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III. Schutzumfang Ungeborener nach der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

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Das Recht auf Leben wird nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene geschützt. So hält die in Deutschland am 3. September 1953 in Kraft getretene Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Art. 2 Abs. 1 fest, dass das Recht auf Leben jedes Menschen gesetzlich geschützt ist.[66] Durch die Aufführung dieses Grundrechts am Anfang des Menschenrechtskatalogs wird ersichtlich, dass das Recht auf Leben eine fundamentale Garantie der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt.[67] Fraglich ist jedoch, ob der Lebensschutz von Art. 2 Abs. 1 EMRK sowohl geborenem als auch ungeborenem menschlichen Leben zukommen soll. Der Wortlaut der besagten Norm lässt keine abschließende Antwort auf diese Frage zu.[68] Ebenso besteht innerhalb der Vertragsstaaten der EMRK kein Konsens über den Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens.[69] Schon 1980 setzte sich die Europäische Kommission für Menschenrechte eingehender mit dieser Problematik auseinander. Bei der Auslegung des Wortlauts von Art. 2 Abs. 1 EMRK kam die Kommission zum Schluss, dass die Begrifflichkeiten „jeder Mensch“ und „Leben“ durch die Konvention nicht näher definiert würden[70] und sich die Bezeichnung „jeder Mensch“ bei systematischer Auslegung der Konvention lediglich auf geborene Menschen beziehen könne.[71] Anschliessend nahm die Kommission zur Frage Stellung, ob der Gesetzeswortlaut „Leben“ sowohl das geborene als auch das ungeborene menschliche Leben umfasst. Sie führte dabei drei mögliche Interpretationsansätze der Konventionsnorm an.[72] Entweder sei Art. 2 Abs. 1 EMRK dahingehend zu verstehen, dass (1) Ungeborene überhaupt nicht von der betreffenden Konventionsbestimmung erfasst werden, (2) diesen ein Recht auf Leben mit bestimmten immanenten Einschränkungen zuzugestehen ist oder aber (3) auch dem Embryo in vivo ein absolutes Lebensrecht zukommt.[73] Die dritte Interpretationsmöglichkeit wurde jedoch sogleich mit der Begründung verworfen, dass bei einem absoluten Lebensschutz des Ungeborenen dessen Abtreibung selbst in Fällen, in denen die Fortdauer der Schwangerschaft das Leben einer Schwangeren ernsthaft gefährden würde, unzulässig wäre.[74] Eine solche Auslegung der Norm wäre aber nach Ansicht der Kommission nicht mit dem Ziel und Zweck der Konvention vereinbar.[75] Welchem der beiden übrigen Interpretationsansätze der Vorrang einzuräumen ist, ließ die EKMR jedoch offen.[76] Darüber hinaus hielt die Kommission fest, dass es nicht in ihrer Kompetenz liege zu entscheiden, ob dem ungeborenen Leben im Sinne von Art. 2 EMRK ein gewisser Lebensschutz gebühren solle.[77] Es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch dem Ungeborenen unter gewissen Umständen ein Lebensrecht nach Art. 2 EMRK zukomme.[78] Diese sehr zurückhaltende Stellungnahme rechtfertigte die Kommission mit den erheblich unterschiedlichen Sichtweisen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Frage, ob auch Ungeborenen ein Lebensschutz nach Art. 2 EMRK gebührt.[79] Die EKMR sprach sich deshalb auch dafür aus, dass den Mitgliedstaaten bei der Auslegung von Art. 2 EMRK ein gewisser Ermessensspielraum zustehen müsse.[80]

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Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste sich in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Frage eines Lebensrechts Ungeborener befassen. Dabei hielt der Gerichtshof fest, dass Art. 2 EMRK keine zeitliche Beschränkung des Rechts auf Leben vorsehe.[81] Darüber hinaus sei aus der besagten Konventionsnorm auch nicht ersichtlich, wer alles von der Bezeichnung „jedermann“ erfasst werde und wem dementsprechend ein Schutz gebühren sollte.[82] Aufgrund des fehlenden Konsenses der Mitgliedstaaten, welcher aus den divergierenden nationalen Ansichten betreffend den Beginn des menschlichen Lebens und das Lebensrecht von Ungeborenen resultiert, sei es nicht angebracht, diesbezüglich allen Mitgliedstaaten eine einzige moralische Sichtweise aufzudrängen.[83] Vielmehr müsse es aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten deren Aufgabe sein, die Frage nach dem Lebensrecht Ungeborener unter Berücksichtigung sowohl ethischer, moralischer und philosophischer Aspekte auf nationaler Ebene zu beantworten.[84] Ein Konsens lässt sich immerhin bei der Zugehörigkeit der Embryonen und Föten zur „menschlichen Rasse“ ausmachen.[85] Die Entwicklungsmöglichkeiten und Kapazität zur Menschwerdung gebieten es folglich, auch Ungeborenen im Sinne der Menschenwürde einen Schutz zukommen zu lassen.[86] Das Zugeständnis einer solchen Schutzwürdigkeit definiert allerdings das ungeborene menschliche Leben nicht automatisch als ein solches, welchem ein Lebensrecht im Sinne von Art. 2 EMRK zuzugestehen ist.[87] Nach Rechtsprechung des EGMR gilt es im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage nach einem Lebensrecht Ungeborener zu beachten, dass die Konvention im Sinne einer evolutiven Auslegung im Lichte der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu interpretieren ist.[88] Schließlich hält der EGMR fest, dass es weder wünschenswert, geschweige denn möglich sei, die Frage zu beantworten, ob auch das Ungeborene als Mensch im Sinne von Art. 2 EMRK zu qualifizieren ist.[89]

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