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Augusta

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Je älter man wurde, fiel mir auf, umso mehr musste man aufpassen, was man sagte. In der ersten Klasse konnte man noch mit allem Möglichen herausplatzen, aber spätestens nach der Grundschule musste man jedes Wort vorher abwägen.

Zum Beispiel konnten wir in der Siebten und ein paar Jahre danach das Wort Rasenmähen nicht mehr laut sagen. Nachdem Robin Fox die Klasse irgendwann in die Welt des eindeutig Zweideutigen eingeführt hatte, traute sich praktisch keiner mehr, in der Schule überhaupt den Mund aufzumachen. Bei den Mädchen der Klasse wuchsen immer mehr Haare an immer heikleren Stellen, und Robin Fox kommentierte unsere struppigen Beine und Achseln mit den Worten: »Da ist wohl am Wochenende mal wieder Rasenmähen angesagt!«

Was blieb uns übrig, als unser gesamtes Taschengeld für Einwegrasierer, Epiliercremes und Wachsstreifen auszugeben, die nie was brachten? Unfassbar im Nachhinein, was für eine Macht er über uns hatte.

Robin Fox hatte vier ältere Brüder und wusste daher, wie man normale Sätze durch das Heben einer Augenbraue ins Sexuelle kehren konnte. Unser ganzes Leben lang hatten wir »Kommst du?« fragen können, ohne uns was dabei zu denken. Aber das war einmal. Jetzt sahen wir immer Robin Fox’ hochgezogene Augenbraue, und wenn genug Publikum da war, bekamen wir obendrauf den vorgetäuschten Orgasmus aus Harry und Sally zu hören, und zwar in voller Länge. Mit einem am Esstisch wild strampelnden, stöhnenden und keuchenden Robin Fox.

Ich erinnere mich an einen Tag im Frühling kurz vor unserem dreizehnten Geburtstag. Mein Vater mähte den Rasen ohne einen Hauch von Zweideutigkeit; meine Mutter kümmerte sich (dito) um die weichen Kurven der Schnittkanten; und Julia war (unbehelligt von Robins hochgezogener Braue) am Unkrautjäten.

Auch ich dachte nicht an Robin Fox. Das Glück der Sommerferien bestand auch darin, Ruhe vor ihm zu haben.

Nein, ich dachte an Lola Alvárez und ihren Satz »Ihre Unkräuter sind meine Blumen«.

Die »Unkräuter« mit ihren hübschen blauen Blütenblättern, die für mich haargenau wie Blumen aussahen, lagen jetzt auf dem Boden und warteten darauf, in grünen Plastiksäcken zur Mülldeponie gefahren zu werden, um dort in einem gelben Metallcontainer zu enden.

Ich war in meinem stickigen Zimmer geblieben, um mich vor der Ödnis der Gartenarbeiten zu drücken. Gerade beobachtete ich Pallys weiße Taube, die in dem cremeweißen Taubenschlag wohnte, den Fermín in ihrem Garten gebaut hatte. Die Taube kam oft zu Besuch und flatterte dann zwischen den samtigen Blütenblättern des Magnolienbaums herum, den mein Vater exakt in die Mitte unseres Vorgartens gepflanzt hatte. Von Zeit zu Zeit maß er alles noch einmal nach, nur um sich daran zu erfreuen, wie genau er gemessen hatte.

Heute war die Taube über unser Haus hinweg zu den drei Kirschbäumen im hinteren Garten geflogen. Sie flatterte von Baum zu Baum und weiter zum Garten der Cooks, wo sie oben auf Grahams Schaukel landete. Die stand schon seit Ewigkeiten da, aber ich hatte bisher kaum darauf geachtet.

Ich hatte zwar gesehen, wie Barbara Cook Graham – im Regen – in dem riesigen Gitterschaukelsitz anschubste, und ich hatte auch gesehen, wie Jim Cook ohne Hemd mit seinem großen Ballonbauch vor der Schaukel stand und dabei grölte: »Hey ho and up she rises.«

Aber als ich an diesem Tag aus dem Fenster blickte, fiel mir auf, dass ich noch nie jemanden auf der zweiten, normalen Schaukel neben Graham hatte sitzen sehen. Noch nie in seinem ganzen Leben.

