Читать книгу Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - Страница 31
2.3.2 Crews als „Communities of Practice“
ОглавлениеDie Vergemeinschaftung, die HITZLER UND NIEDERBACHER als elementares Merkmal von Szenen beschreiben (2010c: 15), wird im Graffiti am deutlichsten, wenn sich Writer zu Kollektiven zusammenschließen und gemeinsame Aktionen durchführen. Bei diesen Interessengemeinschaften handelt es sich um locker organisierte Gruppierungen, die beliebig gegründet und aufgelöst werden können. Sie werden in der Literatur zum Thema Graffiti als „Crews“ (SNYDER 2009, RAHN 2002, REINECKE 2012), seltener auch als „Writing Groups“ (KARL 1986: 47) bezeichnet. Die Crews haben – wie die Sprüher – einen eigenen Namen.
In der amerikanischen Graffitiforschung findet sich ein interessanter Ansatz, bei dem Graffiticrews als „communities of practice“ eingeordnet werden (VALLE UND WEISS 2010: 130, MACGILLIVRAY UND SAUCEDA CURWEN 2007: 355).1 Das Konzept der „Communities of Practice“ ist ursprünglich von LAVE UND WENGER ([1991], 2003) im Rahmen der Lerntheorie entwickelt worden. Als „Communities of Practice“ werden dabei mehr oder weniger feste soziale Gemeinschaften verstanden, in denen sich die Individuen durch die aktive Teilhabe an den Praktiken der Gemeinschaft weiterentwickeln. Die Lerner2 steigen der Theorie nach in eine soziokulturelle Praktik als Neulinge ein und lernen durch Partizipation, um so selbst nach und nach zu vollwertigen Mitgliedern der Gemeinschaft zu werden (LAVE UND WENGER [1991], 2003: 53). Lernen erfolgt in dieser Perspektive weniger mit dem Ziel, neue Aufgaben erfüllen oder Probleme bewältigen zu können, sondern es erfolgt, um die eigene Position innerhalb der sozialen Gruppe zu verändern (LAVE UND WENGER [1991] 2003: 53). Lernen ist demzufolge als sozialer Prozess zu verstehen.3
Das Konzept der „Community of Practice“ lässt sich auf die Graffitiszene insgesamt übertragen, denn diese Gemeinschaft zeichnet sich gerade durch die Praktik aus, Graffitis herzustellen.4 Es lässt sich jedoch – so argumentieren VALLE & WEISS (2010: 129) – auch auf Graffiticrews als kleinere Gruppierungen innerhalb der Szene anwenden. Zu dieser Erkenntnis kamen VALLE UND WEISS durch ihre ethnographische Feldforschung zu Graffiticrews in Mexiko-Stadt:
On crews, learning occurs by participating in a peripheral manner: novices serve as lookouts while the others paint; masters draw the lines, and the others paint the background. Graffiti artists learn by practicing and by reproducing what they saw the masters or more advanced artists do. (VALLE UND WEISS 2010: 134)
In der amerikanischen Graffitiforschung ist auch zu lesen, dass Neulinge mitunter durch einen Mentor in die Szene eingeführt werden, der ihnen die Regeln erklärt und Techniken zeigt (LACHMANN 1988: 234, RAHN 2002: 150).5 Der Mentor ist Lehrer und Vorbild zugleich, dessen Style der Lehrling adaptiert, bevor er eine eigene Stilrichtung entwickelt. Dieses „Lehrlingssystem“ in der amerikanischen Graffitiszene trug auch dazu bei, dass Techniken, Styles und auch ideelle Werte an spätere Sprühergenerationen weitergegeben wurden (DOMENTAT 1994c: 11, CHRISTEN 2003: 63ff.).6 Zu den ideellen Werten, die Szeneeinsteigern vermittelt werden, gehört beispielsweise, dass einige Flächen nicht besprüht werden: Kirchen und andere religiöse Gebäude, Friedhöfe, Statuen, private Autos und Häuser werden nach den „moral codes of the subculture“ ausgespart (FERRELL UND WEIDE 2010: 55).7
Aussagen der Sprüher in Szenemagazinen und weiteren Publikationen zeigen an, dass in der deutschen Graffitiszene z.T. ähnliche Strukturen bestehen. Neulinge werden hier ebenfalls als Toys bezeichnet und üben typischerweise zunächst auf Papier, bevor sie sich an Wänden versuchen.8 Der Berliner Writer DES78 übte etwa ein Jahr lang, bis er seine „ersten Pieces an der Line“ malte (TRUE 2 THE GAME 2003, o.S.). Interviews im „Backspin“-Magazin ist außerdem zu entnehmen, dass sich auch die von VALLE UND WEISS beschriebenen Lern-Lehr-Situationen zwischen geübten Sprayern und Neulingen in der deutschen Szene finden. Der Writer ROCK berichtet beispielsweise davon, wie ihm der Szeneeinstieg durch seinen Lehrer SCORE erleichtert wurde: „Der hat mich mit an die Line genommen und mir gezeigt, wie man malt und wo man Dosen herbekommt.