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Parfait

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Wenn meine Mutter sich gegen die dunkle Brust meines Vaters lehnte wie gegen eine starke Wand und er die Arme um sie legte, die Hände vorn einhakte wie zwei Enden eines Gurts, dann wusste ich, uns konnte nichts Schlimmes passieren. Er war ja da, würde uns retten, was auch immer geschah.

»Wir brauchen alle einen Erlöser«, sagte er oft und lächelte dabei.

»Brauchen wir nicht«, sagte Pierre dann. Es verletzte meinen Vater, diese Angewohnheit, immer zu allem Nein zu sagen.

Nun aber kam wirklich ein Erlöser.

Nicht von oben aus dem Himmel.

Sondern über die Grenze aus Ruanda.

Mit dem Namen Melchior wie mein Vater, wie einer der drei Weisen.

Er war ein Hutu, wie wir.

Und dieser Hutu sollte Präsident von Burundi werden.

Und das, obwohl Hutu nicht Präsidenten wurden, nicht unter normalen Umständen, jedenfalls bis jetzt.

Den Tag, an dem Melchior Ndadaye die Macht übernahm, werde ich nie vergessen. Die Hoffnung, die wir in unseren neuen Hutu-Präsidenten setzten, wehte in dem Rauch, der über den Kegeldächern der Hütten aufzog, dem Rauch der tausend Feuer, über denen auf den collines vor Bujumbura zur Feier des Tages tausend Hühner gebraten wurden.

»Wir haben die Wahl, die Tutsi zu lieben, auch wenn sie die Hälfte der Menschen, die wir liebten, umgebracht haben«, sagte mein Vater. »Wir haben die Wahl, unseren Nachbarn zu lieben.«

Wir nickten, denn wir wollten unseren Vater um keinen Preis enttäuschen.

»Und wer ist unser Nachbar?«, fragte mein Vater.

»Jeder, den Gott erschaffen hat«, sagten wir im Chor, wie es uns beigebracht wurde. »Egal ob Hutu, Tutsi oder Twa.«

»Hoch lebe der neue Präsident!«, sagte mein Vater.

»Hoch lebe der neue Präsident!«, antworteten wir als Echo.

Wir ahnten nicht, dass einhundertzwei Tage später Männer aus der Armee – der Armee des Präsidenten – ihren Präsidenten ermorden würden. Wir ahnten nicht, dass seine achtunddreißig Palastwächter keinen Versuch unternehmen würden, ihn zu schützen.

Aus Rache verübten die Hutu ein Massaker an den Tutsi. Was, laut meinem Vater, der Präsident nicht gewollt hätte. Dreihunderttausend Menschen kostete der Konflikt am Ende das Leben, und einer davon war mein Vater, der sich entschied, die andere Wange hinzuhalten. Jemand musste schließlich, wie er uns so oft erklärte, den Kreislauf durchbrechen.

Ich war damals acht Jahre alt.

Ich sah den Flughunden nach, die in einer großen schwarzen Wolke nach Norden flogen, und ich wusste, ich würde es hier auf der colline ohne ihn nicht aushalten. Vielleicht würden die Flughunde über den ganzen afrikanischen Kontinent bis nach Europa fliegen – und vielleicht könnte auch ich es eines Tages bis dort schaffen.

Die Länder Europas rückten weiter zu einem einzigen glücklichen Kontinent zusammen. So hatten es die Baptisten erzählt – die mussten es wissen, sie waren ja selbst aus England und aus Frankreich. Über die Jahre brachten sie uns außer Kleidung auch gebrauchte Taschenbücher und Atlanten, zweisprachige Wörterbücher und alte Zeitschriften, und ich blieb nachts auf, um von dieser anderen Welt zu lesen, meinen französischen Wortschatz zu erweitern, Englisch zu lernen und die europäischen Hauptstädte.

Ich erfuhr von einer Popband namens Spice Girls und einer Nonne namens Mutter Teresa und einer schönen Prinzessin, die in einem Tunnel in Paris ums Leben kam, und einer Frau, die einundachtzig Tage allein über den Atlantik ruderte.

Also war es offensichtlich möglich, woanders hinzukommen, wenn man den Mut hatte.

Ich könnte meine ganze Familie an einen besseren Ort bringen. Wir könnten die colline verlassen, mit dem Boot über den See fahren, durch Ruanda hinauf zur Demokratischen Republik Kongo wandern, dann durch die Zentralafrikanische Republik weiter in den Tschad, durch Niger und Algerien bis nach Marokko, und auf der Karte hatte ich gesehen, dass sich dahinter nur ein winziger Meeresstreifen befand, schmal wie ein Fluss. Den würden wir mit dem Boot überqueren und im Süden von Spanien wohnen.

Vielleicht ein neues Leben finden.

Doch die Jahre verstrichen, und wir fanden kein neues Leben. Alles lief weiter wie immer.

Etwas aber änderte sich doch.

Das Jahrtausend neigte sich dem Ende zu.

Am 31. Dezember 1999 saßen wir alle in der Hocke zusammen, unsere nackten braunen Füße verkrustet von rotem Schlamm, und blickten erwartungsvoll über den Tanganjikasee, dessen Wasser über unsere Grenzen und weit darüber hinaus schwappte, und stellten uns vor, etwas Großes würde passieren, als wir um Mitternacht die Schwelle zum neuen Jahrtausend überschritten.

»Das ist der längste See der Welt«, erklärte ich meinen Geschwistern und versuchte dabei, den fröhlichen Tonfall unseres Vaters zu imitieren, auch wenn ich ihn nicht mehr so genau im Ohr hatte, sechs Jahre nach seinem Tod. Auch nachts konnte ich mir seine Stimme kaum noch ins Gedächtnis rufen, doch sein markantes, breites Lächeln und sein Augenzwinkern sah ich immer noch vor mir.

»Und der zweittiefste und zweitgrößte, nach dem Baikalsee in Sibirien«, ergänzte ich. »Er fasst achtzehn Prozent des weltweiten Süßwasservorkommens – und die Fische darin sind so bunt und besonders, dass sie an reiche Männer auf der ganzen Welt verkauft werden, die sie in Glaskästen in ihren Speisezimmern halten.«

»Und dann brechen die Soldaten da ein und zerschlagen die Glaskästen?«, fragte Zion.

»In diesen Ländern brauchen sie keine Soldaten«, dozierte ich – ich war inzwischen vierzehn, schon aus dem Stimmbruch heraus und zunehmend behaart. »Nein, die reichen Männer leben in Frieden.«

»Frieden?«, sagte Zion und kräuselte die Stirn.

Und dann gingen Zion und ich den Hang des Hügels entlang und blickten hinauf zum Himmel.

»Stell dir vor, die Wolken wären Boote«, sagte ich, ging in die Hocke und legte Zion den Arm um die Schulter, wie mein Vater es früher bei mir getan hatte. »Und jetzt stell dir vor, mein Kleiner, sie sinken herab, und wir steigen ein. Und weißt du, was? Dann ziehen wir mit den Wolken über die Grenze von Burundi und über ganz Afrika bis hoch zum Meer.«

»Echt?«, fragte Zion.

»Echt echt«, sagte ich. Ich wünschte mir so sehr, es wäre wahr, ich könnte wirklich was ändern und Zion vom Ort seiner Geburt befreien.

Die andere Hälfte der Augusta Hope

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