Also schlich ich mich nach unten und aus dem Haus, lief über den schmalen, grau gepflasterten Weg unserer Auffahrt nach nebenan und fragte Barbara Cook, ob Graham Lust hätte, mit mir zu schaukeln.

Graham war in seinem komischen Laufstall, wo er vor und zurück wippte und dabei ein bisschen klang wie ein Staubsauger, den man auf dem Teppich hin und her schiebt.

Barbara Cook sprach ihn an und führte ihn dann am Arm in den Garten. Es war gar nicht so leicht, ihn in die Schaukel zu bekommen, aber als er mit seinem roten Bus erst einmal drinsaß und zu schaukeln begann, hörten die Staubsaugergeräusche auf.

Barbara schob Graham an, und auch ich fing an zu schaukeln, langsam erst, vor und zurück im Takt mit ihm, dann immer höher. Von oben sah ich meine Mutter, meinen Vater und Julia im Garten graben.

Und runter.

Und hoch – alle noch am Graben.

Und runter.

Und hoch – eigenartig, meine Familie ohne mich als Familie zu sehen.

Grabend.

Voller Konzentration.

Mein Vater drehte sich um.

Und wieder runter.

Ich fand es großartig, dass sie keine Ahnung hatten, dass ich sie beobachtete.

Ich kam mir allwissend vor.

Aber auch etwas seltsam.

Ich sang »Hey ho and up she rises« wie Jim Cook, und Graham und ich machten zusammen Lachgeräusche.

Und wieder hoch – meine Familie weiterhin ahnungslos.

Es roch nach frisch geschnittenem Gras.

Barbara Cook ging kurz ins Haus, und ich hörte, wie sie mit Jim schimpfte: »Du bist betrunken!«

Sie kam mit einer Kamera zurück. Sie stellte sich vor die Schaukel, rief »Cheese!« und fing an zu lachen. Sie schien gar nicht mehr aufhören zu können, und es klang, als hätte sich dieses Lachen über einen langen Zeitraum irgendwo tief drinnen aufgestaut. Während sie weiterlachte, machte sie immer mehr Fotos von ein und derselben Szene – Graham Cook und ich, nebeneinander auf der Schaukel.

Sie gab Graham noch einen Schubs und ging wieder ins Haus. Von dort brachte sie Tee und ein geblümtes Kissen mit, setzte sich auf den weißen Plastikstuhl und stellte ihren Tee auf den weißen Plastiktisch. Sie seufzte laut und tunkte einen Keks in den Tee, bis er an den Rändern aufgeweicht war. Als sie den Kopf hob, sah ich, dass sie weinte, und zwar so, wie sie gelacht hatte: als würde sie nie mehr aufhören.

Grahams Schaukel war zum Stillstand gekommen, und er stöhnte und zuckte, und Barbara Cooks Tränen sprudelten weiter von tief drinnen. Ich stellte mir vor, dass wir alle den Bauch voller Bläschen hatten, die sich beim Weinen säurerot und beim Lachen blau färbten wie Lackmuspapier. Wahrscheinlich trugen wir alle einen unerschöpflichen Vorrat dieser Bläschen in uns, und ich hätte gern gewusst, ob mein Leben mehr ein lachendes bläuliches oder ein weinendes rotes sein würde. Das weiß niemand.

Nein, niemand weiß es.

Barbara Cook weinte weiter, Graham und ich schaukelten weiter, und nach einer Weile war Schluss. Ich bedankte mich bei Barbara, schlich durch die Doppelgarage und die Hintertür zurück ins Haus und lief die Treppe hoch. Auf dem Absatz traf ich meine Mutter.

»Wir haben dich gerufen«, sagte sie. »Wo warst du die ganze Zeit?«

»Auf Toilette«, log ich.

»Wir fahren jetzt alle zusammen zur Deponie«, sagte sie.

»Wie aufregend«, sagte ich, was nicht die richtige Antwort war.

Kurz darauf saßen Julia und ich angeschnallt auf dem Rücksitz des Autos.

»Und was hast du solange getrieben?«, fragte meine Mutter.

»Nichts«, sagte ich.

Als ich eine Woche später bei den Cooks vorbeischaute, hing ein großes gerahmtes Foto von Graham und mir auf den schwingenden Schaukeln im Flur.

Als ich eintrat, rief Barbara Cook Graham zu: »Deine Freundin ist hier.«

Das gab mir ein komisches Gefühl. Ich hoffte, ich könnte einfach so nett zu Graham sein, ohne seine Freundin werden zu müssen, also seine feste Freundin. Und dann ging mir auf, dass Graham sein Leben lang wohl nie eine feste Freundin haben würde.

Richtig problematisch wurde es, als mein Vater bald darauf die Cooks besuchte und das Foto im Flur entdeckte und als Barbara Cook Graham zurief: »Der Vater von deiner Freundin ist hier!«

Mein Vater forderte Barbara auf, das nicht mehr zu sagen. Als er nach Hause kam, sagte er, weder ich noch Julia dürften Graham Cook zu Hause besuchen, er wäre kein Umgang für uns. Und was ich mir dabei gedacht hätte, mit ihm zu schaukeln, als ob … als ob ich ..., stammelte er und brach ab.

Meine Mutter guckte ganz erschrocken, wrang ihre Schürze und fing an, Barbara Cooks gute Eigenschaften aufzulisten.

»Es macht mir aber Spaß, mit ihm zu schaukeln«, sagte ich trotzig. »Und ich bin gerne mit ihm befreundet.«

Der Hals meines Vaters lief rot an, und seine Finger zitterten.

»Das Schaukeln hört auf«, sagte er.

Dann sagte ich etwas sehr Freches. Mit einem Wort aus der Welt des Zweideutigen, das ich in der Schule gelernt hatte. Mein Vater fand es nicht so lustig.

Ich sagte: »Und wie ist es mit Rutschen? Oder hast du Angst, ich lass ihn über mich drüberrutschen?«

Meine Mutter und mein Vater wurden ganz still, und mein Vater forderte mich und Julia auf, bitte in unser Zimmer zu gehen.

Sofort.

Jetzt.

JETZT.

»JETZT«, schrie mein Vater.

Julia fragte mich, warum mein Vater sich über die Sache mit Graham so aufregte.

»Weil er so ein Idiot ist, zu glauben ...«, fing ich an.

»Bitte sag nicht so was«, sagte Julia.

»... dass ich Graham als Freund will. Wo doch ein Blinder sieht, dass ich Diego will!«

»Ich auch«, sagte Julia.

»Wir können ihn nicht beide haben«, sagte ich. »Wir können ihn ja schlecht teilen, das führt sogar bei Zwillingen etwas zu weit.«

»Aber für wen wird er sich entscheiden?«, fragte Julia. »Auf jeden Fall für eine von uns. Wir sind schon ewig hinter ihm her.«

»Die Entscheidung ist nicht schwer«, sagte ich. »Wir sind uns ja nicht gerade ähnlich. Besonders für Zwillinge.«

Noch im selben Moment wusste ich, wie er sich entscheiden würde.

»Jeder sagt, im Gesicht sehen wir uns ähnlich«, sagte Julia. »Nur die Haarfarbe und Körperform sind unterschiedlich.«

Ich blickte an meinen dünnen Beinen mit den dunklen Haaren hinunter.

»Tja, er muss einfach danach entscheiden, wessen Haare und Körper er lieber mag«, sagte Julia.

»Das klingt schrecklich«, sagte ich. »Man muss sich doch in den Charakter verlieben, nicht in die Körperform. Es ist voll sexistisch, Frauen als Körper zu betrachten, Julia.«

»Aber ich kapier immer noch nicht, warum Dad nicht will, dass du Graham besuchst.«

»Er will mich nicht mit einem Spastiker zusammen sehen.«

»Hör auf«, sagte Julia.

»Das hat er ungelogen beim Handarbeitsmarkt zu mir gesagt«, sagte ich. »Dass ich, wenn ich bei Graham sitze, auch spastisch wirke. Und dann hat er mir fast den Arm ausgekugelt, um mich wegzuziehen.«

»Trotzdem versteh ich nicht, warum er uns ins Bett geschickt hat«, sagte Julia, die unsere Eltern nicht gern kritisierte.

»Weil ich einen Witz gemacht hab, übers Rutschen.«

»Welchen Witz denn?«

»Robin Fox hat erzählt, es heißt drüberrutschen, wenn ein Mann Sex mit einer Frau hat. Und er meinte auch, in Straßen wie der hier rutschen die Männer ständig über fremde Frauen drüber. Swingen heißt das wohl.«

»Aber Dad ist doch bei der Nachbarschaftswache«, sagte Julia. »Würde er das nicht verhindern?«

»Es passiert ja in den Häusern«, sagte ich. »Anscheinend werfen einfach alle ihre Schlüssel in eine Schale und landen in irgendeinem anderen Haus.«

»Was? Sie gehen mit Absicht ins falsche Haus?«, sagte Julia.

»Ja«, sagte ich. »Für Sex.«

»Was? Leute wie Helen Dunnett und Janice Brown?«, sagte Julia mit einer tiefen Falte auf der Stirn.

»Robin Fox meinte, das wäre typisch Vorstadt, aber ich hab keine Ahnung, wie er das meinte.«

»Meinst du, Mum und Dad machen bei so was mit?«, fragte Julia ungläubig. »Glaubst du, Dad hat Sex mit Helen Dunnett oder Janice Brown gehabt?«

Ich nickte ernst und sagte dann: »Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass irgendwer außer Mum den Anblick von Dads Unterhosen erträgt.«

Julia kugelte sich vor Lachen beim Gedanken an die grauen Slips mit Y-Eingriff, durch die die Männer ihr Ding stecken konnten. (Wir kannten inzwischen haufenweise Wörter für das Ding, aber keine von uns brachte es über sich, sie zu benutzen – schon der Gedanke daran grauste uns. Ganz zu schweigen von der Rolle, die sein Ding in unserer Entstehung gespielt hatte. Mit unserer eigenen Mutter!)

Jetzt kam mein Vater wutschnaubend die Treppe hoch, denn er hatte gehört, dass ich, anstatt mich für meinen unanständigen Witz zu schämen, schon wieder am Lachen war. Dann stand er bebend und mit pochenden Adern am Hals vor uns und brüllte, aber wir wussten ja, dass er seine graue Schlitzunterhose anhatte, und schlugen uns die Hand vor den Mund, um nicht erneut laut loszulachen. Es nutzte nichts, wir prusteten durch die Finger. Was ihn vollends auf die Palme brachte.

Dann kam noch unsere Mutter dazu, sie hatte gebadet und roch nach Talkumpuder, und durch das leicht durchsichtige Nachthemd konnten wir ihre große Stretchunterhose und den Speckring sehen, der wie ein riesiger Donut auf ihrer Hüfte saß.

»Wenn ihr weiter so lacht«, sagte meine Mutter, »bekommt euer Vater noch eine Herzattacke.«

Kaum hatte sie das Wort Herzattacke gesagt, platzte mir, ich weiß nicht, warum, eine Art Lachschrei aus dem Mund und zwischen den Fingern durch – worauf auch Julia schallend loslachte.

Meine Mutter lief knallrot an.

Sie blickte Julia an und sagte: »Von dir hätte ich mehr erwartet.«

Und ich begriff, dass sie von mir offensichtlich nichts erwartete.

Ich war hin- und hergerissen – wollte ich ab jetzt brav sein wie Julia oder extra böse, um es meiner Mutter heimzuzahlen?

Die andere Hälfte der Augusta Hope

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