“ (Backspin 91/2007: 70) Von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis ist auch bei REINECKE zu lesen: „Es ist typisch, dass ein Anfänger damit beginnt, die Farbfüllungen für seinen Lehrer zu malen.“ (2012: 34) Was LAVE UND WENGER ([1991] 2003) für „Communities of Practice“ im Allgemeinen beschreiben, lässt sich demzufolge vorsichtig auf die deutsche Graffitiszene übertragen: Die Writer nehmen oftmals zunächst eine periphere Position innerhalb der Gemeinschaften ein und professionalisieren sich zunehmend durch Beobachtung und Teilhabe, wodurch nach und nach die Identität als Graffitiwriter geprägt wird. Die ersten Tags bringen Neulinge zumeist im direkten Umfeld ihres Wohnortes an. Mit zunehmender Sicherheit im Umgang mit der Sprühdose vergrößert sich das Aktionsviertel und reicht vom Stadtviertel bis hin zur ganzen Stadt (SCHMITT UND IRION 2001: 41).
Auf Graffiticrews lässt sich ebenfalls übertragen, was LAVE & WENGER für „Communities of Practice“ im Allgemeinen formulieren. Sie gehen davon aus, dass es sich um ein „set of relations among persons, activity, and world, over time and in relation with other tangential and overlapping communities of practice“ handelt (1991: 98). „Communities of Practice“ sind demnach nicht gleichbleibend und beständig, sondern von der jeweiligen Zeit, den Mitgliedern, den Aktivitäten etc. geprägt. Auch Graffiticrews bestehen in wechselnden Konstellationen. Mitglieder verlassen die Gemeinschaften, wenn ästhetische Vorstellungen nicht mehr übereinstimmen, persönliche Differenzen vorliegen oder aus Furcht vor (erneuten) strafrechtlichen Folgen (SCHMITT UND IRION 2001: 20, SCHRÖER 2013: 180ff.). Es werden dann entweder neue Mitglieder aufgenommen oder Crews zugunsten neuer Formationen völlig aufgelöst. Nach SCHMITT UND IRION bestehen die Gruppierungen selten länger als einige Jahre (2001: 20).9 Die Crewzugehörigkeit ist dementsprechend locker geregelt und freiwillig (SCHNEIDER 2012a: 24).10
Es ist durchaus üblich, dass Graffitiakteure verschiedenen Crews angehören und somit in wechselnden Konstellationen arbeiten.11 In der Graffitiszene existieren damit „overlapping communities of practice“ (LAVE & WENGER [1991] 2003: 98). Die Writer taggen dementsprechend auch die Namen verschiedener Crews.12 Trotz Crewzugehörigkeit arbeiten die Akteure auch allein – sie sind bei ihren Aktivitäten nicht an die Gruppe gebunden (SCHNEIDER 2012a: 24). Die Mitglieder der Crews bilden mitunter enge soziale Bindungen aus, was etwa die folgende Aussage des Berliner Writers KOSEM anzeigt, der im Interview auf die Frage antwortet, was ihm seine Crew CRN bedeute:
Na, so wie es bei den meisten ist, ist die Crew mehr für einen, als nur 3 Buchstaben die man neben das Bild malt. Mittlerweile bin ich auch 10 Jahre bei CRN und ich hoffe es werden mindestens nochmal 10. Man identifiziert sich ja irgendwo damit.. Und die Jungs werden mir auch von Jahr zu Jahr symphatischer! (KOSEM auf ilove-graffiti.de 2012)
Nach TAYLOR ET AL. können die Mitglieder ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln, was wiederum zu einer Anhäufung von „social capital resources“ führt (2016: 196). Unter „social capital resources“ verstehen die Autoren in Bezug auf die Graffitiszene den andauernden Zugang zu „sociological support networks“, der für eine starke Bindung der Crewmitglieder untereinander sorgt und sie erfolgreich als eine Einheit agieren lässt (2016: 196). Daraus schlussfolgern sie,
that the receipt of social capital support resources not only enhances crew members’ sense of place affinity and sense of belonging, but also their psychological sense of wellbeing. Specifically, by providing the archetypical types of social capital support resources (e.g. reciprocal trust, information sharing, social engagement networks, camaraderie and protection) crews provide their members with an increased sense of purpose, self-worth and group identity […]. (TAYLOR ET AL. 2016: 196)
Die Crewmitglieder können dadurch sogar den Status einer Ersatzfamilie erlangen.13 Dies wird auch dadurch deutlich, dass sie sich – wie Familien in der bürgerlichen Welt – einen gemeinsamen Namen teilen (SCHNOOR 2005: 88). Häufig taggen die Mitglieder ihren Individualnamen und den Crewnamen nebeneinander, was an die Zweigliedrigkeit des bürgerlichen Namensystems aus Ruf- und Familiennamen erinnert (s. Abb. 7).
