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Parfait

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Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich Víctor, den spanischen Priester, auf der Straße auf seinem Fahrrad traf. Wir fingen an, uns zu unterhalten, und bald sprudelte es nur so aus mir heraus, alles, was sich in mir angestaut hatte, weil ich nicht gewusst hatte, wohin damit.

Ich erzählte Víctor, dass eine Woche nach der Ermordung Melchior Ndadayes auch mein Vater Melchior gestorben war.

»Die Soldaten sind zu uns auf die colline gekommen«, sagte ich. »Und mein Vater hielt einfach die andere Wange hin, weil er den Kreislauf durchbrechen wollte.«

Ich erzählte ihm vom nächsten Mal, als die Soldaten kamen und der englische Missionar Wilfred sich vor unsere schwangere Nachbarin Honorine gestellt hatte, damit die Soldaten nicht sie, sondern ihn erschossen.

»Ich werde nie vergessen, wie er lächelte, obwohl er schon tot war«, sagte ich. »Er lag da inmitten der Narzissen, die seine Mutter aus England geschickt hatte. Ich schämte mich so sehr dafür, was unser Land ihrem Sohn angetan hatte.«

Víctor nickte.

»Meine Mutter ist dann mit den Frauen zur Müllhalde gegangen«, sagte ich, »und sie haben Narzissen aus alten Blechdosen gebastelt, um sie auf sein Grab zu legen.«

Ich holte tief Luft, denn über Claude wollte ich nicht sprechen.

Ich hatte ihm zugerufen, er solle rennen, als die Soldaten mit brennenden Fackeln kamen, aber als ich später hinter dem Busch am Fluss alle abzählte, war er nicht dabei. Wir fanden seinen verbrannten Körper zu spät, in eine Ecke gekauert.

»Sein Zwillingsbruder Wilfred hat immer noch das Seil am Fußgelenk«, sagte ich zu Víctor. »An dem er und Claude sich immer zusammengebunden hatten. Er nimmt es einfach nicht ab, und ich kann ihn nicht fragen, warum, weil er nicht mehr spricht. Kein Wort, seit Claude tot ist.«

Ich erzählte ihm von meiner Mutter, der es nicht gut ging und die keinen Arzt aufsuchen wollte, weil alle Ärzte Tutsi waren und sie ihnen nicht traute.

Immer weiter sprudelte es aus mir heraus, und Víctor nickte weiter.

Dann erzählte er mir aus seinem Leben. Von der Schule für taube und blinde Kinder, die er oben auf dem Hügel errichtet hatte. Damit sie sich nicht mehr ausgegrenzt fühlten und sich nicht mehr schämen mussten. Dann lud er mich ein, sie kennenzulernen, und ich schüttelte ihnen allen die Hände, und Víctor machte mir in seiner kleinen Küche einen Haferbrei mit Mangostücken.

»Ist Spanien wirklich da drüben?«, fragte ich. »Am Ende von Afrika und hinter dem Meer?«

Licht strömte in meinen Körper beim Gedanken an dieses Land, das real war und voller Frieden und Sonnenschein und gar nicht so weit weg.

»Es ist wirklich da drüben«, sagte Víctor.

»Und wie ist es da?«, fragte ich.

»Das Meer geht fast einmal ganz rum, und im Sommer machen die Leute Picknick am Strand und gehen schwimmen. Weihnachten und Ostern haben wir Straßenfeste, bei denen die Männer Filzhüte tragen und die Frauen gepunktete Kleider und Rosen im Haar – und wir haben einen Tanz namens Flamenco.«

»Hast du schon mal Flamenco getanzt?«, fragte ich ihn.

Víctor nickte.

»Ich war ja nicht immer Priester«, sagte er lachend.

»Ist er so ähnlich wie unsere Tänze?«, fragte ich.

»Er geht ungefähr so«, sagte Víctor.

Er stand von dem kleinen Holzstuhl auf, warf die Hände in die Luft und begann zu tanzen, wobei er die Hüften kreisen ließ und mit den Füßen aufstampfte.

»Und die Frau tanzt so …«, sagte er, und jetzt lachte er richtig, und ich lachte mit, denn er sah zum Brüllen aus mit seinem dicken grauen Bart, dem rosa Gesicht und der weiten Hose, wie er die Hüften schwang, sich im Kreis drehte und dabei sein imaginäres Kleid rascheln ließ.

Ein Mann namens Nelson Mandela kam im Radio.

Víctor hörte auf zu tanzen und drehte die Lautstärke hoch.

Dieser Nelson Mandela hatte eine Stimme, die man nicht mehr vergaß – irgendwie weich, aber unten drunter hart – wie Wolle mit Stahl im Innern.

Nelson Mandela machte Präsident Buyoya den Vorschlag, dass die Tutsi und Hutu abwechselnd die Führung im Land übernehmen könnten, das würde vielleicht die Menschen in Burundi davon abhalten, ständig zu kämpfen und zu sterben.

Víctor klatschte in die Hände und rief: »Ja! Ja!«

Ich sagte: »So naheliegend. Warum ist da noch keiner drauf gekommen?«

»Weil niemand gern die Macht teilt«, sagte Víctor.

Die andere Hälfte der Augusta Hope

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