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Augusta

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Am 31. Dezember 1999, dem letzten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts und des alten Millenniums, einem Tag mit viel Potenzial für Drama, fand bei Pattons in Nummer 13 eine Silvesterparty statt. Es war das einzige frei stehende Haus im Willow Crescent und stand leer bis auf mehrere Türme identischer Pappkartons, jeder davon mit schwarzem Marker in mysteriösen vokallosen Chiffren wie SZ1/KS oder WZ/BR beschriftet, sodass man denken konnte, Mr Patton wäre beim Geheimdienst.

Wie sich herausstellte, diente die Jahrtausendwende nur als Vorwand, denn der eigentliche Zweck der Party bestand darin, den Patton-Kindern Gelegenheiten für allerlei musikalische Darbietungen zu geben. Und zwar praktisch alle fünf Minuten. Cello, Geige, Klarinette, ein Blockflötenensemble, und das Ganze wieder von vorn, bis wir anderen vor Langeweile fast gestorben waren.

Dann kam der 1. Januar 2000 – Julia und ich waren neuneinhalb, und das Science-Fiction-Zeitalter hatte begonnen.

Es ließ hoffen. Als könnte jeden Moment etwas Gewaltiges passieren. Als würde im nächsten Augenblick ein Bataillon Silberroboter im Crescent einmarschieren. In Wirklichkeit aber rollte am nächsten Tag, dem 2. Januar, ein Flügel über den Bürgersteig. Weil die Pattons (die, wie gesagt, sehr musikalisch waren) aus unserer Straße auszogen. Durchs Fenster sahen wir Tabitha Patton in einem komplett leeren Haus zwischen Umzugskartons Geige üben. Sie war zehn und bereitete sich auf die Musikprüfung in Stufe 8 vor. Sie war auf der Privatschule, wo anscheinend nur Genies rumlaufen.

»Stufe 8, das ist doch grausam«, sagte meine Mutter.

»Oder brillant«, sagte ich (nur aus Opposition, denn ehrlich gesagt konnte ich Tabitha Patton nicht ausstehen).

»Musst du mir immer widersprechen?«, fragte meine Mutter.

Wenige Tage später fuhr ein riesiger, mit ausländischen Wörtern beschrifteter Möbelwagen vor, und Umzugsleute trugen geschnitzte Bänke und strassbesetzte Kissen, antike Vogelkäfige, Hutständer und kanariengelbe Pappkartons ins Haus.

Doch viel besser als all das war das Eintreffen eines dunkelhaarigen Jungen, der scheinbar mühelos vier Kisten auf einmal tragen konnte.

Julia und ich lungerten draußen in unseren Regenmänteln herum, taten, als hätten wir irgendwo im Rondell etwas verloren, und beobachteten den Jungen im Schutz der Trauerweide – übrigens ein lausiger Beobachtungsposten, weil die Zweige viel zu dünn und fransig waren und uns nur bis zur Hüfte verdeckten.

Dann liefen wir rüber und suchten auf dem nassen Bürgersteig vor Nummer 13 weiter, murmelten was von verloren und erfuhren, dass der Junge Diego hieß. Unseren verlorenen Gegenstand vergaßen wir in der Aufregung wieder, und als Diego uns am nächsten Tag fragte, ob wir ihn gefunden hätten, hatten wir keinen Schimmer, wovon er sprach.

Im Rückblick betrachtet war er zwar bloß ein pummeliger Zwölfjähriger, aber er war drei Jahre älter als wir, und für uns war er der Größte mit seiner dunklen spanischen Haut und den schwarzen Augen. Seine Schwester hieß Paloma, was Taube bedeutet, wobei sie nicht gerade ein Täubchen war und dies vielleicht nicht der passendste Name für sie.

»An welches Tier erinnert sie dich denn?«, fragte ich Julia.

»Sag ich nicht«, antwortete sie.

Wir prusteten trotzdem los.

Dann tat es uns leid, und Julia sagte: »Sie hat ein hübsches Gesicht.« Was die Leute eben über dicke Mädchen sagen.

Meine Mutter kochte eine große Lasagne für die Neuankömmlinge, wie es bei ihr Brauch war. Mein Vater war schließlich Leiter der Nachbarschaftswache, da war dies ihrer Meinung nach das Mindeste, was sie tun konnte. Sie überreichte sie an der Haustür und spähte in den Flur, in der Hoffnung, hereingebeten zu werden.

»Es sah ganz schön kahl aus«, sagte sie bei ihrer Rückkehr, »soweit ich sehen konnte.«

»Sie sind doch gerade erst eingezogen«, sagte mein Vater. »Und bestimmt haben sie sowieso andere Bräuche.«

»Möbel werden sie sicher haben«, sagte ich.

Ein paar Tage später beging Diegos ausländische Mutter den Fehler, meiner Mutter die Lasagneform nicht zurückzubringen, die sie 1998 im Urlaub gekauft hatte und auf deren Boden die Worte Quimper, Bretagne zu lesen waren.

»Von einer neuen Nachbarin hätte ich was anderes erwartet«, sagte meine Mutter, die nicht genug Fantasie besaß, um sich in Menschen hineinzuversetzen.

