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3. Passive Sterbehilfe

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Bei der passiven Sterbehilfe ist zu differenzieren, ob es sich um eine urteilsfähige oder aber urteils- oder äusserungsunfähige Person handelt. Ist der Betroffene urteilsfähig und somit imstande, sich im Wissen über seinen Zustand sowie die Behandlungsoptionen frei von äusserem Druck oder Zwang gegen eine weitere Behandlung zu entscheiden, haben der Arzt sowie Dritte diesen Entschluss zu respektieren – dies gilt ungeachtet dessen, ob das Stadium der unmittelbaren Todesnähe bereits erreicht ist oder nicht.[340] Dies ergibt sich bereits aus der Strafbarkeit des ärztlichen Heileingriffs[341], aber auch aus der Abwägung des verfassungsrechtlich in Art. 10 Abs. 2 BV verankerten Selbstbestimmungsrechts mit der Schutzpflicht des Lebens.[342] In derartigen Konstellationen tritt das Lebenserhaltungsrecht hinter das Selbstbestimmungsrecht zurück.[343] Bei urteils- oder äusserungsunfähigen Patienten, die im Sterben liegen, ist eine Rechtfertigung nur auf Basis einer schriftlich vorliegenden Patientenverfügung nach den Bestimmungen der Art. 370 ff. ZGB möglich.[344] Gemäss Art. 372 Abs. 2 ZGB hat der behandelnde Arzt der Patientenverfügung grundsätzlich zu entsprechen, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht.[345] Zudem müssen die in Art. 371 Abs. 1 ZGB statuierten formellen Anforderungen eingehalten werden.[346] Liegt keine Patientenverfügung vor oder ist diese unklar und sind vertretungsberechtigte Personen vorhanden, entscheiden diese gemäss Art. 378 Abs. 3 ZGB nach dem mutmasslichen Willen und den objektiven Interessen der urteilsunfähigen Person.[347] Widersprechen sich der mutmassliche Wille und die objektiven Interessen, ist ersterem Vorrang zu geben.[348] Zur Feststellung des mutmasslichen Willens müssen insbesondere frühere Äusserungen des Patienten, seine religiösen und sonstigen Wertvorstellungen und Aussagen von nächsten Familienangehörigen oder Bezugspersonen beachtet werden.[349] Ist der mutmassliche Wille nicht feststellbar, muss anhand objektiver Kriterien entschieden werden, ob eine Lebensverlängerung sinnvoll erscheint oder nicht.[350] Umstritten ist, ob gemäss dem Grundsatz „in dubio pro vita“ von einem Abbruch lebenserhaltender Massnahmen eher abzusehen ist oder ob in Extremfällen auch patientenexterne Faktoren (etwa die Sinnlosigkeit der Lebensaufrechterhaltung, die Unzweckmässigkeit medizinischer Massnahmen oder die Unzumutbarkeit der Lebenserhaltung für den Klinikbetrieb) als Rechtfertigung herangezogen werden können.[351] Lassen sich keine Anhaltspunkte für die Feststellung des individuellen mutmasslichen Willens des Patienten finden, kann eine Rechtfertigung nicht mehr auf das grundrechtliche Überwiegen des Selbstbestimmungsrechts gestützt werden.[352] Die Rechtfertigungsgründe der mutmasslichen Einwilligung des Verletzten bzw. der Geschäftsführung ohne Auftrag (Art. 419, 422 OR) oder des rechtfertigenden Notstandes greifen im Sonderfall der Sterbehilfe nicht, weil ihr Grundgedanke auf einen Erfolg oder Vorteil der Behandlung ausgerichtet ist.[353] Vorzuziehen ist deshalb zur Rechtfertigung der passiven Sterbehilfe im engeren Sinne bei Urteilsunfähigen die Einschränkung der ärztlichen Berufspflicht und somit der Garantenstellung, welche in denjenigen Fällen entfällt, in welchen die Pflicht des Arztes zur Leidensverminderung in den Vordergrund rückt, da sich bei hohem Behandlungsaufwand nur geringfügige lebensverlängernde Wirkungen realisieren lassen und das Leiden unter Umständen intensiviert wird.