Читать книгу Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - Страница 27
2.2.4 Graffiti und Street Art
ОглавлениеBei Street-Art handelt es sich um eine relativ neue Bezeichnung, die ganz verschiedene „visuelle […] Ausdrucksformen ‚inoffizieller‘ Besetzung durch Zeichen und Codes auf den Oberflächen des urbanen Raums“ umfasst (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 58).1 REINECKE zitiert in ihrer Arbeit den Street-Art-Künstler 56K, der Street-Art als eine Szene beschreibt, „wo die Leute gemeinsam haben, dass alle sehr unterschiedlich sind. Viele kommen aus dem Writing oder kennen diese Subkultur sehr gut“ (56K zitiert in REINECKE 2012: 113). Aus dieser Aussage lässt sich bereits ableiten, dass verschiedene Praktiken zur Street-Art gezählt werden und es starke Bezüge zur Graffitiszene gibt.
Die Übergänge zwischen Graffiti und Street-Art sind fließend, was sich auch daran zeigt, dass sowohl in den Szenen selbst als auch in der Forschung immer wieder diskutiert und ausgehandelt wird, was als Graffiti und was als Street-Art gelten kann. Der Graffitiforscher SIEGL fasste Street-Art in seinem Eintrag in der BROCKHAUS-Enzyklopädie aus dem Jahr 2006 noch als Hyperonym für den „gesamte[n] Bereich sowohl offizieller als auch inoffizieller, häufig temporärer künstler. Arbeiten im öffentlichen Raum“ auf (BROCKHAUS-Enzyklopädie 2006: 460). In dieser Perspektive stellten Graffitis – genauso wie Sticker, Straßenmalerei sowie Plakat-, Schneide- und Klebearbeiten – eine Ausprägung der Street-Art dar. 2009 betrachtet SIEGL seine Definition jedoch als überholt und formuliert sie folgendermaßen um:
Inzwischen […] steht der Begriff Street-Art für ein eigenes […] Genre der bildenden Kunst: es gibt Street-Art-Passagen, Street-Art-Galerien etc., in denen käufliche Werke zur Schau gestellt werden. (SIEGL graffitieuropa.org 2009)
Graffiti und Street-Art gelten in dieser aktualisierten Definition als eigenständige Formen; erstere Form also nicht mehr als Subkategorie der Street-Art.
Nach REINECKE hat sich die Street-Art aus dem Graffiti entwickelt: Viele Writer der ersten Generation, die in den 80er- und 90er-Jahren aktiv waren, fürchteten mit dem Eintreten in das strafmündige Alter hohe Geld- und Gefängnisstrafen (REINECKE 2012: 177). Sie suchten sich daher neue Ausdrucksformen, bei denen die Gefahr, erwischt zu werden, geringer ist. Das Anbringen von Street-Art im öffentlichen Raum ist zumeist legal oder richtet wenig Schaden an, weshalb es von der Polizei nur selten sanktioniert wird.2 Für den Wechsel der Szenen wird darüber hinaus das Argument genannt, mit Street-Art eine größere Gruppe von Menschen erreichen zu können. Graffitis sind für Szeneunkundige oft nur schwer zu entziffern und werden von Passanten daher in der Regel weniger beachtet. Bunte Schablonenarbeiten, Poster und Wandbilder werden in der Öffentlichkeit dagegen positiver aufgefasst, „da sie Wiedererkennungswert haben, verstanden werden und oftmals der Unterhaltung dienen“ (REINECKE 2012: 114).
Gemeinsam haben beide Szenen, dass alle Angehörigen unautorisiert Arbeiten im öffentlichen, urbanen Raum hinterlassen. Graffiti und Street-Art-Werke integrieren sich gleichermaßen in das Stadtbild und unterbrechen damit die städtische Ordnung (WACŁAWEK 2012: 122). Des Weiteren sind auch Street-Art-Werke ephemer und somit „Bilder für den Augenblick“ (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 60). Zum Teil nutzen die Akteure auch das gleiche Material. Das Hauptwerkzeug der Writer ist zwar die Sprühdose, es werden aber auch dicke Marker verwendet – genau wie Street-Art-Künstler ihre Werke mitunter auch mit der Sprühdose anfertigen.
Wie oben bereits angeklungen ist, verfolgen die Akteure mit ihrem künstlerischen Schaffen jedoch unterschiedliche Ziele: Der Fokus der Writer liegt auf „der Reproduktion des eigenen Namens bzw. Pseudonyms gegenüber seiner Szene“ (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 60). Graffitiwriter wollen mit ihren Werken somit in erster Linie die Mitglieder ihrer Szene erreichen. Szenefremde werden durch die Schriftbilder, deren Bedeutung oft rätselhaft bleibt, eher auf Distanz gehalten. Diese Wahrnehmung als „kryptische Ausdrucksform“ führt WACŁAWEK zufolge auch dazu, dass Graffiti in der Öffentlichkeit oft mit Vandalismus assoziiert werde (2012: 123).3 Demgegenüber sprechen die Werke der Street-Art eine größere Anzahl von Menschen an. Die figürlichen Formen bieten mehr Spielraum für Interpretationsmöglichkeiten und ermöglichen den Zugang zur Kunst für eine breitere Masse (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 60). Street-Art ist damit leichter für Außenstehende verständlich und wird daher auch eher als Kunst anerkannt.
Auch die Graffitiszene selbst grenzt sich in der Regel klar von der Street-Art-Szene ab. In einem Interview mit der Leipziger Graffiticrew RADICALS (Backspin 87/2007) werden die Crewmitglieder gefragt, ob sie an der Entwicklung der Street-Art teilnehmen würden, woraufhin die Writer BLAIR und BIEST Folgendes antworten: „Ich bleibe lieber bei den alten Methoden, schon der Geruch von Sprühlacken macht mich an, das werde ich nicht gegen Leim oder Aufkleber eintauschen.“ BIEST verweist außerdem auf die unterschiedlichen Produktionsvorgänge: „Ich brauche die Aktion. Etwas Gebasteltes irgendwo hinhängen ist doch eher wie Christbaum-Schmücken.“ (Backspin 87/2007: 60)