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I. Schutzumfang Ungeborener nach dem Grundgesetz und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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Nach herrschender Lehre schützt Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht die Würde jedes Menschen, welche gemäss Gesetzestext unantastbar ist.[12] Jeder Eingriff in die Menschenwürde ist demzufolge als verfassungswidrig anzusehen.[13] Somit stellt die Menschenwürde das oberste Gut der Grundverfassung dar, welches es seitens des Staates zu schützen gilt.[14] Dem Grundrecht der Menschenwürde kommt allerdings neben einer Schutz- auch eine Abwehrfunktion zu.[15] Zusammenfassend ist der Menschenwürdeschutz in Art. 1 Abs. 1 GG keiner Abwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich, vielmehr ist er als abwägungsresistent zu bezeichnen.[16] Fraglich ist, ob die Menschenwürde auch dem ungeborenen menschlichen Leben zukommt. Nach herrschender Lehre gebührt der Grundrechtsschutz der Menschenwürde jedem menschlichen Leben vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung (sog. Konzeption bzw. Empfängnis) an, wobei gewisse Lehrmeinungen auch einen Würdeschutz erst ab der Nidation (Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter der Frau) befürworten.[17] Betreffend die Debatte, ob auch dem Embryo in vitro der Grundrechtsschutz der Menschenwürde und des Lebensrechts zukommt, wird nach wie vor rege diskutiert.[18] So sprechen sich einige Lehrmeinungen hinsichtlich der Frage der Grundrechtsträgerschaft für eine Gleichbehandlung des Embryos in vivo und in vitro aus, während andere einer differenzierten Betrachtungsweise den Vorrang einräumen.[19] Zu beachten gilt es, dass der extrakorporal gezeugte Embryo im Rahmen des ESchG weitgehend vor missbräuchlicher Verwendung geschützt wird.[20] Insbesondere hervorzuheben ist § 2 Abs. 1 ESchG, wonach die Vernichtung eines extrakorporal erzeugten Embryos generell unter Strafe gestellt wird. In der Lehre wird insofern Kritik an dieser Regelung geübt, als zwischen der Schutzwürdigkeit des extrakorporalen und des intrakorporalen Embryos eine Diskrepanz besteht, da im Gegensatz zum Embryo in vitro die Vernichtung des Embryos in vivo unter den Voraussetzungen von § 218a Abs. 1 StGB nicht strafrechtlich geahndet wird.[21] Darüber hinaus soll nach der Intention des Gesetzgebers und nach vorherrschender Auffassung in der Lehre auch dem Embryo in vitro das im Grundgesetz normierte Lebensrecht nach Art. 2 Abs. 2 GG zukommen.[22] Anders als der Embryo in vivo im Strafgesetzbuch wird der Embryo in vitro durch das ESchG bereits ab dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung, d.h. in der Pränidationsphase, geschützt, was aber bereits aus sachlogischer Sicht einleuchtend sein sollte, da ein extrakorporaler Embryo nur zwischen dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) und der Nidation einer weiteren, über diejenige des Strafrechts hinausgreifenden Schutzwürdigkeit bedarf, da mit erfolgtem Embryonentransfer in die Gebärmutter einer Frau die Schutzwürdigkeit des Embryos durch die Straftatbestände in den §§ 218 ff. StGB sowie durch das GG (siehe weiter unten) sichergestellt wird.[23]

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Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mit der Frage nach der Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Lebens befasst. Dabei gilt es laut Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Sinne von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG nicht nur das menschliche Leben nach seiner Geburt, sondern auch den Embryo bzw. Fötus zu schützen.[24] So hält das Bundesverfassungsgericht in seinem Leitentscheid aus dem Jahr 1993 fest: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt“.[25] Darüber hinaus weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass „wo menschliches Leben existiert, … ihm [auch] Menschenwürde zu[kommt]“, d.h. es darf nicht zwischen ungeborenem und geborenem Leben unterschieden werden.[26] Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist folglich nicht nur dem bereits geborenen Menschen, sondern ebenso dem ungeborenen Leben die Menschenwürde zuzuerkennen.[27] Allerdings hat es das Bundesverfassungsgericht bisher offengelassen, ob der Grundrechtsschutz Ungeborener bereits im Zeitpunkt der Kernverschmelzung oder erst mit erfolgter Nidation beginnt.[28] Eine diesbezügliche Leitentscheidung wäre allerdings insbesondere im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des Embryos in vitro wünschenswert wie auch geboten.[29]

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Ebenso wie die Menschenwürde stellt auch das Lebensrecht im Sinne von Art. 2 Abs. 2 GG ein Grundrecht dar.[30] Auch dem Lebensrecht kommt eine fundamentale Bedeutung zu.[31] So halten Art. 2 Abs. 2 S. 1 und S. 3 GG fest, dass jeder ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat (S. 1) und dass nur kraft eines Gesetzes in diese Rechte eingegriffen werden darf (sog. Gesetzesvorbehalt, S. 3). Die Lehre ist sich einig, dass dem menschlichen Leben mit vollendeter Geburt zweifelsohne eine diesbezügliche Grundrechtsträgerschaft zukommt.[32] Da aber im Strafrecht das menschliche Leben bereits mit Einsetzen des Geburtsaktes (siehe Rn. 15) beginnt, rechtfertigt es sich nach allgemeinem Dafürhalten, dass bereits in diesem Zeitpunkt die Schutzwirkungen von Art. 2 Abs. 2 GG greifen.[33] Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Frage, ob auch dem ungeborenen menschlichen Leben ein Lebensrecht bzw. eine Grundrechtsträgerschaft des Lebensrechts zugestanden werden soll und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt. Einige Lehrmeinungen setzen sich für ein Lebensrecht und eine Grundrechtsträgerschaft des intrakorporalen Embryos ab dem Zeitpunkt der Konzeption ein, andere für eine Schutzbedürftigkeit erst mit erfolgter Nidation.[34] Für den extrakorporal gezeugten Embryo kann diese Streitfrage allerdings – wie bereits erwähnt – nicht abschließend beantwortet werden.[35]

