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2.2.1 In- und Aufschriften seit der Steinzeit

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Da das Beschriften und Bemalen von Flächen an frei zugänglichen Orten eine alte kulturelle Praktik darstellt, lässt sich Graffiti bei einem weiten Begriffsverständnis in eine lange Traditionslinie stellen. NORTHOFF formuliert sogar, „dass Graffiti[s] immer schon und kontinuierlich, wenn auch zu Zeiten unterschiedlich intensiv produziert wurden“ (2005: 14).1 Denn wenn Graffitis ganz allgemein als anonym angebrachte Schriften bzw. Bilder verstanden werden, können auch steinzeitliche Erzeugnisse wie Höhlen- und Felsmalereien, wie sie sich beispielsweise in Frankreich und Spanien finden, als „prähistorische Graffiti[s]“ gedeutet werden (KREUZER 1986: 428).

Auf die Wandkritzeleien aus der 79 n. Chr. verschütteten Stadt Pompeji wird ebenfalls häufig mit der Bezeichnung Graffiti referiert (z.B. bei BEYER 2012: 14, ACKER 2013: 8, BAIRD UND TAYLOR 2016: 18). Der Ausbruch des Vesuvs begrub die damals etwa 15000 Einwohner zählende Stadt unter einer Ascheschicht, wodurch heute eine Art Momentaufnahme römischer Lebensweise erhalten geblieben ist (BEYER 2012: 14). Durch die Ascheschicht wurden nicht nur die Gebäude und das Mobiliar konserviert, sondern auch Einschreibungen und Einritzungen an Hauswänden und Mauern. Insgesamt wurden in der Stadt etwa 15000 Inschriften und Zeichnungen aufgefunden (NORTHOFF 2005: 45). Die inhaltliche Bandbreite der Kritzeleien ist groß: Sie reicht von politischen Kommentaren, einer Art von Gesucht- und Gefunden-Notizen sowie Zitaten von Vergil und Ovid (WHITEHEAD 2004: 26) bis zu erotischen Aussagen und Liebesbekundungen (NORTHOFF 2005: 54). Auch Namen finden sich bereits unter den Wandbeschriftungen im antiken Pompeji.

Es ist anzunehmen, dass Pompeji nicht die einzige Stadt war, in der sich Bewohner und Reisende an den Wänden verewigten. Aus Schriften des Plinius geht hervor, dass Reisende regelmäßig Wände und Säulen des Heiligtums der Clitumnus-Quelle in Umbrien beschriftet haben sollen (BEYER 2012: 14). Auch anderen Dokumenten kann entnommen werden, dass öffentliche Gebäude wie Thermen, Tempel und Brücken beschrieben wurden (BEYER 2012: 14). NORTHOFF schlussfolgert, dass „[d]ie Wände antiker Häuser und Gassen […] ein verwirrend buntes Bild abgegeben haben“ müssen (2005: 61).

Auch im Mittelalter wurden schriftliche und bildliche Zeichen an öffentlichen Orten angebracht. Davon zeugen geritzte und gekratzte Namen, Initialen und Wappen von Reisenden und Pilgern des Spätmittelalters (KRAACK 2002: 51). Der Ulmer Dominikanerlesemeister Felix Fabri berichtet auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem 1483 beispielsweise Folgendes über das Verhalten deutscher Adliger:

Ich habe etliche Adlige beobachtet, die sich zu solcher Narrheit verstiegen, daß sie in die Kapelle des Kalvarienbergs hinaufstiegen, sich auf den heiligen Felsen, in dem das Kreuzesloch ist, hinsinken ließen und sich den Anschein gaben, als beteten sie. Dann stützten sie die Arme auf und ritzten heimlich mit spitzen Gerätschaften Wappenschilde ein. […] Einige, die von derselben Dummheit getrieben waren, ritzten, alle Scheu und Gottesfurcht hintanstellend, in die Grabplatte über der allerheiligsten Beisetzungsstätte des Herrn mit Metallstiften ihre Namen und Wappenschilde ein, damit die Erinnerung an ihre eitle Unvernunft nicht getilgt werde […]. (FABRI 1996, [1843/49]: 120)

KRAACK zufolge zeigen diese Ritzereien, dass es den spätmittelalterlichen Reisenden „in erster Linie auf die Verewigung selbst und auf deren gute Rezipierbarkeit und nicht so sehr auf den sakralen und profanen Charakter des besuchten Ortes ankam“ (2002: 59). Interessanterweise ist es somit auch im Mittelalter der Name, der an öffentlichen Orten eingeritzt wird. Da im Mittelalter der Großteil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, kann allerdings davon ausgegangen werden, dass derartige Einritzungen nur von einigen wenigen Adeligen und Mönchen vorgenommen wurden.

Bei einem weiten Graffitiverständnis umfasst diese Bezeichnung auch politische Parolen und Bilder wie etwa den Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, der um 1789 auf viele Kirchen- und Rathausfassaden angebracht wurde (STAHL 1989: 22). Auch aus dem 20. Jahrhundert ist die illegale Anbringung von Zeichen überliefert: An vermehrten Anbringungen des Hakenkreuzes vor 1933 in den Großstädten lässt sich etwa die Verbreitung der nationalsozialistischen Bewegung nachvollziehen. Das Hakenkreuz wurde bereits anonym im städtischen Raum angebracht, lange bevor es sich zum offiziellen Symbol entwickelte (STAHL 1989: 29).2

Dieser Überblick zeigt auf, dass die Wand bereits seit 40000 Jahren als Beschreibfläche genutzt wird. Die In- und Aufschriften haben dabei gemein, dass sie ortsfest sind, prinzipiell die Öffentlichkeit adressieren, mehr oder weniger unautorisiert angebracht sind3 und die Produzenten anonym bleiben. Mit den Formen des Szenegraffitis lassen sich Höhlenmalerei, mittelalterliche Inschriften und politische Schriftzüge des 20. Jahrhunderts allerdings nur schwer in eine Traditionslinie stellen. Das Szenegraffiti, das sich in seiner auffälligen Bildlichkeit und in seiner Bindung an eine soziale Gruppe von den hier dargestellten Formen unterscheidet, entwickelte sich erst in den 60er-Jahren in den USA.

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