Читать книгу Die andere Hälfte der Augusta Hope - Joanna Glen - Страница 19
Augusta
ОглавлениеMr Sánchez sammelte sich.
»Duende kann man beim Flamenco erleben, wenn alle Bedingungen stimmen – wenn die Gitarre und der Gesang und der Tanz mit dem Klatschen der Menge und der nächtlichen Hitze verschmelzen. Dann plötzlich, manchmal nur ganz kurz, wie beim Feuerwerk, nur viel besser, entlädt sich eine berauschende Energie, und die ganze Atmosphäre verändert sich. Und neben dir murmelt vielleicht jemand ganz leise, im Schutz des Dunkels, aus dem Innern des Zaubers: Olé.«
Vielleicht war der duende soeben durch die grauen Wände des Klassenzimmers oder unter der Tür hindurchgeweht. Die Atmosphäre hatte sich gewandelt, und es war totenstill. Wir saßen da und starrten Mr Sánchez an wie in Trance.
Nach und nach wich die Stille einem leisen Rascheln, wie das Flattern von Schmetterlingsflügeln.
Ich meldete mich.
»Und was heißt Schmetterling?«
Meine Stimme klang seltsam brüchig.
Ich konnte nur an duende denken.
»Schmetterling – mariposa«, sagte Mr Sánchez.
»Oh«, sagte ich. »Danke.«
Denn sowie man das Wort mariposa sagt – probieren Sie es aus! –, fliegt ein Schmetterling aus dem Mund.
»Und jetzt alle zusammen«, sagte Mr Sánchez.
Mariposa mariposa mariposa.
Schmetterlinge flatterten wie Konfetti durchs Klassenzimmer.
»Was heißt Frühling auf Spanisch?«, fragte ich.
»Frühling?«, sagte Mr Sánchez. »Primavera.«
Primavera primavera primavera.
Ich dachte mir damals gern lateinische Sätze aus, versuchte sogar, einen Teil meines Tagebuchs auf Latein zu schreiben. In meiner Familie erzählte ich niemandem davon, die hielten mich sowieso schon für verrückt.
Primavera.
Für mich klang das nach Latein.
Primum – das Erste.
Verum – die Wahrheit.
Ich meldete mich.
»Mr Sánchez«, sagte ich. »Das Wort für Frühling klingt wie erste Wahrheit.«
Um mich herum bekamen die Gesichter den Ausdruck, den sie um mich herum immer bekamen.
Aber Mr Sánchez nickte. Er sah ganz nachdenklich und traurig aus, ich wusste gar nicht, warum.
»Frühling«, sagte er, seine Augen blickten dabei so trübsinnig wie die der einsamen Kuh, die die Hendersons grundlos auf ihrer Weide hielten. »Frühling – die erste Wahrheit. Ja, wahrscheinlich.«
Wieder wurde es still im Klassenzimmer.
Als wäre der duende zurück.
Mr Sánchez war der einzige Lehrer, den ich je hatte, der durch seine eigene Stille Stille schaffen konnte. Die meisten Lehrer mussten mit den Armen rudern und rufen und mit irgendwas drohen.
»Frühling«, wiederholte er. »Die erste Wahrheit.«
Als die Schulglocke ertönte, konnte ich es nicht glauben.
Mr Sánchez schreckte auf.
Später erfuhr ich, dass er seine Frau verloren hatte, deren Name Leonor gewesen war, wie die Frau des spanischen Dichters Antonio Machado. Sie war im Frühling gestorben. Während sie im englischen Hospiz immer kahler und immer weniger wurde, rieselten vor dem Fenster die Apfelblüten herunter und vermoderten auf dem Rasen.
»Das Bücherverteilen am Anfang hat wohl ziemlich lang gedauert«, sagte Mr Sánchez. »Uns ist die Zeit davongelaufen …«
»Das tut sie doch immer. Die Frage ist, wohin«, sagte ich.
Er lachte.
Dann stockte er, und es sah aus, als wäre er den Tränen nah.
»Ja, wohin? Wo ist die ganze Zeit geblieben, Augusta?«
»Vielleicht finden wir sie ja im Himmel«, antwortete ich zu meiner eigenen Überraschung. Die Worte kamen aus mir heraus, ohne dass ich sie gedacht hatte.
»Oder wäre das die Hölle?«, erwiderte Mr Sánchez. »Unsere ganze Vergangenheit am Straßenrand aufgehäuft zu sehen, alles, was wir je gesagt, gedacht und getan haben.«
Das war so eine von Mr Sanchez’ Fragen, die einem den Atem verschlugen, als hätte er sie dir mitten durchs Herz geschossen.
Dann war unsere allererste Spanischstunde vorbei. Alle erhoben sich schon von den Stühlen, da sagte Mr Sánchez: »Und natürlich ist Spanisch die Sprache von Miguel de Cervantes, Federico García Lorca, Gabriel García Márquez, Isabel Allende und nicht zu vergessen Picasso, Dalí und Velásquez.«
Der Klang dieser Namen!
Das ist mein Himmel.
In meinem Himmel sitzen sie unter einer ewigen Palme zusammen und unterhalten sich bis in alle Ewigkeit über weltbewegende Dinge, in diesem herrlichen Spanisch, das klingt wie MG-Salven und Lebensfreude zusammen.
Einer nach dem anderen verließen wir den Raum, aber ich blieb vorn stehen und sagte: »Danke, Mr Sánchez. Das war die beste Stunde, die ich je hatte – und können Sie mir bitte Ihr Buch über den Duende leihen?«
Er nickte und strich sich den Bart und wirkte wie unter Schock, und ich wusste eins: Ich musste unbedingt nach Spanien.
Nach España.