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Auch nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedingt die verfassungsrechtliche Schutzpflicht der Menschenwürde, dass der Staat das ungeborene Leben nicht nur vor unmittelbaren staatlichen Eingriffen, sondern auch vor rechtswidrigen Eingriffen seitens anderer bewahrt.[36] Dabei nimmt laut Bundesverfassungsgericht mit zunehmender Bedeutung des jeweiligen Rechtsguts auch die diesbezügliche Schutzverpflichtung des Staates zu.[37] Da das Rechtsgut des menschlichen Lebens als Grundlage anderer Grundrechte von elementarer Bedeutung ist, wird auch seinem Schutzbedürfnis ein hoher Stellenwert zugemessen.[38]

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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage nach der Grundrechtsträgerschaft des werdenden Lebens im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG stößt seitens der Lehrmeinungen zu Recht auf Kritik.[39] Unter anderem wird angeführt, dass der Verfassungswortlaut streng genommen nur „die Würde des Menschen“ schütze, wobei zumindest aus strafrechtlicher Sicht erst mit Einsetzen der Geburtswehen (im Zivilrecht sogar erst nach erfolgter Geburt) von einem Menschen gesprochen werden könne.[40] Insofern sei nicht ersichtlich, weshalb sich die Rechtsprechung auf Verfassungsebene gegen eine differenziertere Schutzwürdigkeit Ungeborener sowie gegen die Befürwortung eines abgestuften Lebensschutzes Ungeborener ausspreche.[41] Unter den Voraussetzungen von § 218a StGB wird der Abbruch einer Schwangerschaft seitens des Gesetzgebers ja als nicht tatbestandsmäßig bzw. nicht rechtswidrig eingestuft.[42] Im Lichte der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung stehe dies in einem deutlichen Widerspruch zu den Verfassungsnormen von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG.[43] Denn durch die verfassungsrechtlich postulierte Unantastbarkeit der Menschenwürde könnten keinerlei Eingriffe in die Würde des Menschen als gerechtfertigt bzw. zulässig angesehen werden, auch nicht ein Schwangerschaftsabbruch.[44] Konkret bedeutet dies, dass ein Schwangerschaftsabbruch deshalb grundsätzlich als unzulässig betrachtet werden müsste.[45] Ein Ausweg aus dieser verfassungsrechtlichen Kontroverse lässt sich folglich nur auf dem Weg der Gesetzesauslegung im Sinne einer objektiv-teleologischen Auslegung finden. Denn richtigerweise ist zu (hinter-)fragen, welchen Zweck der besagten Verfassungsnormen nach dem heutigen Wertungshorizont unter Einbezug der gegenwärtigen Gesetzeslage (hic et nunc-Betrachtung) beigemessen werden sollte.[46] Mit Blick auf die strafrechtlichen Regelungsnormen zum Schwangerschaftsabbruch müsste also unter dem Gesichtspunkt der objektiv-teleologischen Auslegung folgerichtig ein unantastbarer Würdeschutz und ein umfassendes Lebensrecht Ungeborener verneint, hingegen eine abgestufte Schutzwürdigkeit der Leibesfrucht bejaht werden.[47] Selbst das Bundesverfassungsgericht ließ in seinem ersten Leitentscheid zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verlauten: „Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zum Schutze des ungeborenen Lebens zu ergreifen, wie er sie zur Sicherung des geborenen Lebens für zweckdienlich und geboten hält“.[48] Das Bundesverfassungsgericht weist auch darauf hin, dass der verfassungsrechtlich normierte Schutzumfang nach Art. 2 GG lediglich eine Zielnorm darstellt, die Ausgestaltung des Lebensschutzes im Einzelnen aber dem Gesetzgeber obliegt.[49] Zudem schließt das Bundesverfassungsgericht aus dem Umstand, dass dem Grundgesetz selbst kein Hinweis auf eine allfällige Abstufung des Lebensrechts entnommen werden kann, auf das Zugeständnis eines verfassungsrechtlich gleichwertigen Schutzumfangs des ungeborenen und des geborenen menschlichen Lebens.[50] So hält das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruchs-Entscheidung fest: „Das Grundgesetz enthält für das ungeborene Leben keine vom Ablauf bestimmter Fristen abhängige, dem Entwicklungsprozess der Schwangerschaft folgende Abstufungen des Lebensrechts und seines Schutzes“.[51] Dieses Schweigen des Gesetzgebers zur Frage eines abgestuften Lebensschutzes kann aber im Sinne eines argumentum e contrario geradezu auch für die Zulässigkeit eines abgestuften Lebensschutzes herangezogen werden.

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