Julia ging rüber zu Nummer 13, um die fehlende Form zu holen, und nahm ihr Lächeln mit. Auf dem Rückweg pflückte sie einen Zweig gelber Winterblüte aus unserem Garten und legte ihn in die Auflaufform, sodass die Küche, als meine Mutter später hereinkam, nach Blütenblättern duftete. Sie wusste einfach, wie man sie nehmen musste. Ich hätte hundert Jahre überlegen können und wäre trotzdem nicht auf die Idee gekommen, meiner Mutter einen Blütenzweig in die Lasagneform zu legen.

Wenn ich jetzt hier in La Higuera im Süden Spaniens meine Geschichte aufschreibe, kann ich, obwohl Hedley Green über dreitausend Kilometer weit weg ist, die Winterblüte im Vorgarten von Nummer 1 riechen, hab den Duft von Julias weichem, hellem Haar in der Nase, noch nass, frisch gewaschen mit Timotei-Shampoo, ich sehe es vor mir, wie es ihr über den rosa Morgenmantel fällt und darauf wartet, geföhnt zu werden. Manchmal setzten wir uns mit gespreizten Beinen hintereinander, zu zweit, manchmal auch noch mit Angela Dunnett aus unserer Straße und Julias leicht dusseliger Freundin Amy Atkins, föhnten und flochten einander die Haare und kreppten sie mit dem Crimper und wechselten uns damit ab, wer hinten sitzen musste und so diesmal nicht frisiert wurde.

»Angela Dunnett braucht vielleicht eher einen Quimper zum Kreppen«, sagte ich mit Blick auf die bretonische Lasagneform.

»Für ihren Sprachfehler kann sie doch nichts«, sagte meine Mutter. »Also lass die Schlaumeierei.«

Ich schämte mich zwar, aber fand es auch ein bisschen lustig, dass Angela Dunnett, die sich immer so toll fand, das R nicht richtig aussprechen konnte. Obwohl sie nur zwei Jahre älter war als wir, führte sie sich auf, als wüsste sie schon alles, was es über die Welt zu wissen gab.

Julia erzählte, dass Diegos Mutter Lola Alvárez hieß, wobei sie sich große Mühe gab, den Namen spanisch auszusprechen. Er bestand aus den schönsten Lauten, die ich je gehört hatte. Außerdem, fügte Julia hinzu, würde Lola Alvárez sich bestimmt doch noch als sehr gute Nachbarin entpuppen, sie hatte ein so liebes Lächeln.

Drei Monate später war es mit Julias Prognose nicht mehr weit her, denn inzwischen war der Vorgarten von Nummer 13 mit Unkraut überwuchert, was natürlich das Straßenbild verunstaltete. Meine Mutter meinte, wenn der Leiter der Nachbarschaftswache dieser Lola Alvárez das nicht sagen konnte, wer dann?

Also wurde mein Vater zu ihr hingeschickt. Doch bei seiner Rückkehr äußerte er Zweifel, ob seine Botschaft richtig angekommen war.

»Hast du überhaupt etwas gesagt?«, fragte meine Mutter.

»Ich hab gesagt, den Engländern ist ihr Heim heilig.«

»Das ist immerhin ein Anfang«, sagte meine Mutter.

»Ich frage mich, ob sie vielleicht den Unterschied zwischen Blumen und Unkraut nicht kennen«, sagte mein Vater. »Vielleicht ist es bei denen da anders.«

Er deutete in Richtung Bahnübergang, als läge Spanien hinter den Gleisen.

»Dann werde ich ihnen den Unterschied erklären, Stanley«, sagte meine Mutter.

Ich war dabei, als sie es tat, stand neben ihr und wäre am liebsten im Erdboden versunken, als sie sich vor dem Haus der Nachbarn die Locken zurechtstrich und schließlich klingelte. Ihre Wangen unter dem blassbeigen Make-up waren gerötet.

»Ihre Unkräuter sind meine Blumen«, sagte Diegos Mutter zu meiner Mutter und zwinkerte sie an, die Hände in den Taschen einer weiten Latzjeans, und lächelte wieder auf diese liebe Art, bei der sich kleine Fältchen an den Augenwinkeln bildeten.

Meine Mutter hatte nie gelernt zu zwinkern. Noch hatte sie das Bedürfnis. Noch hatte sie Verständnis für Erwachsene in Latzhosen.

Die sogenannten Unkräuter in Weiß, Blau, Gelb und Rot wuchsen weiter im Garten von Nummer 13, und ich fand sie wunderschön.

Ihre Unkräuter sind meine Blumen – noch so viele Jahre später denke ich an diesen Satz.

Ich wusste sofort, dass ich Diegos Mutter ins Herz schließen würde. Diegos Vater Fermín war hochgewachsen und dunkel und ein namhafter Wissenschaftler, der nach Hedley Green gezogen war, um das riesige Forschungslabor im Industriepark von Tattershall zu leiten. Diegos Mutter hatte eine Stelle als Spanischlehrerin im Oberstufen-College in Hinton gefunden, und sie trug ihre Haare in zwei Zöpfen, mit einer Rose in jedem Haargummi. Manchmal zog Fermín ihr Gesicht an den Zöpfen zu sich heran und küsste sie auf den Mund, mitten in der Küche. Ich war von diesem Anblick völlig hingerissen.

Die andere Hälfte der Augusta Hope

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