Читать книгу Konstruktive Rhetorik - Jürg Häusermann - Страница 30
Das gesprochene Wort ist nicht flüchtig
ОглавлениеEine öffentliche Rede hat schon deshalb mehr Bestand, weil die Zuhörenden die Erwartung haben, etwas mitnehmen zu können. Um die Behaltensleistung zu erhöhen und die Wiedergabe zu erleichtern, wird auch im Zeitalter der elektronischen Aufzeichnung besondere Sorgfalt auf die sprachliche Form verwendet. Wer kompliziert redet, kann mit weniger Widerhall rechnen. Wer prägnant formuliert, findet eher Resonanz.
Viele große Reden leben anhand von eingängigen Zitaten weiter: In Winston Churchills erster Rede als Premierminister war es die Aussicht auf „Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“.60 John F. Kennedy ist in Erinnerung mit seiner Aufforderung: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann; fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“61 Aus Helmut Kohls Rede vor der Knesset 1984 (und vielen anderen Reden) ist es die Formel von der „Gnade der späten Geburt“.62
Prägnante Formulierungen können eine öffentliche Rede zu einem literarischen Ereignis machen. Rhetorik ist da wie schon im Altertum die Kunst, seine Sache schön und gut zu sagen (lat. ars bene dicendi). Aber den Schwerpunkt auf den stilistischen Schmuck zu legen, ist für den unmittelbaren Dialog nicht relevant. Es demonstriert vielmehr den monologischen, oft propagandistischen Charakter einer öffentlichen Rede. Wer dagegen den Dialog sucht, wird die Schwerpunkte anders setzen.
Verstärkt wird die sprachliche Leistung durch den Einsatz weiterer Medien, die Visualisierung mit einer geeigneten Software oder die Diskussion eines Demonstrationsobjekts. Aussagen werden verstärkt, indem mehrere Sinne angesprochen werden, nicht nur der akustische. Die Ethnologin projiziert die Flugbahn eines Bumerangs auf ein Panorama der Heimatstadt ihrer Zuhörenden, so dass sie die Aussage: „Flugdistanz 427,2 m“63 besser begreifen. Der Zoologe bringt ein Nashorn zum Streicheln mit, um die Dicke der Haut nachvollziehbar zu machen. Die Genetikdozentin verteilt Papiere, die mit der Verbindung PTC getränkt sind, so dass jeder Zuhörende überprüfen kann, ob er das Gen für den bitteren Geschmack hat oder nicht. Die Kombination der Sinne sorgt dafür, dass die gewonnenen Informationen besser behalten und weiterverwendet werden. Denn autonome Weiterverwendung gehört zur Vorstellung von Öffentlichkeit. Die Adressaten bringen, was sie gehört haben, in andere Diskurse ein. Sie übernehmen Fakten und Argumente daraus, sie kommentieren oder widerlegen es. Jede Rede ist deshalb auch nur einer von vielen Bausteinen im thematischen Gebäude, das im öffentlichen Diskurs erstellt wird. In einer modernen Gesellschaft gehört zur Aktivität des Publikums auch, dass es weitere Quellen zur Verfügung hat. Es kann die Fakten anhand journalistischer und wissenschaftlicher Texte überprüfen und sich bei den verschiedensten Medien nach weiteren Informationen und Meinungen erkundigen.
Dass Reden zur Weiterverwendung gedacht sind, weist auf die aktive Rolle des Publikums ebenso wie auf die Verantwortung der Rednerin hin. Es kann für diesen aber auch eine Erleichterung bedeuten, zu wissen, dass sein Text nur eine von vielen Wortmeldungen zum Thema ist.
Das Publikum macht immer mit
Sogar für klassische Reden gilt: Nicht nur Rednerin und Veranstalter sind aktiv, sondern auch das Publikum. Es beteiligt sich durch:
Mitdenken
emotionale Reaktionen
kreative Mitarbeit
orientierendes Vernetzen
Weiterverwenden
Die traditionelle öffentliche Rede kann im Publikum potenziell alle diese verschiedenen Ebenen aktivieren – die inhaltliche, die emotionale, die kreative und die orientierende. Wer sie erkennt und nutzt, tut einen wichtigen Schritt in Richtung konstruktive Rhetorik.