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Parfait

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»Und, kommst du mit?«, sagte ich zu Wilfred. »Ich frag dich zum letzten Mal.«

Wilfred schüttelte den Kopf.

»Wir bauen uns ein neues Zuhause mit Hängematten im Garten.«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Sicher?«, fragte ich. »Wenn wir weg sind, kannst du es dir nicht mehr anders überlegen. Heute ist der Tag der Entscheidung.«

Wilfred zeigte auf das Seil an seinem Knöchel.

»Bei Claude willst du bleiben?«, fragte ich.

Er nahm mich am Arm und führte mich zu der Stelle, wo wir Claude begraben hatten, und dort, unter der Zypresse, lag ein Haufen Steine, mit einer frischen roten Rose in einem Tontopf. Wilfred hatte den Namen CLAUDE in die Baumrinde geritzt und eine Strichliste in Fünferblöcken, vier senkrechte Linien und eine Diagonale, für jeden Tag, seit er gestorben war – sie zogen sich nach oben und um den Stamm herum.

Als ich die Strichliste sah, nahm ich ihn in den Arm. Ich war größer als er, und sein Gesicht lag an meiner Brust.

Ich musste weinen, als ich ihn weinen spürte.

Als ich fühlte, was er fühlte, und nichts tun konnte.

Drei Jahre seit Claudes Tod – und wie muss es erst sein, einen Zwilling zu verlieren.

Mir ging der Anblick von Claude in der ausgebrannten Hütte nicht aus dem Kopf.

Drei Monate seit dem Verschwinden der Mädchen und kein Lebenszeichen von ihnen.

Der Schmerz war zu viel für mich.

Die Schuld auch.

Wilfred wand sich aus meiner Umarmung und ging in die Hocke, aber er hielt weiter meine Hand fest und malte zwei Fragezeichen in die Erde.

»Was fragst du dich?«, wollte ich wissen. Ich hockte mich neben ihn. »Warum du Claude nicht gerettet hast? Wo die Mädchen sind?«

Er nickte einmal, noch einmal.

»Ich auch«, sagte ich. »Ich auch.«

Er zeigte auf das Seil an seinem Bein. Und uns beiden rannen die Tränen über die Beine und die trockenen Füße und versickerten in der Erde.

»Wenn ich gehe, wirst du mir verzeihen?«, fragte ich.

Wilfred nickte und zeigte auf den Baum.

»Suchst du jeden Tag eine Blume für Claude?«

Er nickte wieder.

»Ich halte den Schmerz hier nicht mehr aus«, sagte ich. Und ich wusste, das war der wahre Grund.

Ich tat es eigentlich nicht für Zion.

Ich tat es für mich.

»Ich gehe, weil ich den Schmerz hier nicht mehr aushalte«, erklärte ich auch Víctor. »Also sag mir nicht, dass ich bleiben soll. Ich kann es nicht mehr hören. Und ich kann es nicht mehr ertragen. Und ich kann hier nicht mehr leben. Ohne die anderen.«

Víctor wandte den Blick ab.

»Ich werde dich vermissen, Parfait«, sagte er.

»Ich dich auch«, sagte ich und biss die Zähne zusammen, so weh tat es.

»Vielleicht möchte Wilfred ja zu mir kommen und bei mir in der Schule wohnen«, sagte Víctor. »Er kann im Garten helfen, hier und da ein bisschen mitarbeiten, mit den Kindern Fußball trainieren, Gebärdensprache lernen.«

Er hielt inne.

»Das ist die Idee«, sagte er zu sich selbst, und seine Miene hellte sich auf. »Vielleicht hilft ihm Gebärdensprache dabei, sich zu öffnen.«

»Er ist nicht taub«, sagte ich. »Er weiß einfach nichts mehr zu sagen.«

»Vielleicht findet er neue Dinge, die er sagen will, wenn er erst mal in einem neuen Haus wohnt, neue Dinge tut«, sagte Víctor. »Was meinst du?«

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich. »Du würdest ihn aufnehmen?«

»Natürlich. Und Pierre auch. Und die Mädchen, wenn …«

»Du willst weiter nach ihnen suchen?«, fragte ich.

Víctor nickte.

»Du bist ein Segen«, sagte ich. »Mein Vater hat immer gesagt, zählt die guten Dinge in eurem Leben und seid dankbar. Und dich zähl ich tausend Mal, jeden Tag. Du bist tausend – Millionen – gute Dinge. Oder noch mehr. Grenzenloser Segen. Bendiciones infinitas

»Ach, wer spricht denn da schon so fließend Spanisch?« Víctor umarmte mich.

»Ich hab das Gefühl, ein Danke ist nicht genug.« Ich lächelte ihn an.

»Gib diesen Ort nicht auf, gib die Hoffnung für ihn nicht auf«, sagte er. »Auch wenn du gehst, du kannst immer zurückkommen. Ich glaube an den Frieden. Er liegt in der Luft. Vielleicht ist der Bürgerkrieg schon Ende November vorbei. Die Dinge ändern sich, Parfait, verstehst du?«

Die andere Hälfte der Augusta Hope

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