Читать книгу Die andere Hälfte der Augusta Hope - Joanna Glen - Страница 7
Augusta
ОглавлениеMeine Mutter mit ihrer Vorliebe für alles, was mit Stricken, Sticken und Nähen zu tun hatte, wollte uns ständig für diese schrecklichen Handarbeitsgruppen begeistern, wo man Stoffeulen basteln oder Puppendeckchen häkeln musste.
Für den Laden unseres Vaters bot sie einen speziellen Service an, der darin bestand, Turnbeutel, Mäppchen, Hemden, einfach alles mit Namen zu besticken.
Wir waren kaum auf der Welt, da prangten auch unsere Namen schon auf allem, mal eingenäht oder aufgestickt, mal gemalt und gerahmt, mit Blumenschnörkeln, die sich oben und unten aus den Buchstaben rankten.
Barbara Cook aus Nummer 2 war von den Arbeiten meiner Mutter so beeindruckt, dass sie einen Malkurs belegte, was dazu führte, dass sie bald nur noch indische Wickelröcke trug. Was mit ledernen Slipper-Pumps, hautfarbenen Strumpfhosen und Anoraks ziemlich komisch aussah.
Helen Dunnett aus Nummer 3 (die einen sehr dünnen grauen Windhund besaß) häkelte viel, zum Beispiel Krawatten für ganz kleine Jungs, Babymützchen und Klopapierhüte – und sogar ein Mäntelchen für den Hund, in Blassgrün.
Der Handarbeitswahn muss ansteckend gewesen sein, denn in kürzester Zeit war über die Hälfte der Frauen im Willow Crescent davon befallen und bastelte in der Freizeit um die Wette, schuf Flickenpuppen, dreieckige Kerzen, Babysachen, Pop-up-Grußkarten für besondere Anlässe. Nichts schien unmöglich – kaum gedacht, schon handgemacht.
Meine Mutter träumte von einem eigenen Bastelraum, schließlich hatte mein Vater ja auch sein eigenes Arbeitszimmer, doch obwohl er sechs Tage die Woche außer Haus arbeitete, kam er nicht auf die Idee, es mit ihr zu teilen.
Sein Arbeitszimmer war der einzige Raum in unserem Vier-Zimmer-Haus, für den er verantwortlich war. Auf seinem Schreibtisch herrschte makellose Ordnung, die dunkelgrünen Akten waren beschriftet von A bis Z, die Pinnwände mit bündig aneinandergrenzenden Zetteln behangen. Er war auch zuständig für die Doppelgarage, die Einzelgarage und den Garten, wo jedes Ding seinen festen Platz hatte.
Barbara Cook hatte die Idee, im Willow Crescent einen Handarbeitsmarkt abzuhalten. Man war sich schnell einig, dass Nummer 1 die beste Adresse dafür wäre, nicht nur wegen unseres überdurchschnittlich großen Gartens, sondern auch, im Fall von Regen, wegen der makellos ordentlichen Doppelgarage. Die Einzelgarage sollte für das von den Kindern zu organisierende Rahmenprogramm dienen.
»Wir hatten überlegt, wie wir Spenden für die Farm School sammeln können, wo Graham Cook hingeht«, erklärte meine Mutter meinem Vater. »Wir alle fanden, so ein Handarbeitsmarkt wäre eine gute Idee.«
»Wie nett«, sagte mein Vater. »Da werden sich die Cooks freuen.«
»Ja, das dachten wir auch«, sagte meine Mutter, ließ diesen Anfall von Menschenliebe kurz wirken und streute dann wie beiläufig die Sache mit dem Veranstaltungsort ein.
»Ich will nicht, dass alle über unseren Teppichboden trampeln, um auf Toilette zu gehen«, sagte mein Vater.
Ein paar Stunden später hatte sich die Diskussion unserer Eltern mehrmals im Kreis gedreht, beide klangen immer gereizter, und Julia und ich lauschten vom Bett aus bang auf Hinweise auf die bevorstehende Scheidung, als unser Vater plötzlich ausrief: »Und ob ich eine Außentoilette baue!«
Den ganzen Frühling und Sommer hindurch werkelte mein Vater an dieser Außentoilette, und am Ende strich er sie an und montierte ein Rot-Grün-Drehschloss, das anzeigte, ob gerade besetzt war. Innen gab es eine kleine Ablage, für die meine Mutter ein Bouquet Trockenblumen zusammenstellte. Bei Helen Dunnett kaufte sie einen Häkelklopapierhut – und zwar in, wie Helen es nannte, Terrakotta-Rost.
