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Der Zug raste vorbei, die Schranken gingen hoch – und Barbara Cook marschierte mit festgezurrtem Wickelrock und versteinerter Miene wieder zur Tür herein, um ihren Rücktritt zu verkünden. Meine Mutter wollte das nicht gelten lassen, natürlich sei Graham Cook auf dem Markt herzlich willkommen, da wären sich alle einig, und das Komitee setzte seine Sitzung fort, als wäre nichts geschehen.

Dieses Mal durfte ich den Stand mit den gebrauchten Büchern betreuen. Unter den zerschlissenen Enid-Blyton-Bänden stieß ich auf ein altes Buch mit Ledereinband, eine mit wunderschönen Aquarellen illustrierte Sammlung viktorianischer Kindergedichte aus dem Jahr 1900. Ohne meine Mutter zu fragen, nahm ich es mit nach Hause und versteckte es unter meiner Matratze. Ich erzählte niemandem davon, nicht einmal Julia.

Insgeheim wusste ich, dass es Diebstahl war.

Aber ich wollte es so gern haben.

Es enthielt die bekannten Kinderreime, die Julia und ich von klein auf auswendig konnten und früher immer so schnell runtergerasselt hatten, dass die Wörter sich überschlugen. Humpty Dumpty war darunter, ebenso Mary, Mary, Quite Contrary, wegen dem meine Mutter mich auch gern Kleine Mary Querkopf nannte, was mich jedes Mal in den Wahnsinn trieb.

Mein Lieblingsgedicht aber war »Der Händler und sein Pferdewagen« von William Brighty Rands. Die Abbildung zeigte Bäume und Vögel und Raupen – und einen alten prächtigen Pferdewohnwagen aus gelben und roten Latten, mit vorn links und rechts aufgemalten Blumenranken und flatternden Schmetterlingen darüber. Es gab winzige Fenster mit Geranien in Blumenkästen, es gab eine Leiter, hölzerne Räder mit cremeweißen Speichen und einen rauchenden kleinen Schornstein. Durchs Fenster sah man eine dunkelhäutige Frau mit Kind auf dem Arm. Gerade fuhr der Wagen unter einem riesigen Baum hindurch, und der Händler auf der Kutschbank lenkte seinen Apfelschimmel auf einen dämmrigen, nicht klar auszumachenden Horizont zu.

Wenn ich allein war, las ich das Gedicht wieder und wieder, und dann klopfte mein Herz, und meine Seele bekam Flügel, und es begann in mir zu singen, niemand weiß, woher er kommt, und ich saß auf dem Pferdewagen, wohin’s ihn treibt am Horizont, und dann lenkte ich den Apfelschimmel, und mein eigener Horizont war unerkennbar – und jedes Mal, wenn ich in meiner Vorstellung die Leiter zum Wagen hinaufstieg, gab ich meiner Lebensgeschichte ein neues Ende. Und nie landete ich in Hedley Green.

Vielleicht wollte ich Julia das Buch deshalb nicht zeigen, ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich wegwollte.

Irgendwo sein wollte, nur nicht da, wo ich war.

Und zwar am liebsten gestern.

Natürlich wusste ich, dass sie bleiben wollte.

Und dass wir, wenn ich ging und sie blieb, nicht mehr Justa wären.

Es würde uns entzweireißen, die Füllung würde aus uns herausquellen wie aus der hässlichen Puppe.

Die andere Hälfte der Augusta Hope

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