Abb. 7: Individualname und Crewname werden oft zusammen getaggt (21739, 21769).
Der Zusammenschluss der Writer zu „Communities of Practice“ bietet auch den Vorteil, dass die Mitglieder arbeitsteilig vorgehen können und ihre Fähigkeiten somit zusammenführen. Großflächige Throw Ups und Pieces entstehen dadurch in kürzerer Zeit, was den Bekanntheitsgrad der jeweiligen Crew steigert. Außerdem können sich die Mitglieder bei Aktionen gegenseitig schützen. Die Mitglieder einer Crew werden in den Graffitis auch häufig gegrüßt, indem ihre Namen um den zentralen Schriftzug herum geschrieben werden (vgl. hierzu Abschnitt 7.5.1). Dass es sich dabei um Grüße handelt, markieren Wörter wie „YO“ oder „TO“, was alternativ oftmals als „2“ realisiert ist.
Abb. 8: Grußlisten in Throw Ups bzw. Pieces von 12 (28206) und KORMA (31150), jeweils links neben dem flächig ausgestalteten Namen im Zentrum platziert
Bei Arbeiten im Kollektiv müssen sich die Mitglieder vorher allerdings absprechen und auf die Aufgabenverteilung einigen. Der Writer MENK von den RADICALS aus Leipzig erklärt im Interview mit „Backspin“, wie eine derartige „Aktion“ abläuft:
Bei jeder Aktion versuchen wir vorher alles genau abzusprechen und zu planen, damit das Ganze möglichst professionell und zügig über die Bühne geht. Wir verteilen klare Aufgaben wie Vorziehen, Füllen, Cutten, Backline etc. (MENK in Backspin 87/2007: 59)
Die Aussage von MENK deutet darauf hin, wie gut organisiert Crews bei ihren illegalen Aktivitäten vorgehen.
Darüber, wie viele Akteure bei derartigen Aktionen zusammenwirken und aus wie vielen Writern eine Crew besteht, finden sich in der Literatur nur einige wenige Angaben. TAYLOR ET AL. beziehen sich primär auf die amerikanische Szene und geben an, dass es kleine Crews mit zwei bis fünf Mitgliedern, große Crews mit 20 bis 50 Zugehörigen und sehr große Crews mit 50 bis 100 Personen gibt (2016: 195f.). SCHNEIDER schreibt, dass die Personenzahl der Crews stark variiert und zwischen fünf und 20 Personen liegen kann (2010: 75).14 Nach KARL, der sich auf die deutsche Szene der 90er-Jahre bezieht, gibt es auch Gruppen mit nur zwei Mitgliedern (1986: 47). Selbst Szeneangehörigen fällt eine Schätzung schwer, wie die folgende Aussage des Writers Jörg zeigt:
Innerhalb der lokalen Szenen gibt es […] Crews, das sind, was weiß ich, 10, 20 Leute, die dann unter ihre eigenen Bilder noch ein paar Namen von den Leuten aus der Crew setzen […]. (Writer Jörg zitiert in HITZLER ET AL. 2005: 109)
Diese unterschiedlichen Aussagen deuten darauf hin, dass Crews in ihrer Größe und in ihrer Bestandszeit sehr variabel sind.