[354] Liegt ein Fall passiver Sterbehilfe im weiteren Sinne bei Urteilsunfähigen vor – dies betrifft vor allem Personen in einem persistent vegetative state – und besteht eine Patientenverfügung oder ein feststellbarer mutmasslicher Wille, ist die Unterlassung der Lebensverlängerung gerechtfertigt, da die Selbstbestimmung in einer grundrechtlichen Abwägung vor die Lebenserhaltungspflicht tritt.[355] Ist auch ein mutmasslicher Wille des Patienten nicht feststellbar, folgt die h.L. den SAMW-Richtlinien, welche einen Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen bei Langzeitkomapatienten als gerechtfertigt ansehen, wenn der irreversible und definitive Verlust seiner kognitiven Fähigkeiten, der Willensäusserung und der Kommunikation nach mehrmonatiger Beobachtungszeit wiederholt bestätigt wird.[356]

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Diese Differenzierungen entsprechen im Ergebnis auch den in der deutschen Lehre zur passiven Sterbehilfe vorherrschenden Ansichten: Der in einer Patientenverfügung festgehaltene Patientenwille ist auch bei urteils- und äusserungsunfähigen Personen unabhängig davon zu beachten, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat oder nicht – dies wird von § 1901a Abs. 3 BGB unmissverständlich statuiert.[357] Besteht keine Patientenverfügung, ist der mutmassliche Wille massgebend; liegen keine Indizien für den mutmasslichen Willen vor, sind objektive Interessen massgebend. Bewertungsmassstab und Begründungsansatz der passiven Sterbehilfe sind somit im Wesentlichen vergleichbar, selbst wenn eine ähnlich eindeutige Grundsatzentscheidung im Sinne des Fuldaer Falls vom schweizerischen Bundesgericht (noch) nicht ergangen ist.[358] Magnus ist der Meinung, dass im Gegensatz zum Fuldaer Urteil, worin der BGH als einschränkende Voraussetzung eine lebensbedrohliche Krankheit fordert, die schweizerische herrschende Lehre zur passiven Sterbehilfe auch Fälle erfasse, in denen der Patient nicht sterbenskrank ist, und stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob damit auch chronische Krankheiten wie Parkinson oder Rheuma gemeint seien, welche das Leben nur erschweren, jedoch nicht bedrohen.[359] Dagegen ist einzuwenden, dass richtigerweise – und dies gilt auch für den schweizerischen Anwendungsbereich passiver Sterbehilfe – Sterbehilfe gerade nur dort erfolgen kann, wo die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist, d.h. ohne Weiterführung oder Ergreifung medizinischer Massnahmen sterben wird, ansonsten eine strafbare (aktive) Tötungshandlung vorliegt.[360] Die Interpretation von Magnus bezüglich der schweizerischen h.L., wonach zu der passiven Sterbehilfe Handlungen zählen, „die erforderlich wären, den Tod eines anderen Menschen, der im Sterben liegt, chronisch krank oder schwer verletzt ist, zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern“, dahingehend, dass damit gemeint sei, auch bei chronischen Krankheiten, die das Leben nur erschweren, aber nicht bedrohen, passive Sterbehilfe zuzulassen,[361] ist schlicht falsch, da nicht zum Tod führende Krankheiten oder Verletzungen gar keinen Sachverhalt passiver Sterbehilfe bilden können.[362] Des Weiteren muss selbst die Ablehnung einer medizinisch indizierten Behandlung etwa durch einen Tetraplegiker oder Krebskranken, der sich (noch) nicht in einem Zustand der Todesnähe befindet, von Arzt und Pflegepersonal respektiert werden – dies ergibt sich bereits daraus, dass im gegenteiligen Fall eine Körperverletzung oder Tätlichkeit anzunehmen wäre.[363] Auch ihre Bezugnahme auf die organisierte Suizidbeihilfe[364] ist in diesem Zusammenhang unglücklich, zumal es sich dabei nicht um einen Fall passiver Sterbehilfe handelt.

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Eine weitere Uneinigkeit besteht in der schweizerischen Lehre im Bereich der passiven Sterbehilfe bei der Einordnung des technischen Behandlungsabbruchs in ein Tun oder Unterlassen. Nach weitverbreiteter Auffassung stellt der technische Behandlungsabbruch eine Form der passiven Sterbehilfe dar – dies mit der Begründung der Nichtverhinderung des natürlichen Sterbeprozesses, eines „Unterlassens durch Tun“.[365] Eine andere Ansicht hingegen betrachtet den Abbruch lebenserhaltender Massnahmen als aktive Handlung, woraus sich eine Einordnung in den Bereich der aktiven Sterbehilfe ergibt.[366] Diese zweite Ansicht erkennt richtigerweise die Problematik, dass eine wertende Umdeutung eines Tuns in ein Unterlassen, wie sie von der h.L. vorgenommen wird, nach der im schweizerischen Strafrecht vorherrschenden Subsidiaritätstheorie[367] nicht haltbar ist.[368] Inkonsequent ist auch, dass die h.L. – trotz Einordnung des technischen Behandlungsabbruchs als Unterlassen – bei Vornahme desselben durch einen Dritten ein Tun annimmt, obwohl weder im Handlungs- noch im Erfolgsunwert ein Unterschied besteht.[369] Wird der technische Behandlungsabbruch somit als aktive Handlung eingeordnet, erfüllt er den objektiven Tatbestand von Art. 114 schwStGB (evtl. Art. 111, 113); aufgrund einer verfassungsrechtlichen Güterabwägung ist jedoch eine übergesetzliche Rechtfertigung dieser direkten aktiven Sterbehilfe anzuerkennen, wenn der aktuelle und eigenverantwortliche oder durch eine Patientenverfügung vorweg geäusserte oder zumindest eruierbare mutmassliche Wille eines Sterbenden auf den Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung zielt.[370] Bei urteils- oder äusserungsunfähigen Patienten, deren mutmasslicher Wille nicht feststellbar ist, ist dieser Rechtfertigungsgrund nicht anwendbar, während bei unmittelbar bevorstehendem Tod die ärztliche Behandlungspflicht – wie bei der Unterlassungsvariante – wegen Aussichtslosigkeit entfällt.[371] Nach aktuellem Stand des Verfassungs- und Strafrechts ist unklar, ob und ab wann ein aktiver Behandlungsabbruch bei Personen in einem persistent vegetative state (PVS) mit längerer Lebenserwartung gerechtfertigt ist.[372] Die Einstellung der schweizerischen Bevölkerung sowie die medizinische Praxis zeigen jedoch, dass ein Bedürfnis nach Straflosigkeit beim Behandlungsabbruch bei zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten besteht.[373] Die deutsche Rechtsprechung hat mit dem Fuldaer Urteil klargestellt, dass es den Kunstgriff des „normativen Begriffs des Unterlassens“, welcher von der h.M. verwendet wird, ablehnt und stattdessen alle Handlungen, die mit einer Beendigung der ärztlichen Behandlung im Zusammenhang stehen, in einem „normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs“ zusammenfasst.[374] Diese Loslösung von der klassischen Einteilung in Tun oder Unterlassen vermag jedoch im Hinblick auf das in der Schweiz vorherrschende Subsidiaritätsprinzip und die sich daraus ergebende Einordnung des Behandlungsabbruchs als aktives Tun keine neuen Erkenntnisse zu bieten.[375] Ege schlägt deshalb aufgrund der Einwilligungsschranke von Art. 114 schwStGB eine teleologische Reduktion desselben vor, womit der technische Behandlungsabbruch bei zerebral schwerst geschädigten Patienten nicht mehr unter den Wortlaut dieser Bestimmung fällt – dies unter den engen Voraussetzungen eines dauerhaften Wachkomas, direkter Behandlungsbezogenheit sowie eines zweifelsfrei feststellbaren mutmasslichen Willens des Patienten.[376]

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