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I. Verfassungsrechtliche Erwägung

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Das in Art. 10 Abs. 2 BV statuierte Selbstbestimmungsrecht umfasst die individuelle Entscheidung über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens.[312] Dies entspricht dem von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Recht auf selbstbestimmtes natürliches Sterben.[313] Voraussetzung ist, dass der Betroffene in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden und danach zu handeln.[314] Die Pflicht des Staates, das Recht auf Leben gemäss Art. 10 Abs. 1 BV grundsätzlich zu schützen, geht nicht soweit, dass er dies auch gegen den ausdrücklichen Willen des urteilsfähigen Betroffenen tun müsste.[315] Eine Abwägung des Rechts auf Leben und des Selbstbestimmungsrechts führt somit in Fällen des Suizids sowie der uneigennützigen Beihilfe zur Selbsttötung, der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung (Behandlungsverzicht) und der indirekten aktiven Sterbehilfe zu einer Relativierung der Lebensgarantie.[316] Ein Anspruch auf staatliche Hilfe zur Selbsttötung besteht nach geltendem Recht nicht.[317] So stellt etwa die Regelung, dass die Abgabe eines tödlichen Mittels an einen Suizidwilligen zwecks Verhinderung von Missbräuchen von einem ärztlichen Rezept und einer psychiatrischen Begutachtung abhängig ist, einen rechtmässigen Eingriff in Art. 10 Abs. 2 BV dar.[318] Der EGMR fordert hingegen in seiner Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK verständliche und klare gesetzliche Richtlinien für die Abgabe einer letalen Dosis eines Medikaments zur Beendigung des Lebens.[319] Die Rechtfertigungs- oder Entschuldbarkeitsmöglichkeit einer aktiven Tötung durch einen Dritten aufgrund der Einwilligung eines Sterbewilligen wird im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung von der h.L. und Rechtsprechung für die vorsätzliche Tötung unter Hinweis auf die strafrechtliche Wertungssystematik (absolute Einwilligungssperre von Art. 114 schwStGB) abgelehnt.[320] Diese Begründung widerspricht jedoch der Normenhierarchie, indem damit faktisch vom Gesetz auf die grundrechtliche Abwägung rückgeschlossen wird.[321] Vielmehr müssten die betroffenen Grundrechte gegeneinander abgewogen werden; nur dann, wenn bei dieser Prüfung ein überwiegendes Interesse am Schutz des Lebens resultiert, wird die strafrechtliche Wertungssystematik bestätigt.[322]

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Auch die Garantie der Menschenwürde nach Art. 7 BV spielt im Zusammenhang mit der Thematik der Sterbehilfe eine wichtige Rolle, da gerade durch die Respektierung des Sterbewunsches und damit der Selbstbestimmung das Individuum nicht als beliebiges Objekt behandelt wird.[323] Erfolgt trotz dem eindringlichen und verständlichen Wunsch eines schwer leidenden Patienten nach direkter aktiver Sterbehilfe keine Rechtfertigung derjenigen Person, welche diese ausführt, obwohl damit nur der Leidensprozess verlängert wird, kann darin eine indirekte Verletzung der Menschenwürde gesehen werden, indem der Kranke zu gesellschaftlichen Normbekräftigungszwecken instrumentalisiert wird.[324]

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Festzuhalten ist, dass weder die schweizerische Grundrechtsordnung noch die internationalrechtlichen Prämissen dem Staat eine übergeordnete Pflicht auferlegen, die direkte aktive Sterbehilfe generell unter Strafe zu stellen.[325] Dies entspricht der Auffassung in der Lehre zum deutschen Grundgesetz.[326]

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