantik. Nicht zufällig ist Bernhards geistiger Ahnherr Novalis, der die ausführlichste Begründung der Kunst als Realität ausformte: »Die Poësie ist das ächt absolut Reelle«17. Bachmann und Bernhard suchen nicht nur den Ausweg aus den Aporien der Kunst, sondern hoffen auch auf eine neue und menschlichere Gesellschaft. Dieser unerschütterliche Glaube beflügelt beide Autoren – entgegen ihrer immerwährenden Skepsis einer tatsächlichen Veränderung – zu schreiben, um zumindest im Bereich der Literatur die Utopie einer neuen Zeit zu ersehnen.

Auslöschung und Utopie sind wie ›mythenreiche Vorstellungswelt‹ und ›ererbter Alptraum‹ die Pole in Bachmanns und Bernhards Werk, welche die extreme Bewegung einer radikalen und unerbittlichen Literatur beschreiben. In ihrem ›Versuch‹ über Bernhard wie im dritten Kapitel in Malina hält Bachmann das Verbindende ihrer und Bernhards Literatur fest: ›Von letzten Dingen‹.

Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.

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