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IN MOSKAU

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Das Land des siegreichen Proletariats, in dem er »Liebe, Kameradschaft und Aufrichtigkeit«73 am Werk sah, betrat er mit einem schmeichelhaften Empfehlungsbrief von Gorkić, der an Vladimir Ćopić–Senjko gerichtet war, einen der Gründer der KPJ und Vertreter der Partei bei der Komintern: »Er stellt den besten Teil unseres Arbeiteraktivs dar, und nach einiger Zeit (6–9 Monate) werden wir ihn zu Führungsarbeiten ins ZK aufnehmen.«74Obwohl Ćopić in ihm einen möglichen Konkurrenten sah, beschaffte er ihm im fünften Stock des Hotel Lux, das im Stil der russischen Sezession gebaut war und dem vom einstigen Luxus nur der Name geblieben war, das Zimmer 275. Seit der Revolution hatte man in dem Hotel nach Moskau geflüchtete ausländische Kommunisten einquartiert. Hier wimmelte es von Ratten und es herrschte ein unangenehmer Kohlgeruch, der aus den zwei Gemeinschaftsküchen in jeder Etage kam.75 Broz’ erste Aufgabe bestand darin, seinen Lebenslauf niederzuschreiben, wie das bei der Komintern üblich war.76 Er musste ihn mehrmals schreiben, sodass die Beamten in der Kaderabteilung anhand der verschiedenen Versionen seine Glaubwürdigkeit überprüfen konnten. Auf Anordnung eines gewissen Jakubowitsch, Vertreter der sowjetischen Geheimpolizei (GPU) beim EKKI, und des bulgarischen Kommunisten Ivan Karaivanov–Špiner, Mitglied der Kaderabteilung, verfasste er anschließend detaillierte Charakterisierungen von sieben prominenten jugoslawischen Parteifunktionären, Gorkić eingeschlossen. Darin beschreibt er betont offenherzig die Tugenden, aber auch die Schwächen der zu beurteilenden Genossen, wobei er darauf achtete, über Ćopić, von dem er abhängig war, nur Positives zu sagen. (In Wirklichkeit hielt er ihn für einen »Waschlappen und Wichtigtuer«.)77 Zum Dank schlug Ćopić seinen Vorgesetz ten vor, Broz zur Erholung in ein Sanatorium zu schicken. Nach V. N. Bondarew, einem Historiker, der sich intensiv mit Titos Moskauer Jahren befasst hat, könnte mit »Sanatorium« allerdings auch die Lubjanka, der berüchtigte Sitz der Geheimpolizei, gemeint sein, wo die Agenten des NKWD neue Kader an warben.78

Als Broz zurückkehrte, verbürgte sich Karaivanov am 21. Mai 1935 schriftlich dafür, »dass Broz im politischen Sinne volles Vertrauen verdient«.79Das bestätigten sowohl Ćopić als auch der mächtige Direktor der Kaderabteilung, der Bulgare Georgi Damjanow, besser bekannt unter dem Parteidecknamen Below, obwohl dieser Broz gegenüber von allem Anfang an keine Sympathie hegte. Das Exekutivkomitee der Komintern empfahl daraufhin dem ZK der KPJ vor, den »Genossen Walter« – wie sie ihn tauften – als ihren »Politreferenten« im Balkansekretariat einzusetzen, das von dem bekannten deutschen Kommunisten Wilhelm Pieck geleitet wurde. Das ZK der KPJ stimmte diesem Vorschlag zu.80

An der Spitze der Komintern stand zu dieser Zeit der legendäre Georgi Dimitrow, ein bulgarischer Revolutionär, der im Prozess um den Reichstagsbrand in Berlin angeklagt, aber wegen seines mutigen und wirkungsvollen Auftretens vor den deutschen Richtern freigesprochen worden war. Broz konnte sich bald Dimitrows Unterstützung gewiss sein: er galt ihm als durch und durch loyaler Kommunist, einer der wenigen Jugoslawen, der für die praktische Arbeit geeignet, wenngleich in der Theorie des Marxismus-Leninismus eher wenig beschlagen war.81

Trotzdem wurde Broz vorübergehend Dozent im jugoslawischen Sektor der Internationalen Lenin-Schule und an der Kommunistischen Universität der Nationalen Minderheiten des Westens, und bald darauf auch Mitglied der Vertretung der KPJ bei der Komintern.