Nach Abschluss der Arbeiten wirkte mein Vater an den Sonntagen immer ein bisschen verloren, als wäre seinem Leben der Sinn abhandengekommen.
Meine Mutter und ihre Freundinnen hielten alle fünf Minuten Konferenzen an unserem Küchentisch ab, während die Kinder mit der Planung der Zusatzveranstaltungen wie Schätze die Anzahl der Bonbons im Glas oder Rate, wie schwer der Kuchen ist begannen.
Meine Aufgabe war es, die gebrauchten Spielsachen zu sortieren und mit Preisen zu versehen, die meine Mutter jedoch, wie ich später feststellte, mit Edding noch einmal überschrieb. Unter den Spielsachen fand ich eine hässliche Stoffpuppe mit gelben Zöpfen, eine nagelneue Peter-Hase-Figur und eine bemalte Porzellanpuppe mit nur einem Arm und einem Bein. In meiner Wut über die mit der Preisbeschriftung vertane Zeit riss ich ihr auch die restlichen Gliedmaßen aus, was sich seltsam anfühlte. Ihren Torso legte ich zusammen mit dem abgetrennten Arm und Bein in meine Nachttischschublade und verfasste dann eine Geschichte über ein totes Baby, das in Plastik eingepackt war, wie der unbenutzte Peter Hase.
Ich gab sie Julia zu lesen, damit noch jemand anders wusste, wie schrecklich es bei mir im Kopf zuging, wo man ja nicht immer die Kontrolle hat. Sie zögerte kurz, atmete tief durch und sagte dann: »Jeder hat mal komische Gedanken. Und vielleicht hast du zu viele schlimme Dinge über Burundi gelesen. Aber wir verbrennen sie doch sowieso wieder, oder, Gusta? Das macht bestimmt auch Spaß, meinst du nicht?«
Ich stimmte zu, aber heute bereue ich, dass ich sie ihr gezeigt habe.
Noch so viele Jahre später höre ich ihre kindliche Stimme so klar und deutlich, dass ich vor Schreck zusammenzucke.
Ich höre, wie sie versucht, mich zum Spaß, zum Fröhlichsein hinzuziehen, weg von der Dunkelheit.
Eine blasse Motte flattert auf das Licht der Kerze zu, die vor mir steht, während ich hier im Halbdunkel des Wohnwagens schreibe. Ich verscheuche sie. Sie hat dunkle Schnörkel auf den Flügeln, wie Buchstaben auf sepiafarbenem Papier.
Julia ging ins Haus, um Streichhölzer zu holen, und wir verzogen uns in ein gemütliches Versteck hinter dem Schuppen – ich spüre jetzt noch die rauen Holzlatten, an denen unsere Pullis hängen blieben, und ich sehe den Feuerkorb vor mir, mit Spinnweben überzogen. Dort, auf einer dieser glücklichen Zeitinseln nur für Geschwister, standen wir nebeneinander vor unserem kleinen Feuer und sahen meine Geschichte in Flammen aufgehen.
Mein Vater drehte durch, als er uns fand.
Ich sagte, es sei alles meine Schuld.
Auch Julia nahm Schuld auf sich, wobei sie seine Wut mit ihrer leisen, sanften Stimme übergoss, wie eine warme Dusche.
»Es tut uns leid, Dad, es tut uns leid«, sagte sie, ihr kleines herzförmiges Gesicht war ganz zerknittert vor lauter Leidtun.
Damals dämmerte mir, was ich heute weiß: Mir tat es überhaupt nicht leid.
Worüber man im Komitee nicht sprechen konnte, weil Barbara Cook den Handarbeitsmarkt auf die Beine gestellt hatte, war die Frage, was an dem Tag mit Graham Cook passieren sollte. Denn auch wenn es keiner sagte, fürchteten alle, seine komischen Gurgellaute würden die Menschen vom Kaufen abhalten.
Als eines Samstags Barbara Cook auf Besuch zu ihrer Schwester fuhr, wurde daher in unserer Küche eine Ad-hoc-Sitzung des Komitees einberufen. Praktisch noch bevor sie begonnen hatte, kam mein Vater ständig hereingelaufen in der Hoffnung, sie wäre bald vorbei.
»Und wenn Barbaras Bruder kommt und den Tag über auf Graham aufpasst?«, sagte meine Mutter. »Er kann gut mit ihm umgehen.«
Mein Vater schüttelte den Kopf.
»Der ist doch unberechenbar«, sagte er im Vorbeigehen. »Was, wenn er im Garten einen seiner Wutanfälle bekommt?«
»Ich kann mich gern um Graham Cook kümmern«, sagte ich. Graham war zwar fünf Jahre älter als ich, aber ich fand, unter den gegebenen Umständen ginge es vielleicht trotzdem.
»Ach, Schatz, du kannst doch nicht auf Graham Cook aufpassen«, sagten meine Eltern praktisch unisono, als mein Vater wieder durch die Küche lief. »Du bist doch erst zehn.«
»Fast elf«, sagte ich.
»Wenn Graham wütend wird, tickt er aus«, sagte Hilary Hawkins. »Da kann man echt Angst bekommen.«
Am Ende aber erzählte Barbara Cook dem Handarbeitskomitee, wie sehr Graham sich auf den Markt freute, und so saß er, als der Tag dann kam, mit seinem roten Bus in der Hand in einer schattigen Ecke hinten im Garten neben dem Kerzenstand, machte Gurgellaute und hielt so die Leute davon ab, näher zu kommen.
Ich ging zum Stand mit den gebrauchten Spielsachen und kaufte mir einen roten Plastikbus. Mit dem setzte ich mich neben Graham, damit es normaler wirkte, einen roten Plastikbus zu halten. Ich spielte mit dem Gedanken, selbst auch Gurgellaute zu machen und die Arme ruckartig zu bewegen, kam aber zu dem Schluss, dass das zu viel Aufsehen erregen würde.
So saßen Graham Cook und ich mit unseren Plastikbussen im unerwarteten Sonnenschein nebeneinander, und er schien beruhigt und machte fast keine komischen Laute. Julia musste zwar am Glückstopf neben der Außentoilette die Stellung halten, aber sie ermunterte mich mit ihrem Julia-Lächeln.
Dann kam mein Vater und raunte mir zu, sobald Barbara Cook außer Hörweite war: »Meine Güte, steh auf. Du machst dich lächerlich. Die Leute denken noch, du wärst auch ein bisschen …«
»Ein bisschen was?«, wollte ich wissen.
»Halt ein bisschen … du weißt schon. Zurückgeblieben. Spastisch.«
»Ich bleibe hier«, sagte ich. »Aus Solidarität mit Graham.«
Da packte mich mein Vater, zog mich ruckartig hoch, als wollte er mir den Arm ausreißen, und flüsterte mir mit einer strengen, fast drohenden Stimme ins Ohr: »Du gehst jetzt rüber zum Glückstopf und hilfst deiner Schwester.«
Graham Cook stöhnte und heulte auf und versuchte wegzulaufen, und Jim Cook musste ihn im Polizeigriff festhalten.
Ich schloss mich in der Außentoilette ein und brach in Tränen aus, ich weinte und weinte, so tief saß der Schock, und als ich mit meinem roten Bus wieder rauskam, hatte sich eine lange Schlange gebildet, und Angela Dunnett sagte: »Wir wollten schon die Feuerwehr wufen. Wir dachten, du wärst eingeschlossen.«
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Angela Dunnett so nett zu mir war und mir sogar einen Cupcake mit Buttercreme vom Kuchenstand geholt hatte, um mich zu trösten, und ich beschloss, nie, nie wieder Witze über ihr R zu machen.
Mein Freund Ian tauchte auf und kaufte aus Spaß die hässliche Puppe mit den gelben Zöpfen. Wir lieferten uns hinter der Außentoilette später ein Tauziehen – bis sie riss und die ganze Füllung herausquoll.
Danach stellte ich mich neben Julia an den Glückstopf, den roten Bus in der Hand. Julia fragte nicht, warum ich geweint hatte. Sie nahm nur meine Hand, doch als mein Vater mit rotem, wutverzerrtem Gesicht angelaufen kam, ließ sie sie wieder los. Im Vorbeigehen zischte er mir eine weitere laute Ermahnung ins Ohr: »Leg den verdammten Bus weg.«
Julia biss sich auf die Lippe und wirbelte die Sägespäne im Glückstopf auf, damit die verbliebenen Preise zum Vorschein kamen.
Alle Fröhlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden.