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8Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit

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Wer im antiken Athen als Angeklagter oder als Kläger vor Gericht stand, musste seine Sache selbst vertreten. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus hatte Athen einen politischen und rechtlichen Wandel erlebt. Das erste demokratische Gemeinwesen war entstanden, und dazu gehörten auch die Gerichte. Eine große Gruppe von Bürgern hörte sich die Verhandlung an und entschied, ähnlich wie in einem Geschworenenprozess, dann über den Fall. Es gab keine Anwälte, keinen Staatsanwalt; um sich vor diesen Gerichten zu behaupten, waren die Beteiligten auf ihre rednerischen Fähigkeiten angewiesen.85

Aber es gab Rhetoriklehrer – Dozenten und Berater, die ihre Kunden darin unterrichteten, ihre Sache vor Gericht und auch in der Politik wirksam zu vertreten. Eine Vorstellung von ihrem Fach geben die Lehren der Griechen Protagoras, Gorgias oder Aristoteles aus dem fünften und vierten Jahrhundert vor Christus. Im antiken Rom, in der mittelalterlichen Gelehrtenwelt und in der Neuzeit entwickelte sich die Rhetorik weiter zu einer Wissenschaft, einem System der Vorbereitung, Planung und Durchführung von „Reden“ im weitesten Sinn. Diese klassische Rhetorik befasste sich längst nicht nur mit Anklage und Verteidigung vor Gericht oder mit politischen Debatten. Sie war aufgefächert in Lehreinheiten zu Recherche, Argumentation, Diskussion, Präsentation usw., und zwar in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens – gleich, ob es um die Welt der Gerichte oder des Handels, der Medizin oder der Kunst gehen mochte.

Der Anspruch des Fachs Rhetorik ist immer über den einer Kommunikationslehre hinausgegangen. Sie hat seit dem Altertum Aspekte der Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft einbezogen, die später von eigenen Disziplinen (z.B. Linguistik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft) übernommen wurden. Einige davon sind direkt aus der Rhetorik entwickelt worden, andere zumindest können ihre Verwandtschaft nicht leugnen.

Der heutige praktische Rhetorikunterricht umfasst nur noch einen kleinen Teil des klassischen Lehrgebäudes. Das hat aber durchaus seinen Sinn, eben weil es moderne Fächer gibt, die sie entlasten, weil sie Inhalte erforschen, die früher zur Rhetorik gehörten.

Moderne Erben der klassischen Rhetorik

Linguistik

Literaturwissenschaft

Psychologie

Jurisprudenz

Theaterwissenschaft

Medienwissenschaft

Auch in diesem Buch wird der Begriff Rhetorik auf einen besonderen Aspekt der Kommunikation konzentriert. Rhetorik wird verstanden als die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit. Dass diese Lehre trotz ihrer klaren Einschränkung immer noch Rhetorik genannt werden soll, hat zwei Gründe.86 Der eine liegt in der Tradition des Sprachgebrauchs: Im deutschen Sprachraum hat Rhetorik sich als Bezeichnung für alle Formen des praktischen Redetrainings eingebürgert. Unzählige Angebote führen den Begriff im Titel, auch wenn sie keinen Zusammenhang zur wissenschaftlichen Rhetorik erkennen lassen. Deshalb sollte ein Buch wie dieses, das den Bezug zur Wissenschaft beibehält, den Begriff nicht über Bord werfen.

Der zweite Grund hat mit der Perspektive der Rhetorik zu tun, die sich von der anderer Wissenschaften der Kommunikation unterscheidet. Auch wenn uns in der Rhetorik bewusst bleibt, dass es Sender und Empfänger, Rednerin und Zuhörende gibt, nimmt der Ansatz in erster Linie die Rednerin in den Blick. Zwar ist das Publikum nicht rein passiv und das Gelingen hängt nicht zu hundert Prozent von der Rednerin ab. Dennoch werden wir immer wieder auf die Rednerinnenperspektive zurückkommen, weil es die Rednerin ist, an die sich die Ausbildung richtet.87

Dieses Buch enthält viele praktische Anleitungen. Aber es geht immer zunächst deskriptiv vor und setzt bei den Merkmalen des Redens in der Öffentlichkeit an, in seinen Unterschieden vom Reden im Alltagsgespräch. Dies ist der Ansatz, der sich in meiner Ausbildungspraxis bewährt hat.88 Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass das Reden im Dialog nicht nur leichter fällt, sondern dass auch bessere Resultate erzielt werden als in der monologischen Rede. Kooperation führt zu Lösungen, die alle mittragen können. Bei einer Präsentation oder einem Vortrag hilft ein dialogisches Vorgehen zumindest, rechtzeitig zu erkennen, ob die Zuhörenden noch dabei sind und wie weit sie bereit sind, zu folgen und die Botschaften zu akzeptieren. Es ist möglich, die Kommunikation in Präsentationen, Vorträgen oder Vorlesungen zu verbessern, indem man versucht, so viel wie möglich von der dialogischen Kommunikation in die öffentliche Rede zu übernehmen. Ich nenne dies konstruktive Rhetorik. Das nächste Kapitel skizziert dieses Programm.

Konstruktive Rhetorik

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