Die jugoslawische Diaspora in Moskau, die annähernd 900 Menschen zählte (allein die Mitglieder des ZK der KPJ brachten es in unterschiedlichen Gruppierungen auf nahezu fünfzig), war ähnlich zerstritten wie die Partei in der Heimat, es herrschten die gleichen Verhältnisse wie im »Zuchthaus«.82 Er mied, wie er später selbst erzählte, ihre Gesellschaft, teils weil er im Gefängnis die Einsamkeit liebgewonnen hatte, teils weil er sich bewusst war, dass man ständig darauf achten musste, was man sagte. »Besonders in Räumen mit einem Telefonapparat.«83 Er widmete sich voll und ganz seiner Arbeit und besuchte unter anderem auch Seminare in Führungstechnik und Konspiration, die die Komintern in Moskau abhielt.84 »Diese Zeit nutzte ich auf bestmögliche Weise zum Studium: Mein einziger Weg führte vom Hotel Lux zum Gebäude der Komintern, und vielleicht hat mich das davor bewahrt, unter Stalins Messer zu geraten.«85 Sein zurückhaltendes Auftreten bestätigt auch Ruth von Mayenburg, die Ehefrau des österreichischen Kommunisten Ernst Fischer, in ihren Erinnerungen an das Leben im Hotel Lux: »Tito bewegte sich durch die langen Korridore allem Vernehmen nach wie eine unscheinbare Maus. Keiner von den Nachbarn beachtete den stillen, bescheidenen Genossen, der mit kaum jemandem ein Wort wechselte, allein seiner Wege ging. Die Jugoslawen waren ohnehin eine konspirative Welt für sich, die fremden Genossen nur selten Einblick gewährte; selbst das Balkan-Sekretariat im Kominterngebäude an der Mochowaja arbeitete hinter verschlossenen Türen.«86

Kaum drei Monate nach Broz’ Ankunft in Moskau war ein Attentat auf Sergei Kirow, den Leningrader Führer der WKP (B), verübt worden, was Stalin zu einer Welle von Säuberungen gegen die »Verschwörer«, führende Bolschewiken, nutzte. Es ist fraglich, ob Broz die Überzeugung der jüngeren jugoslawischen Kommunisten teilte, die im sicheren heimischen Untergrund dem Chefankläger bei den Moskauer Prozessen A. J. Wyschinski naiv jedes Wort glaubten und mit ihm jeden Verdächtigen zum Klassenfeind und trotzkistischen Spion erklärten.87 Broz selbst entging jedenfalls dem Verderben, obwohl einige »Charakteristiken «, die er über die Genossen verfasst hatte, sich nicht mit denen, über die der NKWD verfügte, deckten.88

Vielmehr zog er Lehren aus Stalins Terror, vor allem in Hinblick auf den Mechanismen der Revolution und der Macht. Da er ihn als notwendiges Mittel zur Realisierung der neuen Gesellschaftsordnung sah, kompromittierte er sich moralisch und gab zugleich einen Ausblick auf die Leitlinien seines kommenden Wirkens. Milovan Đilas, der zunächst über viele Jahre Wegbegleiter Titos war und später zu einem seiner schärfsten Kritiker wurde, beschreibt die Metamorphose, die Broz in seiner frühen Moskauer Periode durchlebte, wie folgt: »Der Revolutionär Josip Broz […] begriff erst jetzt, dass revolutionäre Institutionen und Methoden, obwohl sie von der Idee nicht zu trennen sind, wichtiger sind als diese, ja sogar wichtiger als die Revolution selbst.«89 Savka Dabčeviċ-Kučar meint sogar, dass er sich im Namen der kommunistischen Moral in ihrer machiavellistischen Variante, nach der das Ziel die Mittel heiligt, den traditionellen Werten entfremdet hatte und sie mit Füßen trat: Anständigkeit, Loyalität, Freundschaft, Fair Play, Ehre – alles das sei für ihn nur kleinbürgerlicher Plunder gewesen.90

Man muss Tito allerdings zugutehalten, dass er in einem Interview für die Zeitschrift Komunist im April 1959 sagte, Stalin habe mit Hilfe der Komintern »die revolutionäre Physiognomie der Kommunisten zerstört und aus Kommunisten Schwächlinge gemacht«.91 Und natürlich auch das Zeugnis Edvard Kardeljs, der Mitte der Dreißiger mit Broz in Moskau zusammenarbeitete. Seinen Erinnerungen zufolge hat sich Tito in der Zeit des großen Terrors bemüht, möglichst viele jugoslawische Emigranten aus der Sowjetunion zur illegalen Arbeit in die Heimat zu schicken, oder – wenn sie jünger waren – in die internationalen Brigaden nach Spanien, wo Mitte Juli 1936 der Bürgerkrieg ausgebrochen war, um sie auf diese Weise vor dem Tod zu retten.92 Die Sowjetunion hatte nämlich beschlossen, die republikanische Regierung in Madrid gegen die rechtsgerichteten Generäle mit Francisco Franco an der Spitze zu unterstützen.

Broz machte sich diese Politik mit großem Eifer zu eigen, auch weil er der Meinung war, dass Spanien eine hervorragende Schule für Militär- und Politkader sein könne. So traten annähernd 1650 Jugoslawen in die Internationalen Brigaden ein, von denen fast die Hälfte bei der Verteidigung der Republik fiel. Damit konnte die KPJ auf ein größeres Kontingent an Spanienkämpfern zählen als alle anderen kommunistischen Parteien, und viele von ihnen stellten sich später an die Spitze des Partisanenaufstandes.93

Im Juli und August 1935 nahm Broz am VII. »Weltkongress« der Komintern teil, und zwar als Delegierter mit beratender Stimme, obwohl nicht alle in der Führung der KPJ damit einverstanden waren. In dem mehrsprachigen Formular, das die Teilnehmer ausfüllen mussten, führte er auf die Frage, unter welchem Pseudonym er in der Partei arbeite, zwei Decknamen an: »Tito« und »Rudi«, und auf die Frage, unter welchem Pseudonym er am Kongress teilnehme, antwortete er: »Walter Friedrich«. »Tito« und »Walter« blieben unter den dreißig Pseudonymen, die er in seinem Leben benutzte, die wichtigsten für ihn. Er gab ein falsches Geburtsjahr an – 1893 statt 1892 – und schwindelte auch, als er auf die Frage nach seiner Bildung »niedere, teilweise mittlere« schrieb, und angab, seit 1910 »Mechaniker« zu sein. Auf diesem Kongress sah er zum ersten Mal auch Stalin, wenn auch nur von Weitem und flüchtig. Der zeigte sich nämlich nur ein- oder zweimal im Tagungssaal und saß hinter einer Marmorsäule. »Jetzt siehst du mich, jetzt siehst du mich nicht«, erinnerte sich Tito später belustigt an diese »Begegnung«.94

Auf dem VII. Kongress der Komintern vollzog sich eine politische Wende: Moskau hatte nämlich beschlossen, dass man sich von der Doktrin, nach der die Kommunisten, die internationale Arbeiterbewegung keine politischen Verbündete haben könne, auch nicht unter den Sozialisten oder den Sozialdemokraten (die man bisher als »Sozialfaschisten« beschimpft hatte), verabschieden müsse. Angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten in Deutschland war Moskau der Meinung, dass man nicht ohne Verbündete auskomme, sondern Allianzen schmieden müsse, sowohl mit den sozialdemokratischen wie auch mit katholischen und sogar nationalistischen und konservativen Parteien. Angestrebt werden sollte eine »Volksfront«, ein einheitlicher Block antifaschistischer Kräfte, in der Hoffnung, dass eine solche die Sowjetunion vor der von Hitler ausgehenden Gefahr schützen und die Voraussetzungen für die nächste Etappe der Revolution schaffen werde. In diesem Zusammenhang entstand auch die Überzeugung, dass für die Verteidigung der Heimat des Proletariats auch Jugoslawien von Nutzen sei. Das Land wurde nicht länger als Teil des Cordon sanitaire gegen den Bolschewismus, sondern gemeinsam mit den anderen jungen Staaten Mittelund Südosteuropas als Bollwerk der UdSSR gegen Hitler angesehen.

Obwohl man in der KPJ auf der Staatskonferenz im Dezember 1934 noch überwiegend der Meinung gewesen war, das Königreich der Karađorđevićs gehöre zerschlagen, akzeptierte die KPJ die neue Linie ohne Murren. Ihr ZK stellte fest, dass man dem Recht der Selbstbestimmung der Völker und dem Recht auf Abspaltung prinzipiell treu bleibe, dass es aber »in Hinblick auf die gegenwärtige internationale Lage« geboten sei, Jugoslawien am Leben zu erhalten. Jegliche entgegengesetzte Bestrebungen würden nur dem Faschismus und seinen Kriegsplänen zuarbeiten.95 Diesen Standpunkt erläuterte das Politbüro in einem Rundbrief, der an alle führenden Strukturen der KPJ gerichtet war, wobei es keinen offenen Widerspruch gab. Allerdings ließen sich die Vorbehalte gegenüber Jugoslawien im Bewusstsein zahlreicher »Genossen« nicht ohne weiteres ausräumen.96

Für Broz kam es auf dem VII. Kongress zu einer unangenehmen Komplikation. Mitte August wurde die Frage diskutiert, wer der neue ständige Vertreter der KPJ im Exekutivkomitee der Komintern werden solle. Eine Gruppe von Delegierten, die unerwartet aus Jugoslawien nach Moskau gekommen waren, schlug Broz für diesen prestigeträchtigen Posten vor, obwohl er nach Dienstjahren das jüngste Mitglied des ZK war. An der Parteispitze kam es zu einer hitzigen Debatte, die damit endete, dass alle, einschließlich Gorkić, Broz’ Kandidatur unterstützten. Das stellte sich allerdings als taktisches Manöver heraus. Gorkić und seine Leute protestierten nämlich gleich nach der Wahl bei Dmitri S. Manuilski, dem Vertreter Stalins in der Komintern, und erklärten, dass die Wahl von Broz den »Fraktionismus« in der Partei stärke. Manuilski, der ein Freund von Gorkić war, reagierte äußerst wütend und weigerte sich, das Wahlergebnis zu akzeptieren. »Da ihr nicht Gorkić gewählt habt, zu dem die Komintern als Einzigem Vertrauen hat, denn zu euch hat sie es nicht«, erklärte er, »werden wir euch kein ständiges Mitglied in der Komintern zugestehen, sondern nur einen Kandidaten [der kein Stimmrecht hatte]; und dieser Kandidat wird Gorkić sein. Das soll euch eine Strafe sein.«97 Dieses Vorgehen zeigte, wie gering das Ansehen der KPJ unter den Führern der Komintern war. »Damals wurde mir klar«, erzählte Tito später, »dass etwas in ihrem Verhältnis zu uns nicht in Ordnung war. Irgendwie steckte der Wurm drin. Dimitrow hat mich einmal gefragt: ›Sag, Walter, habt ihr bei euch überhaupt Parteiorganisationen?‹ Ich antwortete, dass wir welche hätten. Daraufhin sagte er, dass aus Berichten, die er erhalte, hervorgehe, dass es in unserem Staat keine Parteiorganisationen gebe. Sie hatten unsere Partei anhand der Führung in Wien beurteilt. In Wien aber war man so zerstritten, dass es eine wahre Schande war.«